HOTEL HABSBURGER HOF
FRITZ OTTO, Hoflieferant.
Fernsprech-Anschlüsse:
Amt Lützow, 1663 Hotel
4077
5442 Restaur.
Personen-Fahrstuhl
Tag und Nacht im Betrieb.
Berlin S.W.
11, den 191
Askanischer Platz 1.
Berlin 12.1.14.
Geliebteste Tilly!
Nach sehr ruhiger Fahrt kam ich gestern Abend an. Während der
Reise las ichWedekind notierte am 11.1.1914 über seine Lektüre auf der Zugfahrt von München nach Berlin: „Ich lese Albrecht Dürer. Stille ruhige Fahrt“ [Tb]. Welches Buch Wedekind las ist nicht sicher zu ermitteln; es könnten aber Albrecht Dürers 1506 während seines Aufenthalts in Venedig geschriebene Briefe gewesen sein [vgl. Moriz Thausing: Dürers Briefe, Tagebücher und Reime. Wien 1872, S. 3-22]. Albrecht Dürer über seinen Besuch in Venedig. Nachdem ich im
Hotel Thee getrunken fuhr ich ins Theaterins Berliner Lessingtheater (Direktion: Victor Barnowsky), wo am 24.1.1914 „Simson“ uraufgeführt werden sollte; die Vorbereitung der Uraufführung war der Zweck von Wedekinds Reise nach Berlin., wo mir der RendantKassenwart, Rechnungsführer. Rendant im Lessingtheater war seit vielen Jahren Gotthard Müller [vgl. Neuer Theater-Almanach 1914, S. 309]. von Barnowskys
schwerer Nervendepression sprach. Dann kam Barnowsky, der so gesund wie immer
war und bat mich mit ihm zu Dr. EliasWedekind war am 11.1.1914 mit Victor Barnowsky bei dem Privatgelehrten und Schriftsteller Dr. phil. Julius Elias (Matthäikirchstraße 4) [vgl. Berliner Adreßbuch 1914, Teil I, S. 613] zu Besuch und traf dort Paul Cassirer und Tilly Durieux: „Mit Barnowsky Cassirer und Durieux bei Dr. Elias.“ [Tb] zu kommen, wo auch
CassirerDie Buchausgabe „Simson oder Scham und Eifersucht. Dramatisches Gedicht in drei Akten“ (1914), die bereits Ende 1913 vorlag [vgl. KSA 7/II, S. 1266], war Paul Cassirer gewidmet: „Ihnen, Herr Paul Cassirer der Sie Ihr Leben und Ihre Arbeit der Beschirmung des Schönen weihen, seien diese Verse zugeeignet.“ [KSA 7/I, S. 493] | hinkäme. Elias ist ein alter Freund von Welti Schlenther Dr. Pariser Ibsen Björnson, Hauptmann e.ct. Wir
aßen bei ihm zu Abend und dann kam auch die Durieux aus dem TheaterTilly Durieux kam aus dem Lessingtheater, wo sie am 11.1.1914 in Bernard Shaws Lustspiel „Pygmalion“ als Eliza Doolittle auf der Bühne stand.. Von Simson
wurde fast gar nicht gesprochen. Um 1 Uhr trank ich noch ein Glas Bier im Hotel
und legte mich schlafen.
Heute um 11 Uhr war ArrangierprobeWedekind notierte am 12.1.1914: „Arrangierprobe von Simson 1. u. 2. Akt. [...] Kayßler wird widerspenstig.“ [Tb] Friedrich Kayßler, prominenter Schauspieler im Ensemble des Lessingtheaters [vgl. Neuer Theater-Almanach 1914, S. 309], spielte in der „Simson“-Uraufführung die Titelrolle – mit großem Erfolg [vgl. KSA 7/II, S. 1339-1350]. 1. und 2. Akt. Kayßler scheint
mir sehr gut zu werden, nahm mir aber gleich die erste Bemerkung die ich machte
übel. Alle übrigen waren sehr gefügig. Rottmann probierte als Og von BasanOg von Basan ist der erste der Fürsten der Philister in „Simson“ [vgl. KSA 7/I, S. 494], ihr König, in der Uraufführung gespielt von Alexander Rottmann, Mitglied im Ensemble des Lessingtheaters [vgl. Neuer Theater-Almanach 1914, S. 309] – so auch die Darsteller der Philisterfürsten Azav (Guido Herzfeld), Nebrod (Heinrich Schroth), Jetur (Alexander Ekert), Gadias (Rudolf Klein-Rhoden) und Chetim (John Gottowt) und die Darstellerin der Delila (Tilla Durieux), ebenso Heinz Salfner, der in der „Simson“-Uraufführung aber nicht auftrat. Der genannte Albert Steinrück vom Münchner Hoftheater trat in der „Simson“-Uraufführung ebenfalls nicht auf., den
aber Steinrück oder | Salfner spielen soll. Gotthofft ist Chetim, Guido Herzfeld
Azav, Klein Roden Gadias, Schrot Nebrod, Eckert spielte Jetur, den aber
Rottmann übernehmen soll. Barnowsky sagte mir am Schluß er werde mich überhaupt
als Regisseur engagieren. Dann kamen machte Kayßler endlose
Auseinandersetzungen. Die Durieux ist vollkommen im Bilde der Rolle nur glaube
ich daß die Ausführung, besonders stimmlich nicht besonders reizvoll ausfällt.
