Florenz, Mittwoch 1. Juli 1914.
Meine geliebte Tilly!
Herzlichsten Dank für Deinen lieben Brief vom 28.vgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 28.6.1914. Er ist mir
eine große Freude, nicht etwa weil Du schreibst, daß Du ohne mich nichts bist.
Erstens ist das nicht wahr, wie Du sehr wohl weißt, gottlob! Und zweitens hätte
ich Dich nicht geheiratet wenn es so wäre. Er/D/er Brief ist mir eine
Freude weil ich aus jedem Wort sehe, daß etwas in Dir vorgeht, daß Du über etwas
nachdenkst, daß Du nicht stillstehst und einschläfst, auf einmal wieder nicht
weißt, wo Du Dich befindest | und ich genötigt bin, den Polizisten zu spielen
den Schulmeister, den ekelhaften Kerl, der in den Augen der Umgebung lächerlich
wird. Ich verlange nicht mehr von Dir als jeder anständige Mensch
in meiner Stellung von dir verlangt und was ich von jeder andern Frau verlangen
müßte. Dazu bin ich leider angestellt, damit Du das bei mir lernst, was Du
brauchst wenn Du Deine Stellung nicht verlieren willst, wenn ich nicht mehr da
bin.
Was meine persönlichen Ansprüche sind, was eine andere Frau mir nicht geben würde und was ich
nicht fordern kann, das ist Dein Tanz,
dein Theaterspielen | und vieles andere. Wenn Du also jetzt
wirklich an mich denkst und weißt nicht was Du thun sollst, dann über
Deinen CzardasCzárdás (Csárdás), ungarischer Volkstanz. Wedekind schrieb 1914 ein Lied „Scardas“ [KSA 1/III, S. 210; vgl. KSA 1/IV, S. 1046-1048]. oder laß Dir Bolerospanischer „Solotanz in gemäßigtem Tempo, bei dem sich der Tänzer selbst mit Gesang und Kastagnetten oder Tamburin begleitet“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 251]. oder Tarantella„neapolitanischer Tanz in schnellem, sich ekstatisch steigerndem Tempo, der – begleitet von Gesang, Tamburin und Kastagnetten – meist von Frauen allein getanzt wird“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 251]. Wedekind bezeichnet im vorliegenden Brief sein Lied „Das ist einfach wundervoll“ [KSA 1/III, S. 258], das zu seinen seit 1910 entstehenden Tanzliedern gehört [vgl. KSA 1/III, S. 521-524], als Tarantella; ihn faszinieren „temporeiche, rhythmisch akzentuierte, bewegungs- und körperbetonte Tänze“ [KSA 1/III, S. 521].
(Das ist einfach wundervoll...) einstudieren.
Mein Zug geht in zwei StundenWedekind notierte am 1.7.1914: „Mittags auf dem Bahnhof“ [Tb]; er fuhr von Florenz über Mailand nach Paris.. Unterwegs werde ich Dir voraussichtlich
nicht schreiben. Morgen denke ich in Paris zu sein.
Gestern AbendWedekind notierte am 30.6.1914: „Am Abend bei Will Vesper Piazza Bello Squardo 2. mit ihm und seinen beiden Frauen. Nachher mit ihm bei Mucke.“ [Tb] Wedekind war bei dem Schriftsteller Will Vesper und dessen Frau, der Buchillustratorin Käte Waentig, die 1913/14 ein Jahr in Florenz (Piazza di Bellosguardo 2) lebten, zu Gast (mit dabei Margarete Demmering, die erste Ehefrau des Komponisten Hermann Zilcher) und besuchte anschließend mit Will Vesper die Birreria Mucke (Inhaber: Bruno Mucke) in Florenz (Via Lamberti 5). war ich bei Wil Vesper auf seiner Villa zum Abendessen. Er wohnt wundervoll. Ich glaube aber nicht, daß wir es auf
die Dauer in solcher Weltabgeschiedenheit aushalten würden. Nachher begleitete
er mich | in die Stadt wo wir noch bis 1 Uhr zusammensaßen.
Grüße und küsse die Kinder von mir Wil Vesper hat Kinder im
gleichen AlterWill Vesper hatte mit seiner ersten Frau Käthe Waentig einen Sohn, Albrecht (geboren 1909), und drei Töchter: Ulrike (geboren 1907), Renate (geboren 1911) und Marlene (geboren 1913)., so oft ich mit ihnen sprach dachte ich an Anna Pamela und Fanny
Kadidja
Und nun leb wohl geliebte Tilly. Laß es Dir an nichts
fehlen, ich freue mich, wenn Du unter Menschen gehst.
Mit innigstem Kuß
Dein
Frank