Kennung: 318

München, 15. Mai 1914 (Freitag), Brief

Autor*in

  • Halbe, Max

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

[1. Briefentwurf:]


Lieber Frank,

Du wirst nun fünfzig Jahre alt. Es ist sehr hübsch, daß vor zwei Jahren auf Anordnung einer höheren/r/ Stellen die Feier des fünfzigsten Geburtstages deutscher Schriftsteller Dichter in den Hausgebrauch des deutschen Volkes aufgenommen worden ist. Sicher ist sicher, und sechzig oder gar siebzig alt zu werden, wird nur den Wenigsten/en/ +++ von uns beschieden sein. Auch weiß niemand, wie es er in zehn J oder zwanzig Jahren von den vor dem dann grade herrschenden Geschmack bestehen wird. Der Verbrauch an Richtungen, Strömungen und den verschiedenartigsten Ismen wächst von Tag zu Tag. mit großer Geschwindigkeit. Man tut gut, die Früchte an seinem/s/ Lebensbäumchens in seine Körbe zu füllen auch wenn sie noch ein bischen unreif sind, ehe sie der ehe der Hagel der Kritik +++ sie nicht ganz heruntergeschlägen/t/Schreibversehen (irrtümlich „ge“ nicht gestrichen), statt: herunterschlägt.. werden. So stellt sich jene Anordnung höherer Stellen, die den Beginn der offiziellen Erntezeit für uns Literaten vom sechzigsten auf das fünfzigste Jahr verlegt hat, als eine sehr weise Maßregel von hoher Weisheit dar, und gleicht eben jenen den Regungen im menschlichen Organismus vergleichbar, die man als automatischen Selbstschutz des Körpers bezeichnet, und kommt in der Folge wie auch denen zugute, für die er vielleicht gar nicht berechnet war. |

Ich sehe Dich bedeutungsvoll den Mund verziehen und weiß, daß wir uns verstehen.

Du wirst nun also fünfzig Jahre alt, und selbst Deine Feinde, deren du ja wohl einige Schock besitzen magst, selbst wenn man dreizehn davon auf’s Dutzend rechnet, werden Dir zugestehen, daß in diesen fünfzig Jahren so viel Mühe und Arbeit gewesen ist, wie bei manchem andern kaum in siebzig oder achtzig, nach dem bib/Bib/lischen Wort, das uns allen geläufig ist. Wir können Dich also getrost so behandeln als ob Du wirklich schon das Patriarchenalter erreicht hättest, und können ein bischen das Fazit Deines Lebens ziehen. Nur mußt du mir erlauben, daß ich es nicht planmäßig wie ein bestellter vereidigter Bücherrevisor tue. Ich möchte vielmehr nur so nebenbei ein paar Posten aus Deinem Lebenskonto herausgreifen, die dann als Probe auf’s Exempel eigentlich wieder die Richtigkeit der Gesamtrechnung ergeben bestätigen müßten. Diese selbst aber aufzustellen überlasse ich den dazu eingesetzten Beamten an den Großbanken der öffentlichen Meinung die man Zeitungen nennt. Es möchte sonst dieses Geburtstagsbriefchen leicht zu einem Feuilleton ausarten und hiezu langt erstens die Zeit nicht mehr und zweitens müssen wir mit unserer Arbeitskraft noch etwas notgedrungen haushalten, auch um auch für andere fünfzigste, sechzigste und siebzigste | Geburtstage noch etwas übrig zu haben behalten.

Du wirst also wirklich fünfzig Jahre alt. Vierundzwanzig davon habe ich die Freude (und manchmal auch den Ärger, doch davon sprechen wir heute nicht), Dich zu kennen. Als wir uns zum erstenmal gegenüber saßen befanden und im Feuer der Jugend Salutschüsse wechselten, hatte ich nach einer Stunde den Eindruck, es mit einem Menschen von ganz ungewöhnlicher und fast unglaubhafter Zielbewußtheit und inneren/er/ Geschlossenheit zu tun zu haben. Die deutsche Welt stand damals am Vormittag des großen naturalistischen Revolutionstages. Man bereitete rüstete sich grade zum entscheidenden Bastillensturm. Niemand von uns Jungen durfte beiseite stehen. Alle Kräfte wurden gebraucht. Denn der Feind war sehr stark. Viel stärker, als die heutige Jugend es ahnt. Das Thema des Tages sprang zwischen uns auf wie der Funke den Kontakt. Da sprachst Du Deine entgegengesetzte Meinung aus, stelltest Deinen eigenen Standpunkt, Deine persönliche Politik wider das Zeitgebot. Der Abend schloß mit offener Feindschaft und vielem Bier. Aber am nächsten Abend saßen wir wieder zusammen und der Wechselstrom der Kräfte, der Anziehungen und Abstoßungen, begann von neuem sein Spiel, mit der gleichen Wirkung wie Tags zuvor. So eine Reihe von Abenden. lang. Das Resultat war doch eine von eine Lebens-, Kampf- und Interessengemeinschaft, die auch in schlimmsten Jahren der Entfremdung | immer noch unauslöschlich in uns eingeschrieben blieb.

