Kennung: 3296

Darmstadt, 29. März 1910 (Dienstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Tilly

Inhalt

Hôtel Britannia, Darmstadt
RUDOLF REUTER, Hoflieferant.

Zentralheizung.
Personen-Aufzug.
Elektr. Licht.

Telefon Nr. 153.


DARMSTADTWedekind notierte am 28.3.1910 seine Abreise von München nach Darmstadt: „Tilly bringt mich zur Bahn. Fahrt nach Darmstadt.“ [Tb], den 29. März 1910Wedekind notierte am 29.3.1910 in Darmstadt: „Brief an Tilly.“ [Tb].


Geliebteste Tilly!

Es war der interessanteste AbendWedekind war am Abend des 28.3.1910 (Ostermontag) zu Gast auf einer Soiree des international berühmten Komponisten Willy Burmester in Darmstadt (Heidelberger Straße 9), „Professor für Musik“ [Adreßbuch der Haupt- und Residenzstadt Darmstadt für 1910, Teil II, S. 30]: „Soirée bei Willy Burmester. Ich sitze neben dem Großherzog.“ [Tb], den ich bis jetzt erlebt habe und ich hoffe nur daß wir recht bald zusammen einen ähnlichen Abend erleben werden. Du hättest Dich ausgezeichnet in der Gesellschaft ausgenommen. Wenn ich mich dabei weniger unbefangen gefühlt hätte, so ist das ein Mißstand, der sich eben ändern muß. – Ich kam also am Mittag hier an und fuhr ins Hotel Prinz Karl, nicht KronprinzWedekind hatte sich im Namen des Hotels geirrt; der richtige Name des Hotels lautete: Zum Prinzen Karl (Karlstraße 1) [vgl. Adreßbuch der Haupt- und Residenzstadt Darmstadt für 1910, Teil V, S. 557], in dem er dann aber doch nicht logierte, es aber am 28.3.1910 zunächst aufgesucht hat: „Das Hochzeitszimmer im Prinzen Karl.“ [Tb], wie ich glaubte. Das Hotel hatte sich aber in eine ganz gewöhnliche Bierkneipe verwandelt, so daß ich im Lauf des Nachmittags hierher umzog und das gleiche ZimmerFrank Wedekind notierte am 28.3.1910 zu seinem Zimmer im Hotel Britannia (Rheinstraße 35) [vgl. Adreßbuch der Haupt- und Residenzstadt Darmstadt für 1910, Teil V, S. 557], in dem er schon einmal übernachtete – gemeinsam mit seinem älteren Bruder Armin Wedekind auf der Reise mit dem Vater in die Schweiz vom 18.7.1872 bis 2.9.1872, um dort Schloss Lenzburg zu kaufen [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 264]: „Im Britanniahotel wohne ich im gleichen Zimmer in dem ich vor 38 Jahren mit Armin geschlafen.“ [Tb] erhielt, in dem ich vor 38 Jahren bei unserer Übersiedelung von Hannover nach Lenzburg mit meinem Bruder Armin geschlafen. – Während des Nachmittags gab ich meine Kartenwohl Schreibversehen, statt: Karte. Hinweis auf eine nicht überlieferte Visitenkarte; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Willy Burmester, 28.3.1910. bei Burmester ab, ohne jemanden zu treffen. Abend um 7 Uhr ging ich zu Fuß hin, die meisten Gäste gingen zu Fuß. Es waren etwa 50 Personen. Dann kamen die Hoheiten, der GroßherzogErnst Ludwig, Großherzog von Hessen und bei Rhein, war „als Liebhaber und Mäzen der Künste bekannt. 1899 berief er eine Gruppe junger Künstler und Architekten nach Darmstadt und trug als Gründer und Förderer der Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe entscheidend zur Entwicklung des Jugendstils in Deutschland bei. Daneben zeichnete er sich auch selbst durch breite künstlerische Interessen und Begabungen aus.“ [KSA 7/II, S. 1048] Die Figur des Herzogs von Rotenburg in „Franziska“ trägt Züge von ihm [vgl. KSA 7/II, S. 1047f.]