München, 12.I.1901.
Lieber FreundCarl Rößler, mit dem „Wedekind seit 1900 in Kontakt“ [KSA 1/III, S. 650] stand und der unter seinem Pseudonym Franz Ressner Oberregisseur und Schauspieler an Ernst von Wolzogens Buntem Theater (Überbrettl) war [vgl. Neuer Theater-Almanach 1902, S. 263], das kurz vor der Eröffnung stand (siehe unten).,
mit gleicher
Post übersende ich Dir „März“ und „Hinterm Zaun“Fritz Strich kommentierte: „Dramen von Karl Rössler.“ [GB 2, S. 358] Wedekind hat dem Brief zwei Dramenmanuskripte Carl Rößlers beigelegt (unklar ist, wann und unter welchen Umständen er sie erhalten hat), von denen das eine – „März“, wohl ein Stück über den Vormärz, ein „Revolutionsstück aus dem Jahr 1848“ [Mühsam 2003, S. 38], von dem Erich Mühsam in seiner Berliner Zeit gehört hatte – ungedruckt blieb, das andere – „Hinterm Zaun. Ein Stilleben in drei Bildern“ (1908) – erst Jahre später veröffentlicht wurde [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 75, Nr. 195, 22.8.1908, S. 8885], worum der Autor sich lange bemüht und Wedekind ihn dabei unterstützte hatte [vgl. Wedekind an Carl Rößler, 7.9.1904]. eingeschrieben. Ich wünsche
Dir aufrichtig und herzlich die besten Erfolge, muß aber zugleich eine sehr
dringende Bitte aussprechen; nämlich die, das Gedicht „Tantenmörder“Wedekinds Schauerballade „Der Tantenmörder“ [KSA 1/I, S. 432], zuerst in der Sammlung „Die Fürstin Russalka“ (1897) abgedruckt [vgl. KSA 1/II, S. 1285], soeben nachgedruckt in Otto Julius Bierbaums Anthologie „Deutsche Chansons (Brettl-Lieder)“ (1900) [vgl. KSA 1/II, S. 1287], in Berlin rezensiert unter Hinweis auf die baldige Eröffnung des Bunten Theaters (siehe unten) und Wedekinds Gedicht: „Sie scheint wirklich in der Luft zu liegen, die Idee zu einem ästhetischen Ueberbrettl oder zu einem bunten Theater [...]. Etwas wie die besten Nummern der Guilbert hätten die deutschen Chansons werden müssen: groteske Balladen. Aber nur die wenigsten von den vereinigten Brettldichtern machen überhaupt Anläufe zu so gewagten Sprüngen: der Herausgeber Bierbaum selbst, ferner Ernst v. Wolzogen, der künftige Leiter des Ueberbretts, endlich Frank Wedekind, dem die Palme oder der Lorbeer gebührt, wenn man für den Wettbewerb um das beste Brettllied nicht ein neues Symbol des Sieges einführen will. [...] Den Texten der Guilbert noch näher kommt mit einer starken bösartigen Genialität, die Mancher sich fünf Schritte vom Leibe wünscht, um sie da nach Gebühr aus der Entfernung zu bewundern, Frank Wedekind. Seine Ballade ‚Der Tantenmörder‘ ist gräulich und dennoch suggestiv, als Parodie für ein Ueberbrettl wohl geeignet“ [Fritz Mauthner: Deutsche Chanson (Brettllieder) von Bierbaum, Dehmel, Falke, Finckh, Heymel, Holz, Liliencron, Schröder, Wedekind, Wolzogen. Mit den Porträts der Dichter und einer Einleitung von O. J. Bierbaum. (Im Verlag von Schuster u. Loeffler, Berlin und Leipzig, Weihnachten 1900.) In: Berliner Tageblatt, Jg. 30, Nr. 8, 5.1.1901, Abend-Ausgabe, 1. Beiblatt, S. (1)]. auf keinen Fall auf dem UeberbrettlDas Bunte Theater (Überbrettl) – Überbrettl ist der von Ernst von Wolzogen „erfundene Begriff für das, was ihm als deutsche Variante des literarisch-künstlerischen Cabarets Pariser Prägung vorschwebte“, abgeleitet „von Nietzsches Begriffsprägung ‚Übermensch‘“ in Verbindung mit der süddeutschen Bezeichnung Brettl für „Vergnügungsetablissements“ [Budzinski/Hippen 1996, S. 400] – wurde am 18.1.1901 in Berlin eröffnet [vgl. Budzinski/Hippen 1996, S. 437], und zwar in der Secessionsbühne (Alexanderstraße 40): „Gestern Abend wurde Ernst v. Wolzogens ‚Buntes Theater (Ueberbrettl)‘ in den Räumen der Sezessionsbühne eröffnet.“ [F.M. (= Fritz Mauthner): Das Ueberbrettl. In: Berliner Tageblatt, Jg. 30, Nr. 33, 19.1.1901, Morgen-Ausgabe, 1. Beiblatt, S. (1)]. Carl Rößler trat bei der Eröffnungsvorstellung, die mit zahlreichen Beteiligten ein umfangreiches Programm bot, als Schauspieler in einer Szene von Arthur Schnitzler auf.