Zweierlei haftet mir bis heute von jenem Abend, beleuchtet vom ungewissen Kerzenflimmern, das um unsere heißen Köpfe irrlichterte. Das eine sagte ich schon: die innere Zielsicherheit, mit der Ich Du schon damals Dich und immer wieder Dich an das Ende aller Beweisreihen stelltest, die eine Genialität des Gehirns, des Intellekts, die in ihrer fast monomanischen Einseitigkeit oft etwas gradezu Verbohrtes, etwas unbedingt zum Widerspruch Reizendes und dann doch wieder Verblüffendes und manchmal Bezwingendes hatte.

Das Andere – Ibsen hätte es das „Liebenswürdige an Jakob Engstrand genannt – war ein gewisser jünglingshafter, beinahe noch gymnasiastischer Ueberschwang im ... wie soll ich sagen? ... im Freundschaftsgefühl. Er war es vor wohl vor allem, der uns zusammenführte und alle die Hemmungen, das Knirschen der beiden noch nicht mit einander abgepaßten Räderwerke überwinden half. Was uns beiden freilich damals der Schleier der Maja verbarg: daß es im Grunde nur ein Streit um Worte, um Formeln, um Ip I-Punkte zwischen uns war und daß der Naturalismus, den der eine meinte und den der andere schlug, nur ein Trugbild war, das sie beide narrte, und daß der Naturalist im Grunde ein Individualist war und der Individualist ein Naturalist, wenn auch in einem ganz anderen Sinne, als damals | die Schulauslegung des Wortes zulassen wollte.

Ich sehe Dich bedenklich die Stirn runzeln, denn das Wort Naturalist hat immer ein bischen wie ein rotes Tuch auf Dich gewirkt, und nun wird es Dir gar als ein freundliches Angebinde auf den Geburtstagstisch des halben Jahrhunderts gelegt. Aber vergiß nicht, daß auch Lenz und Wagner Büchner und der Goethe des Sturms und Drangs Naturalisten waren, wenn auch in der ganzen Weite und Erdenfülle des Wortes im Gegensatz zu der fast philologischen Enge und Spießbürgerlichkeit, in das man es hineinpressen wollte zu der Zeit, als wir beide mit heißen Köpfen beim Flackerlicht der Kerzen zum erstenmal darüber debattierten. Und darum hattest Du recht, als Du Dich mit Händen und Füßen dagegen wehrtest, aber auch ich hatte recht, denn ich meinte etwas ganz anderes damit, als was es grade im Augenblick bedeutete. Und die Hauptsache war, daß es nicht beim bloßen Debattieren blieb, sondern daß auch etwas getan wurde und daß etwas geschah.

Das ist nun vierundzwanzig Jahre her und das halbe Jahrhundert will sich Dir runden. Es hat sich sehr vieles in dieser Zeit zugetragen und gewandelt, und die Welt hat sich beinahe wieder einmal ungefähr eine halbe Drehung um sich selbst gedrehtmacht seitdem, denn sie befindet sich so ziemlich auf dem entgegengesetzten Ende d wie damals. Was damals unten | war, ist jetzt oben, und oben ist unten, aber da das Rad unaufhaltsam g weitergeht, so kann auß wird nach abermals einem Vierteljahrhundert unten vermutlich wieder oben sein. Du hast es Dir nicht leicht gemacht im Leben und Dich nicht sozusagen nicht mit anmutiger Leichtigkeit Lässigkeit gleichsam von selbst hinauftragen lassen. Du hast oft der Bewegung nach oben sogar eher Widerstand geleistet, vermöge jenes Characterzuges, den ich wie gesa – wie schon erwähnt – am ersten Abend unserer Lebensbeziehung an Dir zu entdecken glaubte, vermöge jener ideologischen Geschlossenheit, jener – verzeih das Wort! – fast monomanen Einseitigkeit, und die das gemeinsame Kennzeichen von Genie und Irrsinn ist, und hast doch vielleicht grade dadurch die Speichen des Rades, das Dich mehr als einmal zermalmen wollte, immer wieder unter Dich gezwungen.

Das Du stehst jetzt auf der Höhes des Rades, das sich dreht, und bist jetzt auch für diejenigen sichtbar, die immer erst Augen bekommen, wenn etwas verbrieft und besiegelt in den Zeitungen zu lesen ist, womit es dann, unserem Freunde Franz Blei zufolge, auch schon so gut wie begraben ist. Ich denke nicht wie Franz Blei und glaube nicht, daß der Erfolg der Anfang vom Ende ist. Aber ich gehöre auch nicht zu denen, die erst, wenn | der Erfolg Sieg schon in den Zeitungen steht, Hosianna rufen, nachdem sie eben erst zu kreuzigen versucht hatten. Ich weiß, daß ich Deinem Wesen und Wollen, Deinem Tiefsten und Eigensten schon nahegestanden habe und dafür eingetreten bin, als es noch nicht ganz so bequem war dies zu tun, wie es heute ist, und ich weiß auch, daß Du umgekehrt es genau ebenso mir gegenüber gehalten hast und es ganz besonders auch heute so hältst, wo es vielleicht gar nicht so besonders bequem ist, dies zu tun.

Das Bewußtsein muß zwischen uns beiden genügen. Es fließt aus dem andern Hauptwesenszuge, den ich an jenem ersten Abend beim flackernden Kerzenlicht an Dir zu entdecken glaubte, aus dem tief quellenden Freundschaftsdrang, der wenn mich nicht alles trügt, noch geheim in dem schon ein wenig ergrauenden Manne lebt, wie er einst mit Macht jünglingshaft, fast noch gymnasiastisch aus dem Zwanziger hervorbrach.

