Lieber Walther,
Deine liebe Frau theilt mir zu meinem Bedauern
mitHinweis auf einen nicht überlieferten Brief; erschlossenes Korrespondenzstück: Erika Wedekind an Frank Wedekind, 29.8.1900. , Du habest Dich durch meine letzten Zeilenvgl. Wedekind an Walther Oschwald, 1.8.1900. sehr gekränkt und beleidigt
gefühlt. Ich kann Dir mit +/d/em besten Gewissen sagen, daß mir eine derartige
Absicht völlig fern lag, wenn ich auch zugebe, daß der Brief mit der größten
Bitterkeit geschrieben war, aber nicht Bitterkeit gegenüber Dir – wie sollte
ich denn dazu kommen! – sondern gegenüber meiner verzwickten LageWedekind benötigte dringend Geld und litt daher unter der verzögerten Auszahlung der erwarteten Erbschaft seiner verstorbenen Tante Auguste Bansen. Zu der Erbschaftsangelegenheit siehe die vorangehende Korrespondenz Wedekinds mit seinem Schwager Walther Oschwald seit dem 6.1.1900.. Du wirst
mich vielleicht einigermaßen begreifen, wenn ich Dir sage daß mir unter anderen
Verlusten, morgen am 31. Sept. August 600 Mark baar aus den Händen | gehen,
die mir der erste literarische Verleger Deutschlands, S. Fischer in Berlin für
eine ArbeitDer geplante, aber ungeschrieben gebliebene Text sollte den Titel „Das Varieté des Lebens“ tragen; zu seiner Erarbeitung wollte sich Wedekind einen Monat lang in Leipzig einquartieren [vgl. Frank Wedekind an Donald Wedekind, 19.7.1900]. Mit dem S. Fischer Verlag korrespondierte Wedekind bereits nach seiner Haftentlassung am 3.2.1900, da er wegen der Konflikte mit Albert Langen einen Verlagswechsel erwog [vgl. Wedekind an Walther Oschwald, 16.3.1900]. von sage und schreibe 48 Seiten Prosa geboten, eine Arbeit zu deren
Herstellung mir während der letzten 4 Monate Alles fehlte, vom
Löschblatt angerecht/n/et bis zur geringsten Möglichkeit, mich geistig
zu sammeln und das alles in Folge der Unzuverlässigkeit, der Verlogenheit und
völligen Sachunkenntnis dieses sauberen Herrn Heiliger.
Du warst so liebenswürdig, mir zum Geburtstag zu
gratulierendas Schreiben ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Walther Oschwald an Wedekind, 23.7.1900. . Ohne diese ekelhafte Erbschaftsgeschichte hättest Du die größte
Ursache dazu gehabt, denn am 24 Juli war die
Premiere meines KammersängersDas Ensemble-Gastspiel des Berliner Neuen Theaters, das Wedekinds „Kammersänger“ am 10.12.1899 im Rahmen der Eröffnungsmatinee der Sezessionsbühne uraufgeführt hatte [vgl. KSA 4, S. 392] und den Einakter nun in München spielte, fand am Münchner Schauspielhaus am 24.7.1900 um 20.30 Uhr statt; eine weitere Vorstellung folgte am 27.7.1900 [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 53, Nr. 338, 24.7.1900, Vorabendblatt, S. 5; Nr. 342, 26.7.1900, Vorabendblatt, S. 3]. in München. Statt ihr beiwohnen zu können lag ich
in Folge der Erbschaftsgeschichte in Leipzig in der Klinikvgl. Wedekind an Walther Oschwald, 1.8.1900., nachdem mich
Heiliger durch eine AuskunftHans Heiliger hatte Wedekinds Anwalt Hugo Wolff mitgeteilt, Wedekind könne die erwartete Erbschaft vor der Auszahlung bei einer Bank in Hannover beleihen [vgl. Wedekind an Walther Oschwald, 1.8.1900; Frank Wedekind an Erika Wedekind, 24.8.1900]., um die ich ihn mit keiner Sylbe gebeten hatte und
die sich natürlich | als unrichtig erwies, nach Hannover gelockt hatte. In
Hannover nahm in Abwesenheit seines Sohnes der alte Heiliger die Gelegenheit
wahr, mir/ch/, der ich mich mit keiner Sylbe an ihn gewandt hatte,
sofort wieder zu belügen indem er mir zu wiederholten Malen auch vor Zeugen
sagte: Der 15 August ist der letzte Termin, und jedes mal hinzufügte „Das ist
mathematisch!“ – Ich schrieb ihm vor acht Tagen folgenden eingeschriebenen
Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Ernst Heiliger, 22.8.1900.:
Herrn Justizrat Heiliger, Hannover.
Empfangen Sie meinen entsprechenden Dank dafür,
daß Sie M/m/ich in unverschämter Weise belogen haben. München e. ct. Frank Wedekind
Statt mich darauf hin zu verklagen reagiert er
mit keiner Sylbe darauf. Das charakterisirt das Pack mit dem wir es zu thun
haben.
