Lieber Schwager,
als meinem offiziellen Vertreter in der
ErbschaftsangelegenheitWedekind, der auf eine größere Geldsumme aus dem Erbe seiner am 15.12.1899 in Hannover verstorbenen Tante Auguste Bansen hoffte (siehe die vorangehende Korrespondenz Wedekinds mit seinem Schwager seit dem 6.1.1900), hatte Walther Oschwald mit der Abwicklung der Angelegenheit beauftragt. muß ich dich heute doch mit einigen sehr ernsten
Erwägungen bekannt machen, die du in meinem Falle ebenfalls hegen würdest und
auch vollkommen begreiflich finden mußt. Wenn man von einer Erbschaft, die zur
Auszahlung gelangen soll annimmt, daß sie binnen eines vollen
Vierteljahres zur Auszahlung gelangen wird, so ist das gewiß nicht
optimistisch oder sanguinischhier für leichtsinnig. gedacht. Das Zerstreutwohnen der ErbenErbberechtigt waren alle Nichten und Neffen der verstorbenen Tante. | kann
dabei gar nicht in Frage kommen, denn in einem Vierteljahr reist man heute
bequem um die ganze Welt. In einem Vierteljahr werden Kriege erklärt und durch
Friedensschlüsse beendigt. Es ist ja auch gar nicht ausgeschlossen daß die
Erbschaftsvertheilung erst nach dem Friedensschluß zwischen England und
TransvaalDer zweite englisch-burische Krieg zwischen England und der südafrikanischen Republik Transvaal und dem Oranje-Freistaat begann am 12.10.1899 und endete mit einem Friedensschluss am 31.5.1902. Das zum Zeitpunkt des vorliegenden Briefes nicht absehbare Ende dieses Krieges, der sich seit Jahresbeginn 1900 zu einem Guerillakrieg entwickelt hatte, diente Wedekind als ironische Folie für einen unbestimmten Zeitpunkt in ferner Zukunft. stattfinden kann. Dann müste ich aber wenigstens davon unterrichtet
sein. Ich möchte nur wissen, warum es nötig war, die Vollmachtenvermutlich für die Vertretung in der Erbschaftsangelegenheit durch Walther Oschwald, der sich außer für Frank Wedekind auch um die Auszahlung des Erbes für seine Frau Erika (Mieze) Wedekind und seine Schwägerin Emilie (Mati) Wedekind kümmerte, wie Emilie in einem Brief an ihren Bruder Armin Wedekind am 20.1.1900 schrieb. bis zum
fünfzehnten Februar auszustellen, wenn bis heute, binnen eines vollen Monats
nicht das geringste mit diesen Vollmachten gethan worden ist. Ich bin seit
meinem HierseinWedekind war sehr wahrscheinlich seit dem 16.2.1900 zurück in München. mit meiner Abrechnung mit Albert LangenWedekind handelte mit seinem Verleger Albert Langen nach seiner Inhaftierung im Zuge des „Simplicissimus“-Prozesses (siehe unten) einen neuen Vertrag aus und stritt sich um die Verrechnung und Höhe von Vorschüssen, Honoraren und Tantiemen. beschäftigt und damit,
meine bei ihm verlegten Werke einem Berliner Verlagder S. Fischer Verlag in Berlin [vgl. Wedekind an Walther Oschwald, 16.3.1900]. zu übertragen. Das | ist
ein Kapf Kampf bei dem jeder Fußbreit mühsam und consequent erobert sein
will, indem mich/r/ jede momentane Unsicherheit zu dauerndem Schaden
werden kann. So legt er mir heute einen SchuldscheinDer Schuldschein und das Angebot der Abschlagszahlung (beides nicht überliefert) wurden sehr wahrscheinlich persönlich durch Korfiz Holm, der die Geschäfte des Albert Langen Verlags in München während der Exilzeit des Verlegers Albert Langen weiterführte, bei einem Besuch Wedekinds im Verlag in der Kaulbachstraße übermittelt. Korfiz Holm schrieb am 16.3.1900 an Albert Langen: „Wedekind habe ich Ihren letzten Vorschlag mitgeteilt, ohne bis jetzt eine Antwort zu haben. Ach, wenn ich nur mit dem Sauhund nichts mehr zu tun hätte! Ich glaube, das Geld von dem kriegen wir nie. Und ein Kontrakt nützt garnichts. Er hält ihn ja doch nicht ein. Und sowas zu verklagen, ist auch so eine Sache. Es macht einen schlechten Eindruck und man hat nichts davon.“ [Abret/Keel 1989, S. 188] über 1600 Mark vor, nach
dessen Unterzeichnung er mir eine Abschlagszahlung von 200 Mark auf
eingegangene aber noch nicht fällige Einnahmen aus meinen Büchern machen will.
Diese 1600 Mark kann er aber, wenn ich den Schein jetzt nicht unterzeichne, nie
im Leben gegen mich einklagen da sie mit dem SimplicissimusproceßDas Leipziger Reichsgericht verurteilte Wedekind am 3.8.1899 zu einer siebenmonatigen Gefängnishaft wegen Majestätsbeleidigung in den Gedichten „Im heiligen Land“ und „Meerfahrt“ in der von Albert Langen verlegten Zeitschrift „Simplicissimus“ ‒ diese Strafe wurde infolge eines Begnadigungsgesuchs vom 23.8.1899 in Festungshaft umgewandelt, die Wedekind am 21.9.1899 antrat und bis zum 3.2.1900 auf der Festung Königstein verbüßte [vgl. KSA 1/I, S. 1710].
zusammenhängen. Du kennst derartige Conflicte nicht, es ist eben ein
Unterschied, ob man eine durch Leben gegebene Stellung ausfüllt oder eine freie
literarische oder künstlerische Position behaupten und vertheidigen muß. Wenn
ich hätte voraus sehen können, daß die Erbschaftserledigung länger als ein
Vierteljahr in Anspruch nimmt, dann hätte ich diese ganze Münchner ExcursionWedekind hatte schon während seiner Haftzeit auf der Festung Königstein geplant, nach München zurückzugehen [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 29.12.1899; Wedekind an Otto Eisenschitz, 8.1.1900], ging aber zunächst nur von einem kurzzeitigen Aufenthalt aus, um dann nach Hamburg oder Berlin zu gehen [vgl. Weekind an Walther Oschwald, 20.1.1900].
verschoben. Ich habe in | diesem verflossenen Monat genau gerechnet 900 Mark
gebraucht, 500 Mark die ich von der Festung mitbrachte und 400 Mark die ich von
der „Insel“ eingenommenWedekinds Honorar für die erste Folge des Fortsetzungsabdrucks seines „Marquis von Keith“ (1. und 2. Akt), die unter dem Titel „Münchner Scenen. Nach dem Leben aufgezeichnet“ in der von Otto Julius Bierbaum, Alfred Walter Heymel und Rudolf Alexander Schröder herausgegebenen Monatsschrift „Die Insel“ erschein [vgl. Die Insel, Jg. 1, 3. Quartal, Nr. 7, April 1900, S. 3-76].. Jetzt geht es aber nicht mehr weiter. Ich kann im
Hotel nicht mehr arbeiten. Du fragstHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Walther Oschwald an Wedekind, 14.3.1900., warum ich bis jetzt noch nicht mit Dr.
Heine reiseWedekind hoffte zunächst, Carl Heines neues Ensemble auf einer Tournee als Regisseur oder Schauspieler begleiten zu können [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 29.12.1899; Wedekind an Walther Oschwald, 20.1.1900].? Unter uns gesagt aus dem einfachen Grunde weil ich mit einem
MundwerkWedekind trug eine Zahnprothese, die kaum zu übersehen war: „der an sich feingeschnittene Mund schien durch das künstliche Gebiß entstellt, das er mit seinen zweiunddreißig Jahren damals schon trug, und das ihm keineswegs durch einen Meister seines Faches angemessen war. Da es sich immerfort vom Gaumen loslöste, zog Wedekind, es wieder an den rechten Platz zu bringen, seinen Mund minütlich in die Breite und die Oberlippe stramm, baute jedoch, daß man den Zweck dieser Grimasse nicht so merke, sie geschickt zu einem lästerlichen Grinsen aus. Auch seine Zungenspitze wurde häufig bei der Bändigung des Gebisses mit bemüht; dies zu maskieren, leckte er sich dann frivol die Lippen wie ein blutdürstiger Tiger der Erotik und schuf sich so aus dieser Not zwar keine Tugend, aber eine Dämonie und eine Glorie von Lasterhaftigkeit.“ [Holm 1932, S. 60f.], das mir bei jedem erregten Wort herausfällt mich
nicht auf die Bühne wagen kann. Ich habe lediglich der Erbschaft wegen die Angelegenheit
Ausgabe solange verschoben. Ich bitte dich also, da auch meine Gesundheit sehr
unter diesem Straßenleben leidet 1. wenn du etwas neues weißt, es mir umgehend
mitzutheilen und d/2/. die Angelegenheit nach Kräften zu beschleunigen.
Als ich hier nach München kam, ließ mir Langen eine Rechnung von 3000 Mark
presentirenauch dies vermutlich bei einem persönlichen Besuch Wedekinds im Albert Langen Verlag durch Korfiz Holm. Die Rechnung ist nicht überliefert. Am 9.2.1900 schrieb Korfiz Holm an Albert Langen: „W.s. Vorschuß beträgt alles in allem c. M. 3000.-, wovon laut Kontrakt M. 1100.- Unterhalt in der Haftzeit gutgeschrieben werden.“ [Abret/Keel 1989, S. 175].. Davon habe ich ihm 1400 Mark bis jetzt weggestrichen und werde ihm
auch die übrigen 1600 noch wegstreichen, wenn ich meine Haltung bewahren kann.
Andernfalls kann ich von heute auf morgen gezwungen sein, den GalgencontractAlbert Langen ließ Wedekind wiederholt revidierte Verträge zur Unterzeichnung vorlegen. Zu einem neuen Vertragsabschluss kam es erst im April 1900 [vgl. Kutscher 2, S. 77f.]. zu
unterzeichnen und dadurch auf für ein halbes Jahr auf den Ertrag meiner
Bücher | zu verzichten.
Auf jeden Fall muß sich doch in Erfahrung bringen
lassen bis wann die Angelegenheit erledigt sein kann. Diese Auskunft wäre mir um
so werthvoller je rascher ich sie erhalte, sonst kostet mich schließlich die
Erwartung der Erbschaft mehr als mir die Erbschaft überhaupt einbringenDie Nichten und Neffen der verstorbenen Tante konnten „pro Erbe und Erbin eine Summe von 5000 bis 6000 Mark“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 199] erwarten. Wedekind ging von 10.000 Mark aus [vgl. Wedekind an Walther Oschwald, 16.3.1900]. kann.
Mit den herzlichsten Grüßen an Euch Alle
Dein
Frank.
München 15. März 1900
Hotel
Bamberger Hof