In diesem und jenem Sinne, als den Dichter, der sich selbst treu blieb, und als den Menschen, der dem andern treu blieb, trotz aller W Irrnisse und Wirrnisse, die sie entfremdeten und trennten, grüße ich Dich heute
als Dein Dir ebenso getreuer
Max Halbe


München am 15 Mai 1914Max Halbe hat den als Brief an Wedekind aufgesetzten Beitrag für das „Wedekindbuch“ (1914) überwiegend am 15.5.1914 geschrieben, abgeschlossen, ihn Eduard von Keyserling vorgelesen und spät abends noch Wedekind getroffen: „Den ganzen Tag am Wedekind-Artikel gesessen u. ihn abends auch glücklich beendigt. [...] bei Keyserling [...]. Ich lese ihm den W.-Aufsatz vor, der ihm sehr gut gefällt. [...] Den Abend mit Kutscher bei Michel beschlossen, wo wir Wedekind trafen.“ [Tb Halbe] Wedekind wurde der offene Brief erst am 24.6.1914 auf der vorgezogenen Feier zu seinem 50. Geburtstag im Bayerischen Hof in München bekannt, wo Max Halbe ihn vorlas: „Rede für das heute abend stattfindende Wedekind-Bankett etwa überdreht. [...] Kurzer Abendspaziergang. Dann Wedekind-Bankett im Bayer. Hof. Etwa 100 Personen. Meist Litteratur u. Theater. Ich saß neben dem Generalintend. von Frankenstein, sprach als zweiter zunächst für den Schutzverband gegen die Censur, dann zu eigenen Themen, indem ich den Brief an W. vortrug. Wedek. selbst sprach für die Schriftsteller“ [Tb Halbe].


[2. Typoskript:]


Lieber Frank!

Du wirst nun fünfzig Jahre alt. Es ist sehr hübsch, dass vor zwei Jahren auf Anordnung höherer Stellen die Feier des fünfzigsten Geburtstages deutscher Dichter in den Hausgebrauch des deutschen Volkes aufgenommen worden ist. Sicher ist sicher, und fünfsechzig oder gar siebzig alt zu werden, wird nur wenigen von uns beschieden sein. Auch weiss niemand, wie er in zehn oder zwanzig Jahren vor dem dann gerade herrschenden Geschmack bestehen wird. Der Verbrauch an Richtungen, Strömungen und den verschiedenartigsten Ismen wächst von Tag zu Tag. Man tut gut, die Früchte seines Lebensbäumchens in Körbe zu füllen, ehe der Hagel der Kritik sie ganz herunterschlägt. So stellt sich jene Anordnung höherer Stellen die den Beginn der offiziellen Erntezeit für uns Litteraten vom fünfsechzigsten auf das fünfzigste Jahr verbracht/legt/ hat, als eine Massregel von hoher Weisheit dar, der den Regu/Vorgä/ngen im menschlichen Organismus vergleichbar, die man als automatischen Selbstschutz des Körpers bezeichnet, und kommt in der Folge auch denen zugute, für die er vielleicht garnicht berechnet war.

Ich sehe Dich bedeutungsvoll den Mund verziehen und weiss, dass wir uns verstehen.

Du wirst nun also fünfzig Jahre alt, und selbst Deine Feinde, deren Du ja wohl einige Schock besitzen magst, selbst wenn man dreizehn davon aufs Dutzend rechnet, | werden Dir zugestehen, dass in diesen fünfzig Jahren so viel Mühe und Arbeit gewesen ist, wie bei manchem andern kaum in siebzig oder achtzig, nach dem biblischen Wort, das uns allen geläufig ist. Wir können Dich also getrost so behandeln als ob Du r wirklich schon das Patriarchenalter erreicht hättest, und können ein bischen das Fazit Deines Lebens ziehen. Nur musst Du mir erlauben, dass ich es nicht planmässig wie ein vereidigter Bücherrevisor tue. Ich möchte vielmehr nur so nebenbei ein paar Posten aus Deinem Lebenskonto herausgreifen, die dann als Porbe/Probe/ auf’s Exempel eigentlich wieder die Richtigkeit der Gesamtrechnung bestätigen müssten. Diese selbst aber aufzustellen überlasse ich den dazu eingesetzten Beamten an den Grossbanken der öffentlichen Meinung, die man Zeitungen nennt. Es möchte sonst dieses Geburtstagsbriefchen leicht zu einem Feuilleton ausarten und hiezu langt erstens die Zeit nicht mehr und zweitens müssen wir mit unserer Arbeitskraft notgedrungen haushalten, um auch für andere fünfzigste, sechzigste und siebzigste Geburtstage noch etwas übrig zu behalten.