Aber darüber sind ja die Berliner anderer Ansicht. Die Probe dauerte von 11 – 4von 11 bis 16 Uhr..
Darauf ging ich zu Skriwonek zu TischWedekind notierte am 12.1.1914: „Mittag bei Skriwoneck“ [Tb] – gemeint war das von ihm oft besuchte (und in unterschiedlichen Schreibweisen notierte) „Restaurant Krziwanek Josef Jenisch“ [Berliner Adreßbuch 1914, Teil I, S. 2553] (Mittelstraße 57/58, Ecke Friedrichstraße), Inhaber: Josef Kießwetter und Gustav Hölscher (Inhaber früher: Josef Jenisch), ausgewiesen als „Orig. Wiener Restaurant“ [ebd.]. und bin eben im Begriff ins Theater zu gehn
z um SalfnerHeinz Salfner spielte in Henrik Ibsens Drama „Peer Gynt“ im Lessingtheater die Titelrolle, in der Wedekind ihn am 12.1.1914 sah: „Abend in Peer Gynt.“ [Tb] als Peer Gynt anzusehen. |
Ich hoffe, geliebteste Tilly, daß es euch allen DreienTilly, Pamela und Kadidja Wedekind. gut geht.
Hier herrscht eine sehr erfrischende Kälte. Den Arm trage ich noch verbundenWedekind hatte dem Tagebuch zufolge seit dem 4.1.1914 („Forunkel am Arm“) Beschwerden wegen eines Furunkels am Arm, suchte am 7.1.1914 den Hausarzt auf („Bei Dr. Hauschildt“), konnte am 8.1.1914 der Beschwerden wegen nicht nach Berlin reisen („Stehe um 6 Uhr auf fahre aber nicht wegen starker Schmerzen. Fahre auch abends nicht da der Arm anschwillt. Dr. Hauschild kommt“) und war am 9.1.1914 („Bei Dr. Hauschildt“) und 10.1.1914 („Bei Dr. Hauschild“) in München nochmals beim Arzt.,
hoffe aber morgen oder übermorgen ein Pflaster auflegen zu können. Heute Abend
bin ich voraussichtlich allein, da Cassirer morgen einen großen ProzeßDer Kunsthändler Paul Cassirer hatte am 13.1.1914 vor dem Schöffengericht Berlin-Mitte zu erscheinen [vgl. Der Sezessionsstreit vor Gericht. In: Vorwärts, Jg. 31, Nr. 13, 14.1.1914, 1. Beilage, S. (3)]; gegen ihn war von einigen Mitgliedern der Berliner Secession wegen Beleidigung geklagt worden – er wurde freigesprochen [vgl. Freisprechung im Sezessionsprozeß. Die Klage gegen Paul Cassirer. In: Berliner Tageblatt, Jg. 43, Nr. 23, 14.1.1914, Morgen-Ausgabe, 1. Beiblatt, S. (1)]. hat. Ich
werde an Totentanz arbeitenWedekind notierte am 12.1.1914 (nach dem Besuch der „Peer Gynt“-Vorstellung im Lessingtheater): „Dann allein Lindenrestaurant und Stallmann wo ich an Tod und Teufel arbeite.“ [Tb] Er arbeitete vom 20.12.1913 bis zum 7.2.1914 die erste und dritte Szene von „Totentanz“ (1905) – seit 1909 unter dem Titel „Tod und Teufel (Totentanz)“ [vgl. KSA 6, S. 625-627] – in Versform um [vgl. KSA 6, S. 614].. Nun leb wohl geliebteste Tilly. Mit innigstem
Kuß
Dein
Frank.