T. W.
Samstag,
4. Juli 1914.
Mein geliebter Frank,
bald eine Stunde sitze ich vor dem Schreibtisch. Was soll
ich Dir schreiben ohne Gefahr zu laufen missverstanden zu werden? Ich habe Dir
alle meine Empfindungen enthüllt, Dir gezeigt was Du mir bist, ich habe in
äusserster Verzweiflung alles hingeschrieben was mich quälte u. Du schreibst:Es folgt ein Briefzitat [vgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 3.7.1914]. „Sonst
weiß ich Dir nichts zu schreiben. Mit herzlichsten Grüßen.“ Wodurch habe ich
Dich wieder gereizt? Dieser Brief klingt so ganz anders, als der aus Florenz.vgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 1.7.1914.
Du sagtest in Zensur:Es folgt frei zitiert ein Zitat aus der 1. Szene des Einakters „Die Zensur“ (1908), Figurenrede des Literaten Walter Buridan (in den gemeinsamen Auftritten mit seiner Frau oft von Wedekind gespielt): „Ich habe nicht zwanzig Jahre um meine persönliche Freiheit gekämpft, um mein Dasein in Angst und Entsetzen zu verbringen!“ [KSA 6, S. 215] „Ich habe keine Lust mein Leben in Angst u. Entsetzen zu
verbringen.“ Ich glaube | nicht, dass Du mehr Angst u. Entsetzen erlebst wie
ich. Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Ich habe immer mein Bestes getan, mehr
kann man nicht. Wenn es trotzdem Deiner Meinung nach nicht immer das Richtige war, woher sollte ich Dich so gut kennen,
woher sollte ich wissen was in d Deinen Augen das Richtige ist?!
Ich glaube Dir, dass Du nicht mehr verlangst als jeder
andere auch. Ich glaube ja aber auch nicht, dass es mir in einem andern Fall
besser gegangen wäre, im Gegentheil! Dass die Hauptursache an allen Fehlern die
ich machte meine Verschlafenheit ist, weiß ich; ich habe schon genug Tränen
vergossen über diese unselige Eigenschaft. | Du schreibstEs folgt recht frei zitiert ein Briefzitat [vgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 3.7.1914]. „Du bist Dir noch sehr
unklar, u. kennst die Sachlage nicht.“ Ich weiß nicht genau was Du damit
meinst. Dagegen willst Du mit niemanden darüber sprechen. Wie sollst Du dann
aber klar werden? Deine Annahme, dass Gerhäuser sich auf diese Weise rächen
will, ist ja wohl möglich. Ich habe mich damals in der ReginabarFrank und Tilly Wedekind waren am 22.8.1913 mit Emil und Ottilie Gerhäuser in der Regina-Bar im Regina-Palast-Hotel (Maximilianplatz 5) in München: „Mit Gerhäuser und Frau soupieren wir in der Reginabar“ [Tb]; dort „hatte Tilly sich zu einer Anspielung auf die eheliche Untreue von Emil Gerhäuser hinreißen lassen.“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 249] anders ausgedrückt
als ich wollte, es hat mir nachher sehr leid getan. Aber sollte Gerhäusers Wut
genügen uns auseinander zu bringen, nachdem wir mehr als 8 Jahre soviel für
einander aufgeboten haben? Was nützt es dann, wenn man sich bemüht immer das Rechte zu tun, dann ist man ja vor nichts
sicher, Dann liegt ja unser Wohl u. Wehe nicht in unsrer Hand! |
Ich müsste meine Briefe abschreiben, denn so quäle ich mich nachher
immer, denke immer nach was ich wohl alles geschrieben haben könnte, dassSchreibversehen, statt: das. Dir missfallen hat.
Gestern war ich glücklich, da hatte ich Deinen lieben Brief vom
1. Juli aus Florenz.
Heute ist wieder alles vorbei!
Nein ich spreche mit Niemandem darüber. Wenn ich früher oft
von Dir zu andern sprach, so habe ich mich immerUmstellung, aus: immer mich (durch die Ziffern „2“ bei „immer“ und „1“ bei „mich“ markiert). dabei angeklagt; ich habe mich
oft herabgesetzt in den Augen anderer!
Jetzt habe ich nur Sehnsucht nach Dir. Was nützt es mir,
wenn ich wirklich mit Bertl darüber sprechen würde, er wird mich nicht
verstehen, was soll er mir sagen? Es kommt doch nur darauf an was wir uns zu
sagen haben. Wenn | wir uns nicht verständigen können über das, was wir
gemeinsam erleben, was kann da ein Dritter raten oder hef/l/fen? Wie
soll man einem Dritten überhaupt die Situation klar machen? Damit er
nicht etwas falsch sieht! Und wer sagt, dass ich es richtig sehe. Wer sagt,
dass Du es richtig siehst? Du könntest ja auch mit Mati darüber sprechen. Aber
wird sie uns helfen können?