vorzulesen. Du weißt, daß ich damit beschäftigt bin, für meine Gedichte
entsprechende Vortragsweisen zu schaffenso auch für das Gedicht „Der Tantenmörder“ (siehe oben). „Zwischen Frühjahr und Sommer 1901 entsteht das Lied ‚Der Tantenmörder‘, das Wedekind als ‚Opus I‘ in das Konvolut ‚Brettl Lieder‘ aufnimmt.“ [KSA 1/III, S. 649]. Wenn mir ein Fremder die Gelegenheit,
damit an die Oeffentlichkeit zu gelangen, vor der Nase wegschnappt, dann kann
ich mich nicht dagegen wehren. Bei seinen Freunden sollte man aber vor solchen
Streichen doch wol sicher sein. Dazu kommt folgendes, daß der „Tantenmörder“
ausgesucht das bedenklichste und gefährlichste meiner Sachen ist. Ich würde
mich damit eventuell hervorwagen, wenn ich das Publicum durch vorhergegangene
Productionen vollkommen in meiner Gewalt hätte und sicher wäre, ihm etwas
starkes zumuthen zu können. Wenn Du mich aber mit dem Gedicht beim Publicum
einführst, so kann mir das auch beim besten Erfolg nur schaden,
indem ich dann auch von denjenigen Menschen, denen es vielleicht gefällt, um
vieles tiefer qualifizirt werde, als ich qualifizirt sein will und als ich
qualifizirt zu werden alle Ansprüche habe. Daß Du Dir das nicht selber sagst,
ist mir unfaßbar. Ich habe Deinen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Carl Rößler an Wedekind, 10.1.1901. Carl Rößler dürfte Wedekind in diesem Brief sein Vorhaben mitgeteilt haben, Wedekinds Gedicht „Der Tantenmörder“ bei der Eröffnung des Bunten Theaters (Überbrettl) am 18.1.1901 vorzutragen, möglicherweise inspiriert durch die Besprechung von Otto Julius Bierbaums Anthologie „Deutsche Chansons (Brettl-Lieder)“ am 5.1.1901 im „Berliner Tageblatt“ (siehe oben). Halbe und Keyserling gezeigt, die Dein
Vorhaben für ebenso taktlos und rücksichtslos halten wie ich. Solltest Du also
meine Bitte nicht berücksichtigen, dann gebe ich Dir mein Wort, daß ich Dich in
der allerunzweideutigsten Weise durch die Presse desavouiren werde. Bei uns in
München ist es ziemlich still. Halbe fährt am Montagam 14.1.1901. Max Halbes Drama „Jugend“ (1893), das in Österreich bis dahin von der Zensur verboten war, hatte am 23.1.1901 am Deutschen Volkstheater in Wien Premiere [vgl. Wedekind an Max Halbe, 5.2.1901]. nach Wien und gegen Ende
des Monats nach DresdenMax Halbe reiste einige Tage vor der Uraufführung seines Schauspiels „Haus Rosenhagen“ (1901) am 14.2.1901 am Dresdner Hoftheater nach Dresden [vgl. Wedekind an Max Halbe, 5.2.1901].. Ich selber brauche noch 14 Tage bis drei Wochen, um mein StückWedekinds dreiaktige Tragödie „Die Büchse der Pandora“ [vgl. KSA 3/II, S. 835]. fertig zu schreiben. Vorher
nach Berlin zu kommen wird mir nicht möglich sein. Ich würde zu viel dabei
verlieren. Nimm mir bitte diese Zeilen nicht übel. Ich konnte wirklich nicht
gewärtigen, daß Du auf den Gedanken kommen würdest, in Berlin meine Sachen zum
Besten zu geben. Mit den herzlichsten Grüßen und besten Wünschen Dein
Frank.