Du wirst also wirklich fünfzig Jahre alt. Vierundzwanzig davon habe ich die Freude<masch> (und manchmal auch den Aerger, doch davon sprechen wir heute nicht), Dich zu kennen. Als wir uns zum erstenmal gegenüber befanden und im Feuer der Jugend Sab/l/utschüsse wechselten, hatte ich nach einer Stunde den Eindruck, es mit einem Menschen von ganz ungewöhnlicher und fast unglaubhaften/r/ SelbstbZielbewusstheit und innerer Geschlossenheit zu tun zu haben. Die deutsche Welt | stand damals am Vormittag des grossen naturalistischen Revolutionstages. Man rüstete sich gerade zum entscheidenden Bastillensturm. Niemand von uns Jungen durfte beiseite stehen. Alle Kräfte wurden gebraucht. Denn das/er/ Feuer/ind/ war sehr stark. Viel stärker, als die heutige Jugend es ahnt. Das Thema des Tages sprang zwischen uns auf wie der Funke den/am/ Kontakt. Da sprachst Du Deine entgegengesetzte Meinung aus, stelltest Deinen eigenen Standpunkt, Deine persönliche Politik wider das Zeitgebot. Der Abend schloss mit offener Feindschaft und vielem Bier. Aber am nächsten Abend sassen wir wieder zusammen und der Wechselstrom der Kräfte, der Anziehungen und Abstossungen, begann von neuem sein Spiel, mit der gleichen Wirkung wie Tags zuvor. So eine Reig/h/e von Abenden. Das Resultat war doch eine Lebens-, Kampf- und Interessengemeinschaft, die auch in schlimmsten Jahren der Entfremdung immer noch unauslöschlich in uns eingeschrieben blieb.

Zweierlei haftet mir bis heute von jenem Abend, beleuchtet von/m/ ungewissen Kerzenflimmern, das vor/um/ unseren heissen Köpfen irrlichterte. Das eine sagte ich schon: Die innere Zielsicherheit, mit der Du schon damals Dich und immer wieder Dich an das Ende aller b/B/eweisreichen stelltest, eine Genialität des Gehirns, des Intellekts, die in ihrer sonst fast monomanischen Einseitigkeit oft etwas geradezu Verbohrtes, etwas unbedingt zum Widerspruch Reizendes und dann doch wieder Verblüffendes und manchmal Bezwingendes hatte.

Das Andere – Ibsen hätte es das „Liebenswürdige an | Jakob Be/En/gstrand“ genannt – war ein gewisser, jünglingshafter, beinahe noch p/g/ymnasiastischer Ueberschwang im ... wie soll ich sagen? ... im Freundschaftsgefühl. Er war es wohl vor allem, der uns zusammenführte und alle die Hemmungen, das Knirschen der beiden noch nicht miteinander abgepassten Räderwerke erwidern/überwinden/ half. Was uns beiden freilich damals der Schleier der Maja verbarg: dass es im Grunde nur ein Streit um Worte, um Formeln, um I-Punkte zwischen uns war und dass der Naturalismus, den der eine meinte und den der andere schlug, nur ein Trugbild war, das sie beide narrte, und dass der Naturalist im Grunde ein Individualist war und der Individualist ein Naturalist, wenn auch in einem ganz anderen Sinne, der/als/ damals die Schulauslegung des Wortes zulassen wollte.

Ich sehe Dich bedenklich die Stirn runzeln, denn das Wort Naturalist hat immer ein bischen wie ein rotes Tuch auf Dich gewirkt, und nun wird es Dir gar als ein freundliches Angebinde auf den Geburtstagstisch des halben Jahrhunderts gelegt. Aber vergiss nicht, dass auch Lenz und Bücher/ner/ und der Goethe des Stroms/urms/ und Di/r/angs Naturalisten waren, wenn auch in der ganzen Weite und Erdenfülle des Wortes im Gegensatz zu der fast philologischen Enge und Spiessbürgerlichkeit, in das man es hineingi/pr/essen wollte, zu der Zeit als wir beide mit heissen Köpfen beim Flackerlicht der Kerzen zum erstenmal darüber debattierten. Und darum hattest Du recht, als Du Dich mit Händen und Füssen dagegen wehrtest, aber auch ich hatte recht, denn | ich meinte etwas ganz anderes damit, als was es grade im Augenblick bedeutete. Und die Hauptsache war, dass es nicht beim blossen Debattieren blieb, sondern dass auch etwas getan wurde und dass etwas geschah.

Das ist nun vierundzwanzig Jahre her und das halbe Jahrhundert will sich Dir runden. Es hat sich sehr vieles in dieser Zeit zugetragen und gewandelt und die Welt hat ungefähr eine halbe Drehung um sich selbst gemacht seitdem, denn sie befindet sich so ziemlich auf dem entgegengesetzten Ende wie damals. Was damals unten war, ist jetzt oben, und oben ist unten, aber da das Rad unaufhaltsam weiter geht, so wird nach abermals einem Vierteljahrhundert unten vermutlich dann wieder oben sein. Du hast es Dir nicht leicht gemacht im Leben und Dich nicht mit anmutiger Lust/äss/igkeit gleichsam von selbst hinauftragen lassen. Du hast oft der Bewegung nach oben sogar eher Widerstand geleistet, vermöge jenes Charakterzuges, den ich – wie schon erwähnt – am ersten Abend unserer Lebensbeziehung an Dir zu entdecken glaubte, vermöge jener ideologischer Geschlossenheit, jener – verzeih das Wort! – fast monomanen Einseitigkeit, die das gemeinsame Kennzeichen von Genie und Irrsinn ist, und hast doch vielleicht gerade dadurch die Speichen des Rades, das Dich mehr als einmal zermalmen wollte, immer wieder unter Dich gezwungen.

