München, 22recte: 23 (der 23.11.1902 war dem Briefinhalt zufolge das Schreibdatum)..XI.1902.
Lieber Freund!
Herzlichen Dank für Deine freundlichen Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Carl Rößler an Wedekind, 22.11.1902. Carl Rößler, der zuvor in München gewohnt hat (Türkenstraße 87) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1902, Teil I, S. 516], lebte nun als Schauspieler in Berlin (siehe unten).. Der Artikel von Brandesnicht ermittelt; vielleicht handelte es sich um eine Besprechung von Wedekinds Tragödie „Die Büchse der Pandora“ (im Juli 1902 in der Zeitschrift „Die Insel“ erschienen), die Georg Brandes später im ersten Kapitel „Deutsche Dramatiker“ seiner Essaysammlung „Gestalten und Gedanken“ (1903) ausführlich würdigte und Wedekind auch darauf hinwies [vgl. Georg Brandes an Wedekind, 3.11.1904]. ist ja ganz nett. Im Fall noch eine gerichtliche VerfolgungAnspielung auf mögliche Zensurmaßnahmen, die dann für die Buchausgabe von Wedekinds Tragödie „Die Büchse der Pandora“ (1903) tatsächlich erfolgten [vgl. KSA 3/II, S. 1102]. eintritt, wird er mir eine sehr brauchbare Waffe sein. Ich bin noch sehr aufgeregt von der gestrigen PremiereMax Halbes bei Hermann Bong in Berlin veröffentlichtes Stück „Walpurgistag. Eine Dichter-Komödie“ (1903) hatte am 22.11.1902 im Münchner Schauspielhaus Premiere (Beginn: 19.30 Uhr, Ende: 22.30 Uhr): „Samstag, den 22. November. Zum ersten Male: Walpurgistag. Komödie in 5 Akten von Mar Halbe“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 55, Nr. 544, 22.11.1902, General-Anzeiger, S. 1]. Die nächste Vorstellung fand am 23.11.1902 statt: „Sonntag, den 23. November. [...] Zum ersten Male wiederholt: Walpurgistag.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 55, Nr. 546, 24.11.1902, General-Anzeiger, S. 1] von Walpurgistag. Ich halte das Stück für das gehaltvollste, was Halbe seit der Jugend geschrieben hat. Leider sind Trivialitäten darin, die der Wirkung der ernsten Scenen ein Bein stellen. Es soll jetzt eine „Wandernde Freibühne“ oder eine „Freie WanderbühneOtto Julius Bierbaum hatte vor Jahren für die Gesellschaft für modernes Leben in München eine solche Bühne zur Debatte gestellt [vgl. Otto Julius Bierbaum: Eine freie Wanderbühne. In: Das Magazin für Litteratur, Jg. 61, Nr. 14, 2.4.1892, S. 232].“ geschaffen werdenZusammenhang nicht ermittelt.. An mir soll es nicht fehlen, daß auch der darauf zu Wort kommt, denn der gehört zu uns. Augenblicklich kann ich nicht nach Berlin kommen, da ich die Hauptrolle in einem EinakterWedekind hat die männliche Hauptrolle des Studenten Max in Eduard von Keyserlings ironischem Einakter „Die schwarze Flasche“ (möglicherweise hatte er zunächst den von Wedekind genannten Titel „Die dunkle Flasche“) nur auf den Proben gespielt; er wurde am 20.12.1902 bei den Elf Scharfrichtern uraufgeführt, die öffentliche Vorstellung fand am 21.12.1902 statt: „Wie bereits gemeldet, findet heute, Samstag, die Ehrenexekution des neuen Programms, Sonntag, 21., die erste öffentliche Exekution statt. Das Programm wird an dramatischen Ensemblenummern enthalten: ‚Die schwarze Flasche‘. Drama in einem Aufzug von E. v. Keyserling.“ [Die Elf Scharfrichter. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 55, Nr. 593, 21.12.1902, S. 4] Der Einakter wurde als eine der „Neuheiten“ wohlwollend beurteilt: „Als erste Die schwarze Flasche von E. v. Keyserling, eine Satire auf die grassierende Selbstmordmanie. Diese freiwilligen Todeskandidaten, die noch mit allen Fasern an den vulgärsten irdischen Dingen hängen, sind nicht übel gezeichnet und wurden auch von den Darstellern recht wacker wiedergegeben.“ [Allgemeine Zeitung, Jg. 105, Nr. 353, 23.12.1902, 3. Abendblatt, S. 3] Die männliche Hauptrolle spielte der Schauspieler Carl Neubert [vgl. Kemp 2017, Anhang Repertoire, S. 27]. „Die dunkle Flasche“ von Keyserling spiele, der im nächsten Programm der Scharfrichter zur Aufführung gelangt. Zur Premierezur „Erdgeist“-Premiere am 17.12.1902 unter der Regie von Richard Vallentin im Kleinen Theater (Direktion: Hans Oberländer) in Berlin [vgl. Neuer Theater-Almanach 1903, S. 259], Wedekinds erster größerer Theatererfolg (mit Gertrud Eysoldt als Lulu). „Erst dank des Erfolgs der Berliner Premiere (1902) hält sich das Stück konstant im Spielplan der deutschen Bühnen.“ [KSA 3/II, S. 1203] werde ich jedenfalls dort sein. Wenn Du die Herrendie Herren vom Kleinen Theater (siehe oben), darunter Max Reinhardt, der noch im Hintergrund wirkte. siehst, dann grüße sie herzlich von mir. Es war noch keine Premiere für mich von solcher Bedeutung wie diese, zumal ich nachher keine Ursache mehr haben werde, mich über Ungunst des Schicksals, schlechte Kräfte oder sonst etwas zu beklagen. Nach dieser Premiere muß ich die Schuld lediglich auf mich nehmen. Ich zittere ihr deshalb entgegen wie einem Urtheilsspruch über mein ganzes bisheriges Thun und Treiben. Max und Keyserling lassen Dich bestens grüßen. Meinen herzlichsten Glückwunsch spreche ich Dir dazu aus, daß Du Dich so glücklich von der Ueberbretteleivom Kabarett. Carl Rößler (Pseudonym: Franz Ressner) war als Oberregisseur und Schauspieler an Ernst von Wolzogens Buntem Theater (Überbrettl) in Berlin engagiert gewesen [vgl. Neuer Theater-Almanach 1902, S. 263]. auf ein besseres UferCarl Rößler (Pseudonym: Franz Ressner) war inzwischen als Schauspieler am Deutschen Theater (Direktion: Otto Brahm) zu Berlin engagiert [vgl. Neuer Theater-Almanach 1903, S. 250]. hinüber gerettet hast. Ich stehe noch diesseits und komme eben von der Arbeitvon einem Auftritt bei den Elf Scharfrichtern, deren Ensemblemitglied Wedekind war; das Kabarett gab täglich um 20 Uhr Vorstellungen. „Die Elf Scharfrichter. Türkenstraße 28. Täglich 8 Uhr Abends Exekutionen.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 55, Nr. 545, 23.11.1902, S. 5]. Grüße Schaumberger und meinen lieben Bruder Donald, wenn Du ihn siehst.
Auf baldiges Wiedersehen freut sich Dein
Frank.