München, 20.XI.1903.
Lieber Freund!
Nimm meinen aufrichtigen Dank für Deine freundliche TheilnahmeHinweis auf nicht überlieferte Genesungswünsche; erschlossenes Korrespondenzstück: Carl Rößler an Wedekind, 19.11.1903.. Ich weiß nicht, ob die Geschichtedie Krankheitsgeschichte. Wedekind hatte sich bei seinem „Marquis von Keith“-Gastspiel in Nürnberg eine Lungenentzündung zugezogen [vgl. Kutscher 2, S. 112], die am 8.11.1903 in München diagnostiziert wurde, wie Max Halbe bei einem Besuch bei Wedekind notierte: „Arzt kommt u. diagnostiziert Lungenentzündung“ [Tb Halbe]; über deren Verlauf berichtete er seiner Mutter [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 3.12.1903]. Die Presse meldete: „Aus München wird uns geschrieben: Frank Wedekind liegt seit drei Tagen an Lungenentzündung nicht unbedenklich krank darnieder.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 32, Nr. 573, 11.11.1903, Abend-Ausgabe, S. (2)] „Frank Wedekind, der, wie wir berichteten, an einer schweren Lungenentzündung erkrankt war, befindet sich wieder auf dem Wege der Besserung.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 32, Nr. 585, 17.11.1903, Morgen-Ausgabe, S. (3)] so schlimm war, wie Du voraussetzt, ich kam natürlich in lauter Phantasien darüber hinweg, war ununterbrochen zu Pferde, nahm eine Hürde, einen Graben nach dem andern, so daß mir jetzt noch der Hintere davon schmerzt. Vor einiger Zeit hörte ich von irgend jemandem, Du habest Dein biblisches StückCarl Rößlers Drama „Der reiche Jüngling“ (1905), dessen Handlung auf der neutestamentarischen Episode vom reichen Jüngling (Lukas 18, 18-27) beruht, wurde als Buch erst 1905 im Insel-Verlag in Leipzig veröffentlicht. vollendet. Ich würde nun doch vor allen Dingen darauf sehen, daß es gedruckt wird. Wenn Du keinen Verleger von Namen findest, so muß sich doch in Berlin gewiß irgend ein anderer Verleger finden, der sich darauf einläßt. Für Dich handelt es sich doch nur darum, gedruckte Exemplare für die Bühnen in die Hände zu bekommen. Wie und wo es gedruckt ist, muß Dir ja gleichgültig sein. Der Aufführungdie anstehende Premiere von Wedekinds Schauspiel „So ist das Leben“ im Neuen Theater (Direktion: Max Reinhardt) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1904, S. 245] in Berlin unter der Regie von Richard Vallentin, in der Presse angekündigt: „Die nächste Novität des Neuen Theaters – Frank Wedekinds fünfaktiges Schauspiel ‚So ist das Leben.‘“ [Berliner Tageblatt, Jg. 32, Nr. 569, 8.11.1903, Sonntags-Ausgabe, S. (2)] von So ist das Leben sehe ich mit ziemlicher Ruhe entgegen. Gefällt das Stück – umso besser. Gefällt es nicht, so kann ich den Berlinern nicht zu fürchterlich grollen. Das Stück hat den Kegelbahn HorizontAnspielung auf die Unterströmung, Max Halbes im Münchner Künstlerlokal Dichtelei (Türkenstraße 81) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1904, Teil II, S. 729] betriebene Kegelgemeinschaft, die ihm zufolge einen „Stamm tüchtiger Kegler“ hatte, „deren Namen [...] auf dem literarischen Felde [...] einen guten, vielfach sogar einen weithin hallenden Klang hatten.“ [Halbe 1935, S. 379] Wedekind verkehrte nur noch sporadisch dort, etwa am 30.9.1903: „Kegelabend, Dichtelei, wo plötzlich Wedekind auftaucht“ [Tb Halbe], ein Kreis, zu dem auch „der Schauspieler und Dichter Karl Rößler“ [Halbe 1935, S. 379] gehört hatte. der Münchner Dichter Zunft. Der Humor ist mir dabei so ziemlich vollständig ausgegangen und ich schäme mich des fünf Akte langen Gejammers. Immerhin – wenn Du mir Nachricht geben willst, werde ich Dir deshalb doch sehr dankbar sein. Man kann nicht wissen, es erspart mir ja vielleicht doch eine schlaflose Nacht. Wenn es Deiner Ansicht nach schief gegangen ist, dann genügt das Wort „Mißglückt“. Uebrigens weiß ich ja garnicht, ob Du thatsächlich an ein TelegrammCarl Rößler hat nach der Premiere von „So ist das Leben“ (siehe oben) in der Tat telegrafiert [vgl. Wedekind an Carl Rößler, 13.12.1903], das Telegramm ist aber nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Carl Rößler an Wedekind, 27.11.1903. Wedekind bittet ihn im vorliegenden Brief, „ihn am Premierenabend über die Aufnahme des Stücks in Berlin zu informieren.“ [KSA 4, S. 637] gedacht hast. Ich werde jedenfalls auch ohne Telegramm schlafen können, zumal, wenn sich nicht irgend jemand bemüßigt fühlt, mir mitzutheilen, an welchem TagWedekind war noch nicht über den Premierentermin von „So ist das Leben“ (siehe oben) informiert – schließlich der 27.11.1903 [vgl. KSA 4, S. 632]; zuerst war aber der 24.11.1903 gemeldet worden (die Gründe für die dreitägige Verzögerung sind nicht bekannt): „Die nächste Premiere des Neuen Theaters am Dienstag, den 24. d. ist ‚So ist das Leben‘, Schauspiel in neun Bildern von Frank Wedekind. Die Hauptrollen werden von Fräulein Tilla Durieux und den Herren Reicher, Klein, Ekert, Arnold, Sachs, Leopold dargestellt. Die Regie führt Herr Richard Wallentin.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 32, Nr. 589, 20.11.1903, Morgen-Ausgabe, S. (3)] die Premiere stattfindet. Also sei herzlichst bedankt. Mit den besten Wünschen für Dein Wohlergehen und in der Hoffnung, daß Du bald wieder hier in München bist, denn Du fehlst hier sehr,
Dein
Frank Wedekind.