Frank, Geliebter, wenn Du nicht willst, dass ich es Dir schreibe, wie elend mir ist, dann werde ich es
nicht mehr tun. Ich will Dir nicht die Stimmung verderben. Vielleicht ist es
Dir wohler, wenn Du nichts mehr von mir hörst. Ich brauche Dir ja nur von den
Kindern zu schreiben. Wie oft missversteht | man sich wenn man miteinander
spricht, da kann ein Wort den Irrtum klar machen, aber mit Briefen ist es so
schwer!
Wenn mir etwas leid tut, dann ist es das, dass ich, als ich
in die Spree sprang„Nach einem nächtlichen Streit mit Frank am 16.2.1906 sprang Tilly [...] in die Spree. Der Vorfall [...] war der äußere Anlass für die Eheschließung am 1.5.1906“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 255] in Berlin. nicht ertrunken bin! Dann wäre alles vorbei. Wer weiß was
man noch vor sich hat, bis man wieder so weit ist!
Und soviel hätte ich Dir noch zu sagen! So vieles, was Dir meine
Liebe beweisen soll! Aber wie kann ich wissen, wie Du es auffasst. Jedes Mal
frage ich mich, soll ich den Brief nicht lieber
zerreissen?!
Diese Tage sind schrecklich. Mann soll sich um alles
Mögliche bekümmern, | u. es ist mir alles so gleichgültig, wenn Du mir nicht
gut bist!
Ich lasse eben alles gehen, wie es geht. Morgen wird auch vorbei
gehen, u. übermorgen auch. Ich habe keine Lust irgend etwas zu wollen. Ich will
auch nicht zu meinen Eltern. Anna Pamela soll zur Schule gehen, bis die Schule
schließt. Ich werde tanzen, weil Du es willst. Meine Stimmung ist natürlich nicht
danach. Die Kleine sollte geimpft werden. Sie ist nun bald 3 Jahre, jetzt wäre
die Jahreszeit günstig, das Kind ist wohl. Dann kommt August, wo
wir spielen sollenAnspielung auf den anstehenden Wedekind-Zyklus an den Münchner Kammerspielen, der am 25.7.1914 begann und am 1.8.1914 wegen des Beginns des Ersten Weltkriegs abgebrochen wurde., ob wir es tun werden weiß ich ja nicht. Dann kommt der
Herbst, vielleicht schlechtes Wetter, Erkältungen. Ich habe bei Hofrat Krecke
bei dem Hofrat und Chirurgen Dr. Albert Krecke [vgl. Adreßbuch für München 1915, Teil I, S. 363], der in München (Hubertusstraße 30) seit 1914 eine „Chirurgische Heilanstalt“ [Adreßbuch für München 1915, Teil III, S. 37] betrieb.angefragt, aber | er impft überhaupt nicht. Er sagt, das machen jetzt nur Kinderärzte.
Soll ich mich nach einem erkundigen? Oder soll ich bei Hauschildbei dem praktischen Arzt Dr. Johannes Hauschildt (Nikolaistraße 7) [vgl. Adreßbuch für München 1915, Teil I, S. 248]. anfragen? Sag’
mir bitte wie ich es machen soll. Sonst lasse ich es jetzt. Einmal wird sie ja
wohl geimpft werden müssen.
Den Check gab ich bei Schröderbei der Vermieterin Amalie Schröder – ihr Gatte Wilhelm Schröder ist am 4.3.1913 verstorben; Eigentümer der Wohnung in der Prinzregentenstraße 50 waren seine „Erben“ [Adreßbuch für München 1914, Teil II, S. 499]. ab u. habe auch die Quittung.
Soll ich sie Dir eingeschrieben schicken, oder soll ich sie aufheben? Das „Forum“
schickt 50 M.Hinweis auf einen nicht überlieferten Begleitbrief; erschlossenes Korrespondenzstück: Wilhelm Herzog an Wedekind, 3.7.1914.
für Deinen BeitragWedekinds Essay „Schriftsteller Ibsen und ‚Baumeister Solneß‘“ [KSA 5/II, S. 176-188], zuerst 1895 unter dem Titel „Schriftsteller Ibsen (‚Baumeister Solness‘)“ [KSA 5/II, S. 131-144] veröffentlicht, dann überarbeitet 1902 und 1906 gedruckt [vgl. KSA 5/III, S. 754-758], erschien im vierten Heft von Wilhelm Herzogs neuer Zeitschrift „Das Forum“ [vgl. Frank Wedekind: Schriftsteller Ibsen und „Baumeister Solneß“. Ein kritischer Essay. In: Das Forum, Jg. 1, Heft 4, Juli 1914, S. 201-218], deren erstes Heft im April 1914 im Forum-Verlag in München herauskam. in Heft 4 über „Baumeister Solneß“. Soll ich sie schicken?
