Kennung: 3168

Wien, 19. März 1909 (Freitag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Tilly

Inhalt

Geliebteste Tilly!

ich halte es für richtiger gleich nach Stuttgart weiterzufahrenWedekind hat seiner Frau am selben Tag in einen Telegramm mitgeteilt (siehe unten), er werde auf der Reise von Wien – am 19.3.1909 „Abfahrt von Wien“ [Tb] – in München keine Station machen, sondern gleich nach Stuttgart weiterfahren, wo am 21.3.1909 abends ein Vortrag stattfand (siehe unten). Er notierte am 20.3.1909: „Ankunft in München. Ich schreibe [...] in der Bahn. Ankunft in Stuttgart“ [Tb]., weil ich sonst doch morgen Nacht schon weiter müßte und wir bei dieser Hetzerei wohl wenig Annehmlichkeit von einander hätten. Auf der FahrSchreibversehen, statt: Fahrt. ‒ Wedekind war auf Vortragsreise, zu der er dem Tagebuch zufolge am 16.3.1909 von München aufgebrochen ist („Tilly begleitet mich zur Bahn Abfahrt von München“), um zunächst über Wien nach Budapest zu reisen, wo er am 17.3.1909 eintraf („Abfahrt von Wien. Ankunft in Budapest. Wohne Hotel Royal“), um dort abends einen Vortrag zu halten (siehe unten). von Wien nach Budapest schrieb ich einigesWedekind arbeitete an seinem Einakter „Der Stein der Weisen“ [vgl. KSA 6, S. 900].. In Budapest wohnte ich nicht Hungaria sonderSchreibversehen, statt: sondern. Hotel Royal, in dessen Saal der | VortragWedekind las ‒ wie zuerst am 25.11.1908 im Bayerischen Hof in München ‒ am 17.3.1909 im Saal des Hotels Royal in Budapest, sein „Vortragsabend im ‚Royal‘-Saale“ [Pester Lloyd, Jg. 56, Nr. 64, 17.3.1909, Morgenblatt, S. 8], die zweite Szene von „Die Zensur“, „Totentanz“ sowie abschließend Gedichte, alles mit einleitenden Worten eröffnet [vgl. KSA 6, S. 679] und organisiert vom Konzertbüro Emil Gutmann in München. Die Presse bemerkte: „Man hörte ihn hier nicht zum ersten Male. [...] Man durfte damals bereits seine scharfe, markante Sprechkunst bewundern, die heute vom nicht minder markanten, doch poselosen Mienenspiel seines harten Napoleongesichtes unterstützt wurde. Sonst aber ist sein Vortrag durchaus ungesucht und natürlich [...]. Er verläßt sich ohne viel Interpretierkunst ganz auf die Wirkung seines Werkes. Leider las er kaum etwas, was repräsentativ [...] gewesen wäre. [...] Was er heute las, liegt nicht auf dem Wege seines eigentlichen Schaffens. Die ‚Zensur‘, deren zweite Szene man hörte, ist ein Selbstplädoyer, das heute wohl überflüssig ist. [...] Ungleich stärker ergriff sein ‚Totentanz‘. [...] Mit ein paar seiner älteren Gedichte beschloß Wedekind den Abend“ [Vortrag Frank Wedekinds. In: Pester Lloyd, Jg. 56, Nr. 65, 18.3.1909, Morgenblatt, S. 11]. stattfand. Am Nachmittag stieg ich in frischgefallnem Schnee auf die Ofner Burgder Burgpalast in Budapest oder die Budapester Burg (Budavári Palota), als „barockes Palais unter der Herrschaft Maria Theresias errichtet, wurde der Palast 1890-1903 um- und ausgebaut“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 104]. Der Burgpalast lag in Buda, deutsch: ‚Ofen‘, weshalb er vor der Vereinigung 1873 von Buda und Pest zu Budapest ‚Ofener Burg‘ hieß. Wedekind notierte am 17.3.1909: „Spaziergang auf die Ofener Hofburg.“ [Tb] und besichtigte nachher die beiden Kettenbrücken„die imposante Széchenyi-Kettenbrücke (erbaut 1839-1849) und die Elisabeth-Brücke (erbaut 1898-1903).“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 104]. Nach dem VortragWedekind notierte am 17.3.1909 zu seiner Lesung im Saal des Hotels Royal in Budapest (siehe oben): „Vortrag. Nