Zürich Universitätsstraße 15.
16.7.95.
Lieber Herr BleiFranz Blei, Schriftsteller in Zürich (Weinbergstraße 114) [vgl. Deutscher Litteratur-Kalender auf das Jahr 1896, Teil II, Sp. 106f.], der „sich meistens gar nicht in Zürich, sondern studienhalber in Bern aufhielt.“ [Halbe 1935, S. 131],
mit großem Genuß habe ich in BerlinWedekind hielt sich nach seinem Aufenthalt in Paris vom 20.1.1895 bis etwa Anfang Juli in Berlin auf. Ihre Komödie Thea
gelesen und danke Ihnen herzlich für die ÜbersendungHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zur Buchsendung; erschlossenes Korrespondenzstück: Franz Blei an Wedekind, 24.6.1895. Er hatte Wedekind sein zweites Bühnenstück geschickt, „Thea. Ein Akt Komödie“ (1895), erschienen bei der Deutschen Schriftsteller-Genossenschaft in Berlin.. Erstens halte ich das
Stück für durchaus gelungen als das was es sein soll und zweitens athmete ich
auf, ein Thema, in dem andere mit heiligem Philisterernst herumwühlen, aus der
dazu nöthigen geistigen Größe mit Humor und Grazie behandelt zu sehen. Sie
erinnern | sich, was ich Ihnen über Ihre Rechtschaffene FrauFranz Bleis erstes Bühnenstück, „Die rechtschaffene Frau. Drama in drei Akten“ (1893), erschienen im Verlag des Bibliographischen Bureaus (Alexanderstraße 2) in Berlin. sagte. Mein
Urtheil ist durch dieses Stück bestätigt worden. Das ist nicht gewollte Kunst,
gezüchtete Literatur, wie man sie in Berlin fabrizirt, sondern naives reines
Leben. Jedenfalls kommen Sie mit Ihrer Behandlungsweise einem Maupa
solcher Stoffe, mit ihrer rein künstlerischen von allem Pathos freien Reife,
einem MaupassantWedekind verweist auf Guy de Maupassant, den seinerzeit gern als Vergleichsautor genannten französischen Schriftsteller. näher als andere die sich gerne so nennen lassen.
Ich habe es
sehr bedauert, Sie bei meinem Eintreffen in ZürichWedekind dürfte erst kürzlich in Zürich eingetroffen sein, da er sich wenige Tage zuvor noch in Leipzig aufhielt [vgl. Wedekind an Albert Langen, 10.7.1895]. nicht hier zu finden. |
Mein Bruder Donald der noch in Berlin ist, läßt s/S/ie herzlich
grüßen. Er hat mir viel von Ihnen erzählt, besonders auch von einem Buch Lolotte, mon Novitiatder französischsprachige Roman „Mon noviciat ou les joies de Lolotte“ (1792) von Robert-André Andréa de Nerciat (in zwei Bänden in Berlin erschienen). „Der Verfasser schildert hier die erotischen Erlebnisse eines Freudenmädchens in der ihm eigenen Verquickung von geistreichelnder Philosophie und Zügellosigkeit unter reichlicher Verwendung der Dialogform.“ [Englisch 1927, S. 465], das ich in Berlin umsonst aufzutreiben gesucht.
Wenn Sie es mir vielleicht hierher schicken wollten für einige Tage dürften Sie
sicher sein, daß ich es wie meinen Augapfel hüte, und Sie es unversehrt
zurückerhalten.
Ich bitte Sie sehr darum, mich Frau DoctorMaria Blei (geb. Lehmann), seit dem 5.6.1894 mit Franz Blei verheiratet, den sie in Zürich kennengelernt hatte, wo sie seit 1891 Medizin studierte (mit Zeugnis vom 3.11.1896 von der Universität Zürich abgegangen, erst später in den USA promoviert, Doctor of dental surgery). Franz Blei wurde an der Universität Bern zum Dr. phil. promoviert, seine Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde, „Abbé Galiani und seine Dialoques sur le commerce des blés (1770)“ (1895), am 5.3.1894 mit dem Imprimatur versehen, erschien in der Buchdruckerei K. J. Wyß in Bern. aufs herzlichste
zu empfehlen. Die wenigen angenehmen Stunden die ich vor zwei Jahrenim Sommer 1893, als Wedekind in Zürich war und Franz Blei kennenlernte (mit ihm zusammen am 28. und 29.8.1893 auch Postkarten von dort verschickte). bei Ihnen
zugebracht, sind mir heute noch in lebhaftester Erinnerung. | Vielleicht habe
ich doch noch das Vergnügen Sie im Laufe des Sommers hierzuSchreibversehen, statt: hier zu. sehen. Vor
Anbruch des Winters hoffe ich das schöne Zürich nicht verlassen zu müssen.
Indessen verbleibe ich mit den besten Grüßen Ihr
Frank Wedekind.