Du stehst jetzt auf der Höhe des Rades, das sich dreht, und bist jetzt auch für den/ie/jenigen sichtbar, die immer erst Augen bekommen, wenn etwas verbrieft und besiegelt in | den Zeitungen zu lesen ist, womit es dann, unserem Freunde Franz Blei zufolge, auch schon so gut wie begraben ist. Ich denke nicht wie Franz Blei und glaube nicht, dass der Erfolg der Anfang vom Ende ist. Aber ich gehöre auch nicht zu denen, die erst wenn der Sieg schon in den Zeitungen steht, Be/Ho/sianna rufen, nachdem sie eben erst zu Wennzü/Kreuzi/gen versucht hatten. Ich weiss, dass ich Deinem Wesen und Wollen, Deinem Tiefsten und Eigensten schon nahegestanden habe und dafür eingetreten bin, als es noch nicht ganz so bequem war dies zu tun, wie es heute ist, und ich weiss auch, dass Du umgekehrt es genau ebenso mir gegenüber gehalten hast und es ganz besonders auch heute so hältst, wo es vielleicht gar nicht so besonders bequem ist, dies zu tun.

Das/Dies/ Bewusstsein muss zwischen uns beiden genügen. Es fliesst aus dem A/a/ndern Hauptwesenszü/u/ge, den ich an jenem ersten Abend beim flackernden Kerzenlicht an Dir zu entdecken glaubte, aus dem tief quellenden Freundschaftsdrang, der, wenn mich nicht alles trügt, noch geheim in dem schon ein wenig ergrauenden Manne lebt, wie es/r/ einst mit Mark/cht/ jünglingss/h/aft, fast noch gymnasiastisch aus dem Zwanziger hervorbrach.

In diesem und jenem Sinne, als den Dichter, der sich selbst treu blieb, und als den Menschen, der dem andern treu blieb, trotz aller Do/Ir/rnisse und Wirrnisse, die sie entfremdeten und trennten, grüsse ich Dich heute
als Dein Dir ebenso getreuer
Max Halbe.


München, am 15. Mai 1914.


[3. Druck:]


Lieber Frank!

Du wirst nun fünfzig Jahre altWedekinds 50. Geburtstag am 24.7.1914 wurde am 24.6.1914 auf einer vorgezogenen Feier, dem „50 Geburtstagsbankett“ [Tb], im Hotel Bayerischer Hof in München (Promenadeplatz 19) begangen, wo ihm das von Joachim Friedenthal im Georg Müller Verlag in München herausgegebene „Wedekindbuch“ (1914) in einem ersten Exemplar als Ehrengabe überreicht wurde, in dem der vorliegende Brief gedruckt ist, den Max Halbe vorlas: „Als Freund Wedekinds las er [...] einen Brief an Wedekind vor, der in einer bei Georg Müller erscheinenden Wedekind-Publikation enthalten sein wird. Halbe schildert darin eingehend sein persönliches Verhältnis zu Wedekind, mit dem ihn seit 24 Jahren starke Freundschaft verbindet. [...] Dr. Friedenthal überreichte dem Dichter das erste Exemplar seines Wedekind gewidmeten Gedenkbuches“ [Vorfeier von Wedekinds 50. Geburtstag. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 67, Nr. 321, 26.6.1914, Vorabendblatt, S. 3].. Es ist sehr hübsch, daß vor zwei Jahren auf Anordnung höherer StellenZusammenhang nicht ermittelt; möglicherweise ironische Anspielung auf die zahlreichen öffentlichen Würdigungen zu Gerhart Hauptmanns 50. Geburtstag am 15.11.1912. die Feier des fünfzigsten Geburtstages deutscher Dichter in den Hausgebrauch des deutschen Volkes aufgenommen worden ist. Sicher ist sicher, und sechzig oder gar siebzig alt zu werden, wird nur wenigen von uns beschieden sein. Auch weiß niemand, wie er in zehn oder zwanzig Jahren vor dem dann gerade herrschenden Geschmack bestehen wird. Der Verbrauch an Richtungen, Strömungen und den verschiedenartigsten Ismen wächst von Tag zu Tag. Man tut gut, die Früchte seines Lebensbäumchens in Körbe zu füllen, ehe der Hagel der Kritik sie ganz herunterschlägt. So stellt sich jene Anordnung höherer Stellen, die den Beginn der offiziellen Erntezeit für uns Literaten vom sechzigsten auf das fünfzigste Jahr verlegt hat, als eine Maßregel von hoher Weisheit dar, den Vorgängen im menschlichen Organismus vergleichbar, die man als automatischen SelbstschutzGifte könnten zu einem „automatischen Selbstschutz des Organismus“ [Zentralblatt für die gesamte innere Medizin und ihre Grenzgebiete (Kongresszentralblatt). Berlin 1913, S. 159] führen, also immunisieren. des Körpers bezeichnet, und kommt in der Folge auch denen zugute, für die er vielleicht gar nicht berechnet war.

Ich sehe Dich bedeutungsvoll den Mund verziehen und weiß, dass wir uns verstehen.

