Lieber Walther,
du hast wenig Ursache mir zu meinem GeburtstagAm 24.7.1900 wurde Wedekind 36 Jahre alt. zu
gratulieren. Deine Zeilennicht überlieferte Geburtstagsglückwünsche; erschlossenes Korrespondenzstück: Walther Oschwald an Wedekind, 23.7.1900. erreichten mich in der Privatklinik des Professors
HisDer Leipziger Internist und Kardiologe Prof. Dr. Wilhelm His, Gellertstraße 2 [vgl. Adressbuch der Stadt Leipzig, 1900, 1. Teil, S. 384] (heute: Diakonissenstraße), Sohn des schweizerisch-deutschen Anatomen gleichen Namens, war Assistenzarzt an der medizinischen Klinik des Königlichen medizinischen Instituts (Dir.: Heinrich Curschmann). in Leipzig. Der unvergleichlicher Heiliger hatte, ohne in dieser
Beziehung gefragt zu sein, sondern völlig aus eigenem Antrieb meinem hiesigen
Vertreter geschriebenDas Schreiben Hans Heiligers an Wedekinds Anwalt Hugo Wolff in München ist nicht überliefert., daß es mir frei stände, mein ErbtheilSeit Monaten erwartete Wedekind die Auszahlung seines Erbteils aus dem Nachlass seiner verstorbenen Tante Auguste Bansen. Zu der Erbschaftsangelegenheit siehe die vorangehende Korrespondenz Wedekinds mit seinem Schwager Walther Oschwald seit dem 6.1.1900. ebenso wie DonaldDonald Wedekind war vermutlich Anfang Juli von München über Dresden nach Hannover gereist [vgl. Wedekind an Walther Oschwald, 1.7.1900].
bei der Dresdner Bank in Hannover beleihen zu lassen. Ich reiste sofort
nach HannoverWedekind hielt sich vom 14. bis 16.7.1900 in Hannover auf und reiste von dort nach Leipzig., fand Heiliger abgereist, wurde von seinem Vater dem Justizrat, Rechtsanwalt und Notar Ernst Heiliger in Hannover (Bernstraße 4) [vgl. Adreßbuch der Königlichen Haupt- und Residenzstadt Hannover 1900, Teil I, S. 752].mit Grobheiten
empfangen und erhielt von der Dresdner Bank die Mittheilung, daß es ihr nicht
einfallen könne, noch eine weitere Beleihung vorzunehmen. Ich wollte sofort
nach München zurückkehren, wurde aber in Leipzig von einer Nervenkrise gepackt,
worauf mich Professor His in seine Klinik aufnahm. Dort erhielt ich deine B/l/iebenswürdige
Gratulation mit der | Benachrichtigung über Donalds „Infamie“Zitat aus Walther Oschwalds nicht überlieferten Zeilen (siehe oben). Zusammenhang nicht ermittelt. Donald Wedekind hatte seine Schwester Erika und seinen Schwager Walter Oschwald vermutlich Anfang Juli auf seinem Weg nach Hannover in Dresden besucht [vgl. Wedekind an Walther Oschwald, 1.7.1900]. Der Besuch führte offenbar nicht zu der angestrebten Entspannung im Verhältnis zu Walther Oschwald. und sein „freches
verlogenes Betragen“Zitat aus Walther Oschwalds nicht überlieferten Zeilen (siehe oben).. Ich kann keinem Menschen erlauben, von mir anzunehmen,
daß mir eine für meinen Bruder (sei mein Bruder auch was er wolle)
beschimpfende Mittheilung angenehm oder auch nur gleichgiltig sein könnte. Ein
Glückwunsch läßt sich leicht entbehren, und kein Glückwunsch wird mir
immer angenehmer sein als einer der sich zu 40 % seines Inhalts aus
Schmähungen auf meinen Bruder besteht. Übrigens kann ich Donald seines
Geschickes wegen nicht einmal bemitleiden, indem es mir um kein Haar besser
ergeht. Ich bin nach Deinen schriftlichen Äußerungenvgl. Walther Oschwald an Wedekind, 30.5.1900. über mich ein Quärulant,
wie Du ihn bisher nur in den ungebildetsten Volksschichten gefunden, ich
