GRAND HÔTEL
12. Boulevard des
Capucines
Paris
Adresse Télégraphique
GRANOTEL-PARIS
Téléph Central 35 48
35 49 – 35 50
Le 6 Juli 1914.
Meine geliebte Tilly!
Herzinnigen Dank für Deinen lieben ausführlichen Briefvgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 4.7.1914. vom 4. Wenn ich auf Deinen
früheren Briefvgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 3.7.1914 (oder ein noch früherer Brief). nicht ausführlich eingegangen, so hat er mir (uns) deshalb doch gut gethan;
Ich möchte jetzt vor allem das Sachliche erledigen. Laß
Fanny Kadidja so bald als möglich bei Dr.
RommelHofrat Dr. Otto Rommel, „Spezialarzt“ für Kinderkrankheiten und „leitender Arzt“ des „Säuglingheims München“ [Adreßbuch für München 1915, Teil I, S. 572], bei dem Kadidja Wedekind schon einmal in Behandlung war [vgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 18.11.1911]. impfen. Wenn Du recht
fleißig tanzest bist Du immer sicher mir Freude zu machen. Geld | und Quittung bitte ich mir nicht zu schicken. Wenn Du Geld brauchst,
schreib es mir. Ich dachte gestern den ganzen Tag an Bertl. Er könnte Dir alles
das klar machen, was Du bei f mir für Verfolgungswahn hältst. Denn ob er
seiner Bank wirklich Geld unterschlägt oder ob er nur in den Verdacht kommt es
getan zu haben, das bleibt in der Wirkung das Gleiche: Seine Carrière ist
ruiniert, auch wenn er seine Unschuld so einwandfrei wie nur möglich beweisen kann.
Voraussichtlich ziehe ich heute Mittag in ein anderes Hotel: Hotel Madison | 48 rue des
petits Champs, Paris. Bitte, mir die Post dorthin zu schicken. VorgesternWedekind besuchte am 4.7.1914 seine jüngste Schwester Emilie (Mati) und deren Mann Eugène Perré in Neuilly-sur-Seine in der Nähe von Paris. war
ich zu MittagWedekind notierte am 4.7.1914 das Mittagessen bei Schwester und Schwager in Neuilly-sur-Seine: „fahre zum Dejeuner zu Perres.“ [Tb] bei Perrés. Wir unterhielten uns ausgezeichnet.
Eugene ist ein kluger liebenswürdiger gebildeter Mensch. AbendsWedekind notierte am 4.7.1914 das Abendessen mit Schwester und Schwager in einem Restaurant in Paris: „Diner mit Perres am Boulevard Sebastopol.“ [Tb] aßen wir in der
Stadt und gingen dann ins TheaterWedekind notierte am 4.7.1914 den Theaterbesuch mit Schwester und Schwager in Paris: „Follie Marigny Revue Auf Lesbos.“ [Tb] In den Veranstaltungsprogrammen ist für das Abendprogramm des Varieté-Theaters Folies-Marigny (Avenue des Champs-Élysées) am 4.7.1914 kein spezieller Titel genannt (Wedekinds Notiz insofern eine inhaltliche Charakterisierung, die auf lesbische Liebe anspielt); dort begann um 20.30 Uhr: „Le Revue de Marigny“ [Paris-Midi, Jg. 8, Nr. 1244, 4.7.1914, S. (4)], das war ein Programm mit den US-amerikanischen Vaudeville-Stars Willie Solar, Evelyn Nesbit, Jack Cliffort und Anne Dancrey, die besonders hervorgehoben wurden [vgl. Le Figaro, Jg. 60, Nr. 185, 4.7.1914, 3. Blatt, S. 6].. Nachher noch in eine Brauereiein Bierausschank, eine Bierstube oder eben eine ‚brasserie‘ (frz.), wie Wedekind, der mit Schwester und Schwager in Paris das Wiener Café-Restaurant Spiess (Boulevard Montmartre 20) besuchte, am 4.7.1914 notierte: „Wir fahren in die Brasserie Spiess. Gemütliche Unterhaltung.“ [Tb], wo wir sehr
behaglich bis 2 Uhr plauderten. Heute fährt Mati nach Lenzburg.
Gestern war ein kalter unfreundlicher Tag. Das mag auch an meiner
Stimmung schuld sein. Wenn Du davon sprichst Dich umbringen zu wollen, so ist
das Unsinn | da alle Verheirateten diese Konflikte durchmachen und
erledigen müssen und die Frau in meisten den besten Fällen absolut nicht begreifen kann um was es sich denn eigentlich handelt. Übrigens wären uns die
Unannehmlichkeiten natürlich erspart geblieben, wenn es uns nicht sehr gut
ginge. Du glaubst Du habest es weiß Gott wie schlecht bei mir und merkst dabei
den giftigen Neid nicht, der Dich von allen Seiten umlauert und alles einsetzt,
um mich gegen dich aufzuhetzen, und zwar nicht etwa durch Verleumdungen und
Lügen, sondern durch eine Art die unser | Zusammensein aus äußerlichen Gründen unmöglich machen soll.
Laß Dich dadurch aber nicht abhalten zu tanzen. Es hat mich
sehr gefreut, daß Du im TheaterTilly Wedekind hatte am 2.7.1914 die Eröffnungsveranstaltung zum Auftakt des Sommergastspiels des Düsseldorfer Schauspielhauses im Münchner Künstlertheater besucht, bei der Shakespeares Schauspiel „Der Sturm“ gespielt wurde [vgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 2.7.1914]. warst. Hört man irgend etwas über das Simson-VerbotDie Polizeidirektion München hatte eine geplante „Simson“-Aufführung im Münchner Schauspielhaus, das eine Freigabe des Stücks bereits am 13.3.1914 beantragt hatte, am 12.6.1914 verboten (obwohl von 21 Mitgliedern des Zensurbeirates, von denen Gutachten eingeholt wurden, nur 5 dezidiert für ein Aufführungsverbot plädierten); daraufhin legte die Direktion des Münchner Schauspielhauses Beschwerde ein – die Zensurbehörde hat das Aufführungsverbot durch einen Beschluss des Bayerischen Innenministeriums gleichwohl am 4.7.1914 bestätigt [vgl. KSA 7/II, S. 1331f.]. „In München blieb ‚Simson‘ zu Wedekinds Lebzeiten ungespielt.“ [KSA 7/II, S. 1331]?
Grüße und küsse Anapamela und Fanny Kadidja. Anapamela soll mir doch schreiben was sie den ganzen Tag treibt. Sei innigst
geküßt und umarmt, geliebte Tilly, von Deinem
Frank