T. W.
Sonntag,
28.VI.14.
Mein innigst geliebter, theuerster Frank,
Du glaubst gar nicht, wie ich mich nach Dir sehne! Schon die
letzten Abende als wir zusammen aßen, dachte ich, dass ich nun allein hier
sitzen werde u. mir wurde sehr schwer ums Herz. Wenn Du weg bist, um mich
fühlen zu lassen, was Du für mich bist, dann hast Du das erreicht. In meinem
ganzen Leben, habe ich mich nicht so elend gefühlt. Ich weiß, alles was ich bin
u. habe, ist nur von Dir. Allein bin ich gar nichts. So klein komme ich mir
vor! Und wenn sich die Menschen für mich interessieren | so geschieht das nur,
weil ich Deine Frau bin. Vielleicht wäre es besser, ich schickte Dir solche
Briefe nicht, sondern legte sie weg, damit Du sie mir nicht „vor die Füße“
werfen brauchst. Ich will Dir auch nicht die Stimmung damit
verderben; aber allerdings, wenn es dem Einen weniger gut geht, dann geht es
dem Andern dafür umso besser. Ich meine, dass ich damit Deine Stimmung also eher hebe. Sonst sitzen wir um
die Zeit in Deinem Zimmer u. ich lese Dir vor. Allein habe ich zu gar nichts
Lust, zu Allem werde ich nur durch Dich angespornt.
Ich gehe wie im Traum umher, u. fühle mich immer nur entsetzlich müde. Was ist
mir das Leben ohne Dich! |
Heute war ich den ganzen Tag im englischen Garten mit den
Kindern. Vormittag laßSchreibversehen, statt: las. ich da die Zeitung, Nachmittags kam dann noch Jenny mit
Hypolit, die telephoniert hatte. Es wäre besser gewesen sie wäre nicht
gekommen, denn wovon soll ich reden, wenn ich nicht von Dir rede? Sie hat sich
sicher sehr gelangweilt. Die Kinder waren umso lustiger, es war eine Freude
ihnen zuzusehen. Jetzt habe ich sie zu Bett gebracht. Morgen fahre ich mit
beiden Kindern u. dem MädchenAnna Wölfel, „das Münchner Kindermädchen.“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 125] nach Possenhofen zu Fr. Dr. PariserErna Pariser und ihr Ehemann Dr. phil. Ludwig Pariser wohnten in München (Georgenstraße 30) [vgl. Adreßbuch für München 1915, Teil I, S. 504], aber „in den Sommermonaten zeitweise in Possenhofen am Nordwestufer des Starnberger Sees“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 207]., da morgen FeiertagPeter und Paul am 29.6.1914 (der vor allem katholische Feiertag ist kalendarisch festgelegt). ist u. Anna Pamela
keine Schule hat. Vielleicht wird es mir da etwas besser. Gestern abends
schrieb ich noch einen | Brief an Deine Mutternicht überliefert., u. Anna Pamela schrieb auch ein
paar Zeilen.
Ja richtig, der Maler BauerKarl Bauer, auf Dichterbildnisse spezialisierter Maler und Grafiker in München (Ungererstraße 8, Atelier: Rambergstraße 5) [vgl. Adreßbuch für München 1915, Teil I, S. 32], porträtierte Wedekind; der „Steindruck Karl Bauers von 1914“ [Kutscher 3, S. 281] ist als Reproduktion erhalten [vgl. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Karl_Bauer_Frank_Wedekind.jpg]. hat antelephoniert, Du hattest ihm
ja versprochen heute zu kommen. Ich sagte ihm, dass Du verreist bist, u. ihm vielleicht schreiben würdest.
Verzeih’ diese entsetzliche, lange Epistellängerer Brief., aber mit
niemandem kann ich reden; u. mir ist wohler, wenn ich wenigstens so etwas von
Dir habe. Mir scheint, Du bist mir näher, wenn ich an Dich schreibe! Die Kinder
schicken Dir viele Küsse!
Innigst küsst Dir Mund u. Hände,
Deine dankbare Tilly
Ich bin sehr müde u. gehe gleich zu Bett.