Lenzburg d. 13.XI 89.
Lieber
BabySpitzname Franklin Wedekinds. !
Schon längst mal sagte mir
Mietze, ich möchte Dir doch schreiben, denn Du habest diesen Wunsch in ihrem Briefe ausgesprochen u Du selbst laborirest schon seit x Wochen an einem Brief für mich – hmhm – wahrscheinlich findest Du nicht den richtigen Ton – denn da die Maus jüngst aus einem andern Loch pfiff – wenn auch noch lange nicht aus dem
Letzten – so weißt Du vielleicht nicht, wo Du zuerst verrammeln sollst u wartest wol auf ein drittes Zeichen ihrerseits. Sei dem wie es wolle – mir ist es einerlei; denn im Grund | genommen steh ich Dir viel zu schwesterlich nah, als daß ich mich vor Dir zu geniren brauchte – oder sollte ich Dich u mich falsch taxiren? Ich ließ mich vor Dir gehen u schließlich doch nur weil ich mir's zu erlauben dürfen glaubte – drum lege mir mein Empfinden u Gebahren nicht anders aus, treibe keinen Spott damit oder lege es nicht Andern zur Unterhaltung vor – das würde mich verletzen. Teils haben meine Worte auch Bezug auf
meinen verrückten Brief Minna von Greyerz‘ Brief vom 17.8.1889. von neulich u wenn Du ihn mir nicht zurückschickst,
was mir das Liebste wäre, so verbrenne ihn, wie es solchem Spuck geziemt.
Was ich Dir übrigens geschrieben, weiß ich nicht mehr, nur noch ungefähr
wie – weil mir die momentane Stimmung noch un- | gefähr zugegen ist.
MietzeMieze, auch Mietze geschrieben, Spitzname für Wedekinds Schwester Erika (1868-1944), spätere Dresdner Hofopernsängerin. teilte mir mit, Du ließest mir sagen, ich sollte mich schämen, auf
eine PerleWedekind benennt sie in seinem Brief vom 16./30.11.1889 als „Margarethe B, die kleine Elfe und Perle“. eifersüchtig zu sein
oder zu beneiden, das sei
sals ob ich den blauen Himmel beneiden wollte. Ich bin mir nicht bewußt irgend Jemand zu beneiden oder zu beeifersüchteln, schon aus dem Grund, weil ich so harmlos oder altbacken zufrieden bin mit meinem Loos im großen Ganzen; daß ich wenigstens nicht tauschen würde. Verzeih, daß ich nicht verstehe was Du damit meinst, oder daß ich bereits vergeß was ich Dir damals schrieb, als Du derartiges
aus meinen Zeilen zu deuten suchtest. Ich hoffte Deine vetterliche Verbindlichkeit in Anspruch nehmen zu können – umsonst! – Ich habe nämlich verschiedene Loose in der Münchner-Kunstaus- | stellung gewonnen, hatte jedoch kein <Zeichnung:
SchweinZeichnung eines kleinen Schweins im Brieftext.chen> so wenig wie in dieser herrlichen Zeichnung.
GewönlichSchreibversehen Minna von Greyerz'. machen die Leute ein Geheimniß aus solchen Dingen – ich sehe aber nicht ein warum. –– Es wäre mir sehr interessant direct v
on Dir zu vernehmen, wie's Dir geht etc. – Ob Du mir wol glaubst, wenn ich Dir sage, daß ich seit Sommer Göthe zur Hand genommen u „Wahrheit u Dichtung“ lese; leider komme ich nicht jeden Tag dazu u dann nur sehr kurz aber es ist höchst interessant! Ich bin sehr auf den 19. Nov. gespannt – dann höre ich Frau
Wirz-KnispelLouise Wirz-Knispel (1858-1940), Sängerin und Gesangslehrerin, verheiratet mit Dr. Hans Wirz, Gymnasialprofessor. und –
ScheidemantelWahrscheinlich ist der Opernsänger Karl Scheidemantel (1859-1923) gemeint., in einem Abonnementsconzert in Zürich. Kürzlich hörte ich Frau
Müller-BüchiJulie Büchi-Fährmann, Dresdner Konzertsängerin und Ehefrau des Komponisten Hans Fährmann. dasselbst u ihren jetzigen Mann Organist Fährmann aus Dresden, mit dem sie hoffentlich besser fährt als mit ihrem Ersten. Nach Schluß des sehr genußreichen Conzertes stieg ich auf die Empore (der Augustinerkirche, welche gedrängt voll war) u fand eine köstliche Begrüßung zwischen ihr u mir statt. Nächsten Sonntag, den 17. Nov. | findet unser
CäcilienfestMit großen Musikaufführungen begleitetes Fest zu Ehren der Heiligen Cäcilie, das von der katholischen Kirche am 22. November gefeiert wird. In der protestantischen Schweiz wird das Cäcilienfest am 15. November bzw. am jeweils darauf folgenden Sonntag gefeiert. Es fiel 1889 auf den 17. November. statt u wird es höchst fidel werden. Mama u Mietze haben sich auch zur Beteiligung des Banketts auf der Liste unterschrieben. Frau
OschwaldFanny Oschwald-Ringier (1840-1918), Schriftstellerin, die spätere Schwiegermutter von Wedekinds Schwester Erika, die deren Sohn Walther Oschwald (1864-1950) 1898 heiratete.,