Du wirst nun also fünfzig Jahre alt, und selbst Deine Feinde, deren Du ja wohl einige SchockMaßeinheit für Stückmengen: 1 Schock = 5 Dutzend = 60 Stück. besitzen magst, selbst wenn man dreizehn davon aufs Dutzendhumoristisch gemeinte Übertreibung; ein Dutzend bezeichnet eine Stückzahl von 12, nicht 13. rechnet, werden Dir zugestehen, daß in diesen fünfzig Jahren so viel Mühe und Arbeit gewesen ist, wie bei manchem anderen kaum in siebzig oder achtzig, nach dem biblischen Wortvorangehend das Bibelzitat, ein geflügeltes Wort: „Psalm 90, 10 steht der oft citirte Vers: Unser Leben währet siebenzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.“ [Büchmann 1879, S. 14], das uns allen geläufig ist. Wir können Dich also getrost so behandeln als ob Du wirklich schon das Patriarchenalterein sehr hohes Alter; sprichwörtlich nach den biblischen Patriarchen im Alten Testament [vgl. 1. Mose 5, 3-32]. erreicht hättest, und können ein bißchen das Fazit Deines Lebens ziehen. Nur mußt Du mir erlauben, daß ich es nicht planmäßig wie ein vereidigter Bücherrevisor tue. Ich möchte vielmehr nur so nebenbei ein paar Posten aus Deinem Lebenskonto herausgreifen, die dann als Probe aufs Exempel eigentlich wieder die Richtigkeit der Gesamtrechnung bestätigen müßten. Diese selbst aber aufzustellen, überlasse ich den dazu eingesetzten Beamten an den Großbanken der öffentlichen Meinung, die man Zeitungen nennt. Es möchte sonst dieses Geburtstagsbriefchen leicht zu einem Feuilleton ausarten, und hierzu langt erstens die Zeit nicht mehr, und zweitens müssen wir mit unserer Arbeitskraft notgedrungen haushalten, um auch für andere fünfzigste, sechzigste und siebzigste Geburtstage noch etwas übrig zu behalten.

Du wirst also wirklich fünfzig Jahre alt. Vierundzwanzig davonvon 1914 zurückgerechnet Hinweis auf das Jahr 1890. Max Halbe hat Wedekind im Sommer 1890 in München kennengelernt, „im Münchner Regensommer 1890. Wedekind zählte sechsundzwanzig, ich etwa fünfundzwanzig.“ [Halbe 1935, S. 303] habe ich die Freude (und manchmal auch den Aerger, doch davon sprechen wir heute nicht), Dich zu kennen. Als wir uns zum erstenmal gegenüberbefanden und im Feuer der Jugend Salutschüsse wechselten, hatte ich nach einer Stunde den Eindruck, es mit einem Menschen von ganz ungewöhnlicher und fast unglaubhafter Zielbewußtheit und inneren Geschlossenheit zu tun zu haben. Die deutsche Welt stand damals am Vormittag des großen naturalistischen RevolutionstagesAnspielung auf um 1890 verbreitete Vorstellungen vom Naturalismus als einer literarischen Revolution, gebündelt etwa im Titel der einschlägigen Broschüre „Revolution der Literatur“ (1886) von Karl Bleibtreu.. Man rüstete sich gerade zum entscheidenden BastillensturmFortführung der Revolutionsmetapher für den Naturalismus (siehe oben) durch Bezug auf den Sturm auf die Bastille 1789 als Auftakt der Französischen Revolution.. Niemand von uns Jungen durfte beiseite stehen. Alle Kräfte wurden gebraucht. Denn der Feind war sehr stark. Viel stärker, als die heutige Jugend ahnt. Das Thema des Tages sprang zwischen uns auf wie der Funke am Kontakt. Da sprachst Du Deine entgegengesetzte Meinung aus, stelltest Deinen eigenen Standpunkt, Deine persönliche Politik wider das Zeitgebot. Der Abend schloß mit offener Feindschaft und vielem Bier. Aber am nächsten Abend saßen wir wieder zusammen, und der Wechselstrom der Kräfte, der Anziehungen und Abstoßungen, begann von neuem sein Spiel, mit der gleichen Wirkung wie tags zuvor. So eine Reihe von Abenden. Das Resultat war doch eine Lebens-, Kampf- und Interessengemeinschaft, die auch in schlimmsten Jahren der Entfremdung immer noch unauslöschlich in uns eingeschrieben blieb.

Zweierlei haftet mir bis heute von jenem Abend, beleuchtet vom ungewissen Kerzenflimmern, das um unsere heißen Köpfe irrlichterte. Das eine sagte ich schon: die innere Zielsicherheit, mit der Du schon damals Dich und immer wieder Dich an das Ende aller Beweisreihen stelltest, eine Genialität des Gehirns, des Intellekts, die in ihrer fast monomanischen Einseitigkeit oft etwas geradezu Verbohrtes, etwas unbedingt zum Widerspruch Reizendes und dann doch wieder etwas Verblüffendes und manchmal Bezwingendes hatte.