Ich habe im ganzen von Heiliger 7 ZuschriftenDie Briefe Hans Heiligers an Wedekind sind sämtlich verschollen, fünf davon ließen sich aus Wedekinds Briefen an Walther Oschwald erschließen. in
der Angelegenheit erhalten, deren jede einzelne sich als unrichtig oder bewußt
unwahr erwiesen hat. Ich lege hier einen | Zettel beinicht überliefert; vermutlich eine Notiz Heiligers, die Wedekind über seinen Anwalt Hugo Wolff erhalten hatte, in dem Heiliger wahrscheinlich Angaben über den Auszahlungszeitpunkt des Erbes machte., der die Versicherungen,
die er vor seiner FerienreiseHans Heiliger war vom 13.7. bis 14.8.1900 verreist [vgl. Frank Wedekind an Donald Wedekind, 19.7.1900]. gab ganz im nämlichen Lichte erscheinen läßt. Ich
bitte Dich aber, nicht darauf zurückzukommen, indem ich Dir das alles lediglich
schreibe um meinen Brief zu erklären und etwaige Bitterkeiten darin zu
entschuldigen. Dir gegenüber habe ich mich nur dagegen gewehrt, von Dir für
verrückt oder dumm gehalten zu werden, nachdem du mir mit klaren Wortenvgl. Walther Oschwald an Wedekind, 30.5.1900.
geschrieben, ich sei ein Quärulant ich leide an Verfolgungswahn und verstehe erstaunlich
wenig von solchen Sachen. Ich that hätte aber auch das nicht gethan,
wenn du nicht auf di/a/s Capitel Donald zurück gekommen wärst. Ich war
weit entfernt mich durch deine Qualifik/c/ationen beleidigt oder
verletzt zu fühlen, bitte dich nun aber, dich auch deinerseits nicht verletzt
zu fühlen, wenn ich mich, ohne irgendwelche herabsetzenden Qualificationen
auszusprechechenSchreibversehen, statt: auszusprechen., gegen deine Anschauungen wehre. Ich kann mich höchstens in einer
ThatsacheWedekind bezieht sich hier auf seine Bemerkung, er habe „seit Verlassen der Festung mehr Geld verdient“ als Oschwald „während des ganzen Jahres“ [Wedekind an Walther Oschwald, 1.8.1900]. Die Gehälter der Staatsbediensteten sind in der von Wedekind genannten Quelle, dem „Kürschner“, verzeichnet. Für die „Finanz-Assessoren: v. Koppenfels, Oschwald“ an der „General-Direktion der K. Staats-Eisenbahnen, Dresden“ ist dort als Jahresgehalt „4800 bis 2400 M“ angegeben [Staats-, Hof- und Kommunal-Handbuch des Reichs und der Einzelstaaten (zugleich Statistisches Jahrbuch). Hg. von Joseph Kürschner. 15. Ausgabe. 1900. Leipzig 1900, S. 790]. geirrt haben | deren Quelle mir Kürschners Staats- und
Communalhandbuch war und dann bitte ich dich dieses Irrthums wegen natürlich um
Verzeihung.
Ich kann Dir auch noch folgendes sagen: Ich
bedaure unendlich, lieber Walther, daß wir dieser Erbschaftssache wegen in
Zwistigkeiten geraten sind. Du stellst Dich natürlich auf den Standpunkt, Du
habest für lauter wohlgemeinte Mühe und Aufopferung nichts als Undank und Ärger
gehabt. Das bed Darin hast du vollkommen recht und ich bedaure wie
gesagt diese Thatsache von ganzem Herzen. Für mich war aber diese
Erbschaftsangelegenheit ein directes Unglück, das mich fünf Monate meines
Lebens gekostet hat, ein Unglück, das mich in dem Augenblick traf, als ich mich
glücklich aus dem SimplicissimusproceßWedekind war aufgrund des satirischen Gedichts „Im heiligen Land“ (in der Palästina-Nummer des „Simplicissimus“ [Jg. 3, Nr. 31] vom 25.10.1898) wegen Majestätsbeleidigung am 3.8.1899 in Leipzig zu einer siebenmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt worden, die dann in Festungshaft umgewandelt wurde. heraus gewickelt hatte, ein Unglück das
mich ärgere Qualen hat durchmachen lassen als der ganze Simplicissimusproceß.
