Lieber Walther!
mit gleicher Post übersende ich dirdie parallel übersandten Unterlagen sind nicht überliefert. den ScheinDer Meldeschein und das Begleitschreiben aus Aarau sind nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Stadtverwaltung Aarau an Wedekind, 19.5.1900. Wedekind hatte in Aarau einen Meldeschein als Identitätsnachweis angefordert [vgl. Wedekind an die Stadtverwaltung Aarau, 17.5.1900; vgl. Wedekind an Walther Oschwald, 18.5.1900], damit er sich gegenüber dem Rechtsanwalt Hans Heiliger in Hannover legitimieren konnte, der den Nachlass von Wedekinds verstorbener Tante Auguste Bansen verwaltete. Wedekind erhoffte sich eine größere Summe aus dem Erbe. Ein vergleichbares Dokument hatte ihm am 22.4.1884 der Gemeinderat von Lenzburg ausgestellt und darin Wedekinds amerikanische Staatsbürgerschaft bescheinigt [vgl. Aa, B, Nr. 170].
den ich von Aarau erhalten und die beiden Papiere, die ich vor sechs Wochen an
Heiliger schicktevgl. Wedekind an Hans Heiliger, 5.4.1900. und umgehend als unnötig zurückeh/r/hieltvgl. Hans Heiliger an Wedekind, 6.4.1900. da Du ihm
mitgetheilt habest, wir seien getauft. Ich hatte ihm damals Willys, Donalds und
meine Geburtsdaten mitgetheilt und ihn gebeten, mir auf die Papiere hin einen
Geburtsschein in Hannover zu erwirken.
Es wäre mir wirklich sehr an|genehm wenn die
Auszahlung bald stattfinden könnte. Ich lebe in einer völlig leeren WohnungWedekind war aus dem Hotel Bamberger Hof in München zwei Monate zuvor in eine Wohnung in der Franz Josephstraße 42, 2. Stock, umgezogen, wo er seit dem 21.3.1900 gemeldet war [vgl. EWK/PMB Wedekind]..
Mein StückWedekind arbeitete noch am „Marquis von Keith“, als schon mehrere Akte des Dramas im April und Mai 1900 in der Zeitschrift „Die Insel“ (unter dem Titel „Münchner Scenen. Nach dem Leben aufgezeichnet“) erschienen waren; der letzte Teil seines Stücks erschien im Juni-Heft der „Insel“ [vgl. KSA 4, S. 413]. habe ich fertig und würde jetzt gerne dramatischen Unterricht
nehmenDen Plan, Schauspielunterricht zu nehmen, um vermehrt Rollen in seinen eigenen Stücken zu spielen, fasste Wedekind während seiner Inhaftierung wegen Majestätsbeleidigung auf der Festung Königstein [vgl. Wedekind an Carl Heine, 26.8.1899]. Als Lehrer wählte er den Münchner Hofschauspieler Fritz Basil, mit dem er offenbar bereits Verabredungen getroffen hatte [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 7.5.1900]. Wann er mit dem Unterricht bei Basil begann, ist unklar, belegt sind mehrere Stunden seit April 1904 [vgl. Wedekind an Fritz Basil, 30.5.1904].. Heiliger ist ein Advokat wie alle andern der natürlich die
Angelegenheit möglichst in die Länge zu ziehen sucht. Er wird es nicht übel nehmen
wenn man ihn etwas anspornt. Nachdem wir uns gründlich dadurch blamiert haben,
daß die eigene Mutter nicht zu wissen scheint ob ihre Kinder getauft sindEintragungen ohne Namen in den Kirchenbüchern und nichtvollzogene Taufen erschwerten den Neffen und Nichten gegenüber dem Nachlassverwalter Hans Heiliger den Nachweis, erbberechtigt zu sein. Dies zog die Auszahlung des Erbes in die Länge. Im Gegensatz zu Frank Wedekind war seine Schwester Erika, die Ehefrau Walther Oschwalds, allerdings getauft worden. Die Taufe erfolgte am 23.10.1869 in der Gartenkirche in Hannover mit den Taufzeuginnen Friedrike Kettler, Auguste Bansen und Anna Wallmann, wie das Geburts- und Taufbuch der Kirche verzeichnet [vgl. Kreter 1995, S. 78]. Dies war Wedekind offenbar unbekannt. oder
nicht wird das freilich etwas weniger leicht sein. Er braucht jetzt nur noch
von der HebammengeschichteDas Gerücht, eine Hebamme und nicht der Vater habe die Kinder angemeldet [vgl. Wedekind an Walther Oschwald, 18.5.1900], gefährdete nach Ansicht Wedekinds die Legitimierung der Erben. zu erfahren um weiter keine Rücksichten mehr nehmen
zu müssen. Ich würde daran zweifeln, ob Mama noch bei Verstand ist, wenn ich
derartigen Intriguen ihrerseits nicht schon die fürchterlichsten Ereignisse | meines
Lebens zu danken hätte. Nach Dresden kann ich jetzt nicht reisenIn seinem letzten Brief hatte Wedekind eine Reise nach Dresden angekündigt, um die Erbschaftsangelegenheit persönlich zu besprechen [vgl. Wedekind an Walther Oschwald, 18.5.1900].. Das ist eben
der wirthschaftliche Nachtheil eines Menschen der von der Hand in den Mund
lebt. Das wird sich alles ändern auch ohne die Erbschaft, ich brauche es mir
nicht zur Schande anzurechnen dasSchreibversehen, statt: dass. meine Bücher erst zehn Jahre nach ihrem
ErscheinenWedekind bezieht sich hier vermutlich auf eine Anfrage zu biographischem Material für einen Artikel [vgl. Ferdinand Hardekopf an Wedekind, 17.12.1899], die sich explizit auf ältere Werke wie „Frühlings Erwachen“ (1891), „Erdgeist“ (1895) und „Die Fürstin Russalka“ (1897) bezog und sie „als allerfeinste litterarische Delikatessen“ lobte. ihrem Werth entsprechend gewürdigt werden, aber etwas
Bewegungsfreiheit in diesem Augenblick wäre mir so unaussprechlich und so
unberechenbar förderlich, daß mir die Scherze, die sich Mama in der
Angelegenheit erlaubt in einem geradezu heillosen Lichte erscheinen. Ich würde
sie auch trotz allem kaum für möglich halten, wenn sie nicht beim Tode ihrer
SchwiegermutterFriederike Dorothee Wedekind starb am 5.4.1870., und zwar gerade gegenüber der „lieben guten Tante Auguste“ wie
sie sie jetzt nennt gleichfalls die Rolle des | bösen Dämon gespielt und Papa
für den ganzen Rest seines Lebens mit seiner Schwester entzweit hätte.
Es thut mir leid, daß ich dich mit solchen
Unerquicklichkeiten nicht verschonen kann. Ich bitte dich, nicht etwa
irgendwelche Animosität dir gegenüber dahinter zu wittern. Aus meinen Zeilen
spricht nur der Ernst den für mich d mein künstlerisches und wirthschaftliches
Emporkommen hat. Ich bitte dich auch, mir nicht etwa eine weitläufige
Rechtfertigung Mama’s zu
schreiben. Schreibst du mir, daß ich im Unrecht bin, dann glaube ich es Dir
auch ohne Beweise.
Mit herzlichen Gruß dein
Frank.
21.V.1900
Franz Josefstraße 42.II.