Das andere – Ibsen hätte es das „Liebenswürdige an Jakob EngstrandZitat aus Henrik Ibsens Drama „Gespenster“ (1. Akt): „Das ist das liebenswürdige an Jakob Engstrand, daß er so vollständig hülflos zu Einem kommt und sich selbst anklagt und seine Schwächen bekennt.“ [Henrik Ibsen: Gespenster. Ein Familiendrama in drei Akten. Deutsch von A. Zinck. Berlin 1890, S. 25]“ genannt – war ein gewisser jünglingshafter, beinahe noch gymnasiastischer UeberschwangMax Halbe war der Ansicht, dass Wedekind „in der Freundschaft ein ewiger Gymnasiast blieb“ [Halbe 1935, S. 324]. im ... wie soll ich sagen? ... im Freundschaftsgefühl. Er war es wohl vor allem, der uns zusammenführte und alle die Hemmungen, das Knirschen der beiden noch nicht miteinander abgepaßten Räderwerke überwinden half. Was uns beiden freilich damals der Schleier der MajaBild für Täuschung, Illusion und verhüllte Wahrheit aus der indischen Philosophie; Arthur Schopenhauer zufolge „ist der Schleier der Maja durchsichtig geworden“ [Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. 6. Aufl. Bd. 1. Leipzig 1887, S. 441], ein Wedekind bereits durch Olga Plümacher vertrauter Gedanke, die ihm seinerzeit ihren Traum vom „Riß im Schleier der Maja“ [Olga Plümacher an Wedekind, 30.6.1884] erzählte. verbarg: daß es im Grunde nur ein Streit um Worte, um Formeln, um I-Punkte zwischen uns war, und daß der Naturalismus, den der eine meinte und den der andere schlug, nur ein Trugbild war, das sie beide narrte, und daß der Naturalist im Grunde ein Individualist war und der Individualist ein Naturalist, wenn auch in einem ganz anderen Sinne, als damals die Schulauslegung des Wortes zulassen wollte.

Ich sehe Dich bedenklich die Stirn runzeln, denn das Wort Naturalist hat immer ein bißchen wie ein rotes Tuch auf Dich gewirkt, und nun wird es Dir gar als ein freundliches Angebinde auf den Geburtstagstisch des halben Jahrhunderts gelegt. Aber vergiß nicht, daß auch Lenz und Büchner und der Goethe des Sturmes und DrangesSturm und Drang, in der Literaturgeschichte Bezeichnung für eine Gruppe von Schriftstellern der 1770er Jahre, zu denen der genannte J. M. R. Lenz, Heinrich Leopold Wagner (von Max Halbe im Briefentwurf genannt, dann gestrichen und durch Büchner ersetzt) und der junge Goethe gehörten, nicht aber Georg Büchner, der durch sein Prosafragment „Lenz“ aber in der Nachfolge des Sturm und Drang verortet wurde. Naturalisten waren, wenn auch in der ganzen Weite und Erdenfülle des Wortes, im Gegensatz zu der fast philologischen Enge und Spießbürgerlichkeit, in das man es hineinpressen wollte, zu der Zeit, als wir beide mit heißen Köpfen beim Flackerlicht der Kerzen zum erstenmal darüber debattierten. Und darum hattest Du recht, als Du Dich mit Händen und Füßen dagegen wehrtest, aber auch ich hatte recht, denn ich meinte etwas ganz anderes damit, als was es gerade im Augenblick bedeutete. Und die Hauptsache war, daß es nicht beim bloßen Debattieren blieb, sondern daß auch etwas getan wurde und daß etwas geschah.

Das ist nun vierundzwanzig Jahre her, und das halbe Jahrhundert will sich Dir runden. Es hat sich sehr vieles in dieser Zeit zugetragen und gewandelt, und die Welt hat ungefähr eine halbe Drehung um sich selbst gemacht seitdem, denn sie befindet sich so ziemlich auf dem entgegengesetzten Ende wie damals. Was damals unten war, ist jetzt oben, und oben ist unten, aber da das Rad unaufhaltsam weitergeht, so wird nach abermals einem Vierteljahrhundert unten vermutlich wieder oben sein. Du hast es Dir nicht leicht gemacht im Leben und Dich nicht mit anmutiger Lässigkeit gleichsam von selbst hinauftragen lassen. Du hast oft der Bewegung nach oben sogar eher Widerstand geleistet, vermöge jenes Charakterzuges, den ich – wie schon erwähnt – am ersten Abend unserer Lebensbeziehung an Dir zu entdecken glaubte, vermöge jener ideologischen Geschlossenheit, jener – verzeih das Wort! – fast monomanen Einseitigkeit, die das gemeinsame Kennzeichen von Genie und IrrsinnAnspielung auf ein zeitgenössisch populäres Deutungsmuster künstlerischer Produktivität (‚Genie und Wahnsinn‘), das auf die Rezeption von Cesare Lombrosos Buch „Genio e follia“ (1872) zurückgeht, 1887 in deutscher Übersetzung als „Genie und Irrsinn“ erschienen. ist, und hast doch vielleicht gerade dadurch die Speichen des Rades, das Dich mehr als einmal zermalmen wollte, immer wieder unter Dich gezwungen.

Du stehst jetzt auf der Höhe des Rades, das sich dreht, und bist jetzt auch für diejenigen sichtbar, die immer erst Augen bekommen, wenn etwas verbrieft und besiegelt in den Zeitungen zu lesen ist, womit es dann, unserem Freunde Franz Blei zufolge, auch schon so gut wie begraben ist. Ich denke nicht wie Franz Blei und glaube nicht, daß der Erfolg der Anfang vom Ende ist. Aber ich gehöre auch nicht zu denen, die erst, wenn der Sieg schon in den Zeitungen steht, Hosianna rufenAuftakt des Bibelzitats zum Einzug Jesu nach Jerusalem – das ‚Hosianna‘ [vgl. Matthäus 21,9] – zum Aufruf zur nachfolgenden Kreuzigung – ‚kreuziget ihn‘ [vgl. Matthäus 27,22-23; Johannes 19,6; Lukas 23,21] – in umgekehrter Reihenfolge imaginiert, den Schriftsteller als Christusfigur mit ihrer Leidensgeschichte ins Bild setzend., nachdem sie eben erst zu kreuzigen versucht hatten. Ich weiß, daß ich Deinem Wesen und Wollen, Deinem Tiefsten und Eigensten schon nahegestanden habe und dafür eingetreten bin, als es noch nicht ganz so bequem war, dies zu tun, wie es heute ist, und ich weiß auch, daß Du umgekehrt es genau ebenso mir gegenüber gehalten hast und es ganz besonders auch heute so hältst, wo es vielleicht gar nicht so besonders bequem ist, dies zu tun.