. mit Frau und sein SchwagerHeinrich von Preußen (der jüngere Bruder Wilhelms II.) war seit 1888 mit seiner Cousine Irene von Hessen-Darmstadt, der Schwester Ernst Ludwigs (und der russischen Zarin Alexandra Fjodorowna), verheiratet., der Prinz Heinrich von Preußen, der Bruder des Deutschen Kaisers. Die GroßherzoginEleonore zu Solms-Hohensolms-Lich, seit 1905 Eleonore von Hessen und bei Rhein, Ernst Ludwigs zweite Frau. Die Figur der Herzogin in „Franziska“ trägt Züge von ihr [vgl. KSA 7/II, S. 1049]. reichte jedem der Gäste die Hand, während die beiden Herren sich gleich mit ihren näheren Bekannten unterhielten. Dann kam ein musikalischer Vortrag am Klavier von einem Musik|kritiker aus CölnOtto Neitzel, Komponist, Pianist und Musikkritiker, war „1885 als Lehrer an das Kölner Konservatorium berufen“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 135] worden, wo Wedekinds alter Freund Hans Richard Weinhöppel seit 1906 als Gesangslehrer tätig war., Dr. Neitzel, der mir nachher viel von Weinhöppels ScheidungNach der Scheidung von seiner ersten Ehefrau, der „Amerikanerin Stella Brokow“ [KSA 4, S. 662], im Februar 1906 [vgl. Kemp 2017, S. 178], „heiratete Weinhöppel im Oktober 1908 die ebenfalls aus Amerika stammende Fay Böndel, die er aus seiner Scharfrichter-Zeit kannte und die zuvor mit seinem Bühnenkollegen, dem Sänger August Böndel alias Scharfrichter Hans Strick, verheiratet gewesen war.“ [Kemp 2017, S. 179] Die Komponistin Fay Böndel (geb. Foster) wurde 1907 von August Böndel geschieden [vgl. Kemp 2017, Anhang Ensemble, S. 7] (geheiratet hatte sie ihn am 17.10.1900 in Florenz); wann genau sie von Hans Richard Weinhöppel geschieden wurde, ist nicht bekannt; er hat Wedekind am 28.7.1910 in München näher über die Scheidung von ihr unterrichtet: „Weinhöppel erzählt mir die Geschichte seiner Scheidung“ [Tb]. erzählte. Dann wurden die Tischkarten ausgetheilt. Der Großherzog saß zwischen der Dame, die ich zu Tisch geführt hatte und der Frau Burmester, neben der ich saß, meiner Tischdamenicht identifiziert. gegenüber, dann noch eine Dame, Dr. Neitzel und ein Engländernicht identifiziert.. Am Tisch gegenüber präsidierte die Großherzogin. Zum Glück hatte ich erfahren, daß der Großherzog auch Theaterstücke„Mit der Weihnachtsdichtung ‚Bonifatius‘, die Ernst Ludwig unter dem Pseudonym E. Mann vorlegte, wurde am 19.IX.1909 das erste Bühnenstück des Großherzogs am Darmstädter Hoftheater (mit Musik des Darmstädter Hofkapellmeisters Willem de Haan) aufgeführt.“ [KSA 7/II, S. 1048] schreibt und neulich eines am hiesigen Hoftheater hatte aufführen lassen. Ich setzte mich daher mit den Worten nieder: Kgl Hoheit wurden neulich am hiesigen Hoftheater aufgeführt. Damit war das Eis gebrochen. Seit Willy GrétorWedekind hat den deutsch-dänischen Maler und Kunsthändler Willy Gretor (die Titelfigur des „Marquis von Keith“ trägt Züge von ihm) Anfang 1894 in Paris kennen gelernt. habe ich keinen so aufgeregten Menschen mehr gesehen. Er erzählte daß er mit 12 Jahren zum ersten Mal ins Theater kam und seitdem jeden Tag im Theater war. Er führt Regie, schreibt Stücke und tritt in seinen eigenen Stücken als Schauspieler auf. Ich erzählte ihm die ganze Liga-GründungWedekinds Tagebuch zufolge dürfte es sich um Pläne zur Gründung eines literarischen Vereins oder Theatervereins gehandelt haben, die von Carl Sternheim am 12.3.1910 in München initiiert wurden („Am Nachmittag kommt Sternheim und schlägt mir die Gründung einer Liga vor“). Gespräche dazu folgten mit Carl Sternheim, Paul Cassirer, Karl Gustav Vollmoeller und dem Schauspieler Karl Peppler am 15.3.1910 („Nach Tisch fahre ich zu Sternheim hinaus Privatunterredung mit Cassirer. Conferenz mit Vollmöller Sternheim Cassirer. Abendessen bei Sternheim Rückfahrt im Automobil. Torgelstube mit Cassirer Vollmöller Peppler“) und wurden am 16.3.1910 – nun war Friedrich Freksa mit dabei – fortgeführt („Um 4 Uhr Conferenz bei mir Sternheim Cassirer Freksa Vollmöller Abendessen mit den Theilhabern