Ich hoffe von Herzen, dass es Dir gut geht, wenn ich etwas dazu beitragen kann, sag’ es mir bitte!
Viele BusserlnKüsse. von den Kindern.
Innigst küsst Dich, Deine traurige Tilly
Deine Karte von Montageine Postkarte [vgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 29.6.1914]. habe ich erst heute erhalten nachdem ich
die von Dienstageine Postkarte [vgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 30.6.1914]. u. den Brief vom 1.vgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 1.7.1914. schon hatte. |
T. W.
P. S. Wie ist die Situation eigentlich? Welche Sachlage kennst
Du nicht? Man hat dieses Lied gespieltdas Couplet „Ich bin Menelaus der Gute“ aus Jacques Offenbachs Operette „Die schöne Helena“ nach den Reden auf dem Bankett am 24.6.1914 zu Wedekinds 50. Geburtstag im Bayerischen Hof in München [vgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 3.7.1914].. Kann das nicht ein Zufall sein? Und
wenn es Gerhäusers Rache ist, so weisst Du ja, dass er sich rächt weil ich
seine Frau gegen ihn aufhetzte, wie Du sagst. Ich denke nach u. denke nach! In
Berlin | fragte ein Zuschauern den andern, Deine wievielte Frau ich wohl
sei. Müsste ich darüber nicht auch ausser mir sein? Und wer weiß, was sie sonst
noch alles reden. Aber was kann man dagegen machen! Ich habe keine Veranlassung
gegeben!
Kann nur mein Tod Dir beweisen dass Du mir Alles bist?
Um 6 Uhr18 Uhr. fing ich an Dir zu schreiben, jetzt ist es ½ 1122.30 Uhr..
Gute Nacht! Innigst,
Tilly |
T. W.
II. Noch etwas. Sollten nicht Cassirer u. Durieux in die
Sache verwickelt sein? Die Durieux war in Stuttgart. Sie erzählte Gerhäuser von
den UnannehmlichkeitenWährend der Proben zur Uraufführung des „Simson“ (24.1.1914) im Lessingtheater in Berlin gab es eine von Wedekind wahrgenommene Verstimmung von Tilla Durieux (und ihres Gatten Paul Cassirer) ihm gegenüber [vgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 16.1.1914]; sie spielte die weibliche Hauptrolle der Delila. Wedekind, der kurzfristig die Rolle des Og von Basan übernehmen sollte, reiste wegen Differenzen mit Victor Barnowsky, dem Direktor des Lessingtheaters, am 21.1.1914 – drei Tage vor der Uraufführung – schließlich aus Berlin ab. bei den „Simson“ Proben. Er erzählte ihr vielleicht von
dem unerquicklichen Abendder Abend am 22.8.1913 in der Regina-Bar in München (siehe oben). in der Reginabah/r/. Sie kamen überein, dasSchreibversehen, statt: dass.
ich aus dem Weg geschafft werden müsse. Dann steht nichts im Weg, dass sie mit
Dir in Deinen Stücken | spielt. Und Frau Gerhäuser glaubt auch nicht mehr an
das, was ich l/e/igentlich nicht gesagt habe, wenn ich erledigt
bin. Reinhardt sagte von der DurieuxTilla Durieux war von 1903 bis 1911 in Berlin als Schauspielerin an Bühnen unter der Direktion Max Reinhardts tätig, zunächst am Neuen und Kleinen Theater [vgl. Neuer Theater-Almanach 1904, S. 245; Neuer Theater-Almanach 1905, S. 292], dann am Deutschen Theater in Berlin [vgl. Neuer Theater-Almanach 1906, S. 272; Neuer Theater-Almanach 1911, S. 293]; sie wechselte dann an das Berliner Theater (Direktion: Carl Meinhard und Rudolf Bernauer) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1912, S. 280] und schließlich an das Lessingtheater (Direktion: Otto Brahm, dann Victor Barnowsky) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1913, S. 299; Neuer Theater-Almanach 1914, S. 309]. sie habe Lust am Bösen, weil es das Böse
ist. Ja es scheint mir sehr wohl möglich, dass es so ist.
Vielleicht ist das aber auch beginnender Verfolgungswahn. Nun
lebwohl, Du wirst vielleicht keine Lust haben das alles zu lesen.
In Liebe
Deine Tilly