Dies Bewußtsein muß zwischen uns beiden genügen. Es fließt aus dem anderen Hauptwesenszuge, den ich an jenem ersten Abend beim flackernden Kerzenlicht an Dir zu entdecken glaubte, aus dem tief quellenden Freundschaftsdrang, der, wenn mich nicht alles trügt, noch geheim in dem schon ein wenig ergrauenden Manne lebt, wie er einst mit Macht jünglingshaft, fast noch gymnasiastisch, aus dem Zwanziger hervorbrach.

In diesem und in jenem Sinne, als den Dichter, der sich selbst treu blieb, und als den Menschen, der dem anderen treu blieb, trotz aller Irrnisse und Wirrnisse, die sie entfremdeten und trennten, grüße ich Dich heute
als Dein Dir ebenso getreuer
Max Halbe.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 13 Blatt, davon 13 Seiten beschrieben

Schrift:
Briefentwurf: Kurrent. Typoskript: Maschinenschrift.
Schreibwerkzeuge:
Briefentwurf: Bleistift. Typoskript: Schreibmaschine. Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 22 x 28,5 cm. Briefentwurf: 7 Blatt, 7 Seiten beschrieben. Typoskript: 6 Blatt, 6 Seiten beschrieben.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Der handschriftliche Briefentwurf ist ab Seite 2 jeweils oben auf den Seiten paginiert: „–2–“, „–3–“, „–4–“, „–5–“, „–6–“, „–7–“ (nicht wiedergegeben). Seite 7 enthält einen gedruckten Briefkopf „Dr. Max Halbe München Wilhelmstraße 2“ (nicht wiedergegeben). Die handschriftlichen Korrekturen im Typoskript, das ab Seite 8 oben mit den Ziffern „2“ bis „6“ paginiert ist (nicht wiedergegeben), sind von Max Halbe (?) mit Tinte in lateinischer Schrift, in einem Fall von fremder Hand mit Bleistift ausgeführt. Sofortkorrekturen mit Schreibmaschine sind hier nicht dargestellt.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 15.5.1914 ist als Ankerdatum gesetzt – nach dem im handschriftlichen Briefentwurf (und im Typoskript) vermerkten Schreibdatum des als offener Brief zu Wedekinds 50. Geburtstag am 24.7.1914 konzipierten Beitrags für das „Wedekindbuch“ (1914), das Joachim Friedenthal zu diesem Anlass herausgab. Max Halbe vermerkte am 12.5.1914 (Dienstag): „Bis Samstag muß ich meinen versprochenen Artikel für das Friedenthalsche Wedekind-Buch nun endlich fertig haben. Fr. rief mich heute mahnend, gewissenschärfend an. Diese fünfzigsten Geburtstage der Anderen!“ [Tb Halbe] Er hielt am 14.5.1914 (Donnerstag) fest: „Der Aufsatz für das Wedekind-Buch trat heute in sein Recht. Ich schrieb einen guten Anfang.“ [Tb Halbe] Der als Brief an Wedekind aufgesetzte Text wurde überwiegend am 15.5.1914 (Freitag) geschrieben, abgeschlossen und Eduard von Keyserling vorgelesen: „Den ganzen Tag am Wedekind-Artikel gesessen u. ihn abends auch glücklich beendigt. [...] bei Keyserling [...]. Ich lese ihm den W.-Aufsatz vor, der ihm sehr gut gefällt.“ [Tb Halbe]

Das „Wedekindbuch“ (siehe zum Erstdruck) mit dem darin gedruckten Geburtstagsbrief von Max Halbe wurde Wedekind auf der vorgezogenen Feier zu seinem 50. Geburtstag im Bayerischen Hof in München am 24.6.1914 überreicht; Max Halbe hat den Geburtstagsbrief auf dieser Feier vorgelesen, wie er am 24.6.1914 notierte: „Rede für das heute abend stattfindende Wedekind-Bankett [...] im Bayer. Hof. Etwa 100 Personen. [...] Ich [...] sprach als zweiter zunächst für den Schutzverband gegen die Censur, dann zu eigenen Themen, indem ich den Brief an W. vortrug.“ [Tb Halbe]

  • Schreibort

    München
    15. Mai 1914 (Freitag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Erstdruck

Das Wedekindbuch

Herausgeber:
Joachim Friedenthal
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1914
Seitenangabe:
171-176
Kommentar:
Der Brief ist im Erstdruck mit der Überschrift „Max Halbe“ versehen und undatiert.
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Max Halbe
Signatur des Dokuments:
L 3068
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Max Halbe an Frank Wedekind, 15.5.1914. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

18.10.2024 12:24