im Hotel Marienbad“). ‒ Paul Cassirer gründete dann Ende 1910 in Berlin die Theatergesellschaft Pan. an der er großen Antheil nahm. Er schwärmte vom Münchner Schauspielhaus, da er aber weder von meinen Stücken noch von unserm Auftreten sprach hatte ich keine Ursache, davon anzufangen. Dann kam das Gespräch auf Hoffmannsthal und Richard StraußAnspielung auf die erfolgreiche Oper „Elektra“ (1908, uraufgeführt am 25.1.1909 in Dresden) von Richard Strauss, für die Hugo von Hofmannsthal das Libretto geschrieben und dabei auf seine Tragödie „Elektra“ (1904, uraufgeführt am 30.10.1903 in Berlin) zurückgegriffen hat.. Gleich zuerst hatte ich ihm mein politisches Glaubensbekenntnis in Bezug auf SüddeutschlandWedekinds formulierte in einem Aphorismus: „Der Norddeutsche braucht sehr viel Bildung, weil er sehr wenig Kultur (Erziehung) hat. Der Süddeutsche braucht weniger Bildung, weil er viel mehr Cultur (Erziehung) hat.“ [KSA 5/II, S. 243] vorgesetzt, daß/s/ ihm zu behagen schien. Die Frau BurmesterNaema Apollonia Burmester (geb. Fazer), seit 1894 mit Willy Burmester verheiratet. ist eine ungemein liebenswürdige Dame von 30 – 40 Jahren, mit der Du, geliebte Tilly, nach den ersten Worten ein Herz und eine Seele wärst. Nach aufgehobener Tafel sang Schmedes, der Bruder des Wiener Opernsängersder dänische Konzertsänger Paul Schmedes (Bariton), Bruder des berühmteren Opernsängers Erik Schmedes (Tenor), der an der Wiener Hofoper engagiert war [vgl. Neuer Theater-Almanach 1910, S. 661]. einige Lieder, worauf sich die Hoheiten empfahlen. Der Großherzogin | kam ich nicht nahe, ebenso wenig dem Prinzen Heinrich, mit dem Burmester einen heftigen Disput ausfocht. Ich blieb noch etwa eine Stunde und ging dann mit Dr. Neitzel ins Café Bauerin das gegenüber dem Hotel Britannia (Rheinstraße 35) gelegene Café Bauer (Rheinstraße 28) [vgl. vgl. Adreßbuch der Haupt- und Residenzstadt Darmstadt für 1910, Teil V, S. 544]., wo wir noch längere Zeit über Musik schwatzten. – Heute stand ich um 11 Uhr auf und begegnete dicht vor dem Hotel Burmester der heute Abend nach Kopenhagen fährt. Er brachte mich in seinem Auto auf die Matildenhöhe, die Künstler KolonieWedekind hatte die Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe in Darmstadt schon einmal besucht, als er vom 26. bis 29.7.1901 im Spielhaus der Künstlerkolonie mit den Elf Scharfrichtern dort gastierte., wo ich mir die neuen Bauten ansah. Heute Abend bleibe ich noch hier und hoffe etwas zu arbeiten. Morgender 30.3.1910, an dem Wedekind notierte: „Fahrt nach Berlin. Abends im Habsburger Hof.“ [Tb] Vormittag fahre ich nach Berlin.

Nun leb wohl, geliebteste Tilly. Ich hoffe, daß es Dir und Annapamela gut geht. Küsse Annapamela von mir und sei selber innigst geküßt.
In Liebe Dein Frank.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 3 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 22 x 28 cm. Mit gedrucktem Briefkopf. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Seite 3 (auf dem zweiten Blatt) enthält denselben gedruckten Briefkopf (hier nicht wiedergegeben) wie Seite 1 (auf dem ersten Blatt).

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Darmstadt
    29. März 1910 (Dienstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Darmstadt
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Zweiter Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
237-239
Briefnummer:
349
Kommentar:
Neuedition: Vinçon 2018, Bd. 1, S. 160-162 (Nr. 231).
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 320
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 29.3.1910. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

07.10.2024 13:21