Du sagtest mir vor 7 Monaten in | DresdenAm 3.2.1900 war Wedekind aus der Festung Königstein entlassen worden und besuchte für einige Tage seines Schwester Erika und seinen Schwager Walther Oschwald in Dresden, bevor er am 8.2.1900 nach Leipzig reiste., zur
Fertigstellung meines Dramasdes „Marquis von Keith“ [vgl. KSA 4, S. 413]. könne mir die Erbschaft sehr zu statten kommen, Du
hörtest ruhig mit an, wie ich von meinen BühnenplänenWedekind hoffte nach seiner Haftentlassung zunächst, Carl Heines neues Ensemble auf einer Tournee als Regisseur oder Schauspieler begleiten zu können [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 29.12.1899; Wedekind an Walther Oschwald, 20.1.1900]. Außerdem plante er, Schauspielunterricht zu nehmen, um vermehrt Rollen in seinen eigenen Stücken spielen zu können [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 7.5.1900; Frank Wedekind an Erika Wedekind, 24.8.1900]. sprach, bei denen ich auf
Erlei Ermöglichung durch die Erbschaft rechnete; Du fragtest mich sogar schon, was Du mit meinem Gelde thun
solltest, ob du es in Dresden auf eine Bank legen oder mir nach München
schicken solltest. Das brachte mich zu der Überzeugung daß auch Du auf eine
raschere Erledigung der Sache gerechnet hattest, und diese Überzeugung trägt
die Schuld an demjenigen SatzEs dürfte sich um Wedekinds Bemerkung gehandelt haben: „Aus der Thatsache, daß ich leider Recht behalten, habe ich indessen die Überzeugung gewonnen, daß du zum mindesten nicht eine Idee mehr von solchen Dingen verstehst als ich.“ [Wedekind an Walther Oschwald, 1.8.1900] in meinem Brief, der Dich vielleicht am meisten
verletzt hat, den ich aber weiß Gott nicht zu diesem Zweck sondern mit aller
Naivetät und Harmlosigkeit niederschrieb, zumal ich mich damit nur gegen eine
positive Herabwürdigung meiner geistigen Fähigkeiten wehrte.
Ich hoffe lieber Walther, daß ich durch | diese
Erklärungen meinem Schreiben alles Verletzende genommen habe, bis auf den Ton
der Bitterkeit, den ich nicht wegleugnen kann und der begreiflich ist, der sich
nicht gegen Dich richtet. Sieh mal, lieber Walther, du bist nicht
Schriftsteller; Du hast aber einen Schreibtisch, davor einen bequemen Sessel,
darunter einen Teff/pp/ich und darauf alles was zum Schreiben nötig ist.
Ich habe dank der Erbschaftsgeschichte von alledem seit 7 Monaten nichts nichts
nichts nichts nichts nichts und ich glaube darum doch ein ebenso tüchtiger und
ebenso brauchbarer Mensch zu sein, wie du es bist. Dieser letzte Punkt ist
nämlich derjenige auf dessen Anerkennung ich, wenn ein Verkehr zwischen uns
möglich sein soll, unter allen Umständen beharren muß. Ich könnte sonst auch
die GefälligkeitWedekind hatte seine Schwester gebeten, ihm 3000 Mark auf die von ihm erwartete Erbschaftssumme zu leihen [vgl. Frank Wedekind an Erika Wedekind, 24.8.1900; 28.8.1900]. um die ich Deine liebe Frau gebeten habe nicht aus deiner Hand annehmen. Ich glaube damit aber nur auf
einem Princip zu bestehen, das gesellschaftlich in der ganzen Welt allgemein
Gültigkeit | besitzt.
Ich bitte dich also meinen an Deine Frau
gerichteten Zeilen v. 25vgl. Frank Wedekind an Erika Wedekind, 24.8.1900; den Brief hatte Wedekind, wie der Postausgangsstempel auf dem Kuvert belegt, bereits am 24.8.1900 an seine Schwester versandt.. als an Dich gerichtet zu betrachten. Ich schrieb den
Brief gestern noch einmalvorgestern; vgl. Wedekind an Erika Wedekind, 28.8.1900. nur weil ich den ersten nicht selbst in den Kasten
geworfen hatte.
Mieze schreibt mir sehr betrübende Nachrichtenin Erikas nicht überliefertem Brief (siehe oben).;
auch die Mittheilung vonWillys HierseinFrank Wedekinds Bruder William Lincoln Wedekind lebte seit 1889 in Südafrika und war (möglicherweise wegen der zu erwartenden Erbschaft) mit seiner Frau und Tochter bei seinem Schwager und seiner Schwester in Dresden zu Besuch [vgl. Emilie (Mati) Wedekind an Armin Wedekind, 19.10.1900; AfM Zürich, PN 169.5.95]. mit seiner Familie war mir eine große
Überraschung. Ich würde gerne wieder einmal jemand von Euch sehen. Vielleicht
kommt Mati auf der Rückreise über München. Ich lasse Mieze herzliche für
Ihren BriefErika Wedekinds nicht überlieferter Brief (siehe oben). danken.
Ich hoffe daß die Sache zwischen uns beigelegt
ist und werde es nicht mißverstehen, wenn Du mit keiner Sylbe darauf
zurückkommst.
Ich bin mit herzlichem Gruß
Dein getreuer Schwager
Frank.
30.VIII.1900
Franz Josephstraße 42.II.