JahnDer literarisch interessierten und selbst Gedichte schreibenden Bertha Jahn hatte Wedekind seine frühen literarischen Versuche, Lyrik und Prosa, zur Kritik überlassen. Seine 1884 entstandene enge Beziehung zu Bertha Jahn (1839-1894) gab Wedekind endgültig im September 1887 auf. u
Zweifel-Gd.Gemeint ist Blanche Zweifel-Gaudard, Lenzburger Bürgerin, verheiratet mit dem Kolonialwarenhändler Alfred Zweifel. Minna von Greyerz war mit ihr eng befreundet. haben ein flottes
Ensemble fabriz
irt, das in
Scene gesetzt wird: die Geschichte führt ihren Mitschwestern Musik u Minne Bilder aus der Vergangenheit vor: Pfahlbautzeit – Helvetier u
ZRömerzeit – altdeutsches Minneleben –
Roccocozeit u das Bild der Gegenwart
s – ein Theil
der oper Loreley Gemeint ist Felix Mendelssohn-Bartholdys (1809-1847) unvollendet gebliebene Oper „Die Loreley“ (1847). Erhalten sind das Finale des ersten Aktes, ein „Ave Maria" für Sopransolo und Frauenchor sowie ein „Winzerchor", die 1852 bzw. 1859 uraufgeführt und erst 1868 veröffentlicht wurden. Bestandteil des Cäcilienfest-Programms dürfte entweder das „Finale" oder aber das „Ave Maria" mit Erika Wedekind in der Solopartie gewesen sein.die wir im Concert singen, wird dramatisch aufgeführt. Der Vorhang fällt während dem ganzen Stück nie, sondern bloß die Waldscenerie wird während den Bildern auf u niedergelassen u zwischen durch spielen sich gelungene Scenen der Gegenwart ab, wobei sich die Geschichte Musik u Minne jeweils zurückzieh
ten. Das Ganze ist höchst amüsant u die Rollen der so vielen Beschäftigten günstig verteilt. Mietze wird als Pfahlbäuerin einen Hymnus singen – ich als altdeutsche | Maid im Duett mit
Otto Bertsch.Otto Bertschinger. Mehr nicht nachweisbar. aus
Schumanns „Rose Pilgerfahrt“Robert Schumanns (1810-1856) Oratorium "Der Rose Pilgerfahrt" 1851). mit andrem Text. Mietze wird zum Schluß als Loreley glänzen – die Partie liegt ihr famos. Neulich sang sie auch in einem hiesigen Kirchenconzert, gegeben von einem Wiener
„Organisten" TöpferN.n., Schwindler ersten Ranges, u klang ihre Stimme prächtig – sie muß nur noch mehr Ausdruck u Seele in ihren Vortrag legen – besonders in die feinfühligen Compositionen eines Schumann u die ernsten Kirchenarien der Klassiker. Die Loreley v. Mendelssohn paßt ihr famos, sie ist
dwie das verkö
prperte Märchen – Du würdest weg sein könntest Du sie sehen u hören – überrasche sie doch zum Sonntag, das wäre auch wieder was!
Die Minckin Erika Wedekind charakterisiert Fräulein Minck, einen Pensionsgast auf Schloss Lenzburg, in ihrem Brief vom 23.7.1889 an Franklin.umarmte im Vorgefühl, daß Du diesen Winter mal kommen würdest bereits den Schaukelstuhl, in dem sie Dich drin liegen wähnte. | Kurz vorher hatte sie sich zwar gegen Dich ausgesprochen, wahrscheinlich um die Wirkungen, die ihre Worte auf mich ausüben sollten, zu beobachten, doch blieb ich kühl bis an's Herz hinan. Vor 3 Jahren hieß es bei
MehringsN.n. sie habe sich für 29 Jahre alt ausgegeben, dem widerspricht sie
hjetzt u giebt sich für 25 – das stände wenigstens im Verhältniß zu Dir, auch hatte sie eine reiche Großmutter, die bald sterben wird, (sie ist schon 80 oder älter) u dann wird sie natürlich ihren Erbteil bekommen – sie würde zu Dir passen, indem sie gleich Dir ein famoses Maulwerk hat u die Streichhölzer links u rechts an Boden wirft. Ueberleg Dir die Sache – sie ist nicht ohne!
Ich komme in letzter Zeit sehr selten aufs Schloß, trotzdem wir einen |
jourfixe haben, aber ich bin gegenwärtig wieder sehr von Unterricht geben in Anspruch genommen – 25 Stunden per Woche u habe sonst genügend innere u äußere Abwechslung u bin höchst fidel dabei.
Nächsten Sonntag singe ich 3 Lieder im Conzert u Sonntags drauf debütire ich in
WohlenGemeinde im Kanton Aargau. . Vier Wochen eh
KäslinEusebius Kaeslin (1835-1889), Dirigent, Chorleiter und Komponist, Lenzburger Musikdirektor; erwähnt bei Sophie Haemmerli-Marti: De Franklin. 100. Semesterblatt des Altherrenverbandes Industria Aarau. Aarau 1952, S. 23. starb sang ich noch unter seiner Leitung in Aarau. Von diesem Winter erwarte ich nicht viel – der Schönste ist wol vorüber! Doch genug – sonst liest
zDu mein Gekritzel nicht einmal zu Ende, Du Schnödian
. –
Herzlich grüßt Dich
Deine tr. Cousine
Minna v. G.
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