schreibe absurde Briefe, leide an Verfolgungswahn und verstehe erstaunlich wenig
von Erbschaftsangelegenheiten. Wenn ich wenig oder nichts davon verstände, so
wäre das wol noch nicht erstaunlich, da es nicht zu meinem Beruf gehört. Wenn
ich erstaunlich wenig davon verstehe, so kann das also nichts anderes heißen,
als daß ich ein ausgemachter Dummkopf bin. | Leider, leider zu meinem Großen
Schaden sind nun in dieser Angelegenheit meine Befürchtungen bis jetzt
sämmtlich in Erfüllung gegangen, während sich deine für mich beruhigenden
Annahmen bis jetzt sämmtlich als unrichtig erwiesen haben. Ich rechne dazu vor
allem auch Dein Urtheil über diesen Schuft von Heiliger, der sich nicht scheut,
seit Beginn des Processes eine verlogene Nachricht nach der anderen an uns
gelangen zu lassen. Ich habe dir kaum je geschrieben ohne mich vorher mit
diesem oder jenem Juristen meiner Bekanntschaft besprochen zu haben, begreife
daher nicht, wie du zu der Überzeugung meiner Verständnislosigkeit gelangt
bist. Aus der Thatsache, daß ich leider Recht behalten, habe ich indessen die Überzeugung
gewonnen, daß du zum mindesten nicht eine Idee mehr von solchen Dingen
verstehst als ich.
Warum ich dir das alles schreibe? – Weil ich
vermuthe (ich habe mit Donald nicht darüber gesprochen) aber weil ich vermuthe,
daß du in deiner Correspondenz mit ihmDie Korrespondenz zwischen Walther Oschwald und Donald Wedekind ist nicht überliefert. mit persönlichen InjurienBeleidigungen. womöglich noch
weniger sparsam umgegangen bist als in deinen Briefen an mich. Und so hat er
die berüchtigte Infamie vielleicht nur begangen, weil er nicht Gleiches mit
Gleichem vergelten wollte – oder konnte. | Mir geht es sehr schlecht, trotzdem
mir Donald natürlich von seinem GeldeDonald Wedekind lieh von dem Darlehen, das er in Hannover auf das erwartete Erbe erhalten hatte, seinem Bruder sofort 300 Mark, später wahrscheinlich noch einmal 500 Mark [vgl. Frank Wedekind an Donald Wedekind, 19.7.1900] soviel ich brauche zur Verfügung gestellt
hat, trotzdem ich in der Öffentlichkeit einen Erfolg nach dem andern habe und
trotzdem ich seit Verlassen der Festung mehr Geld verdient habe als du während
des ganzen Jahres verdienst. Dabei ist aber aus meinen Beziehungen und meinem
Leben ein Chaos geworden, ich erscheine im Licht eines Lügners und Betrügers,
habe vom Ertrag meiner Arbeit keine freudige Minute gehabt, sehe mir täglich
die besten Gelegenheiten zum Vorwärtskommen entgehen, kann mich wegen
mangelnder ZähneWedekind trug ein schlecht sitzendes Gebiss, das ihn beim Sprechen behinderte [vgl. Wedekind an Walther Oschwald, 15.3.1900]. in keine anständige Gesellschaft wagen, habe den letzten
Funken Muth verloren und sehe täglich dem schließlichen Zusammenbruch meiner
Gesundheit entgegen. – Ich höre schon dein Urtheil: Daran bist du selber
schuld! Ich möchte denjenigen sehen dem es in meiner Situation besser
anders ergangen wäre. Aber du bist der Mustermensch; vor drei Jahren noch
urtheiltest du über mich nicht anders als du jetzt über Donald urtheilstest.
Ich beneide dich um deinen moralischen Muth, möchte ihn aber nicht um den Preis
haben mit dem Du ihn bezahlst.
Sage Mieze meinen besten Dank für Ih ihre
Gratulationnicht überliefert, erschlossenes Korrespondenzstück: Erika Wedekind an Frank Wedekind, 23.7.1900. .
Mit herzlichem Gruß
Dein
Frank
München, Franz Josefstr. 42.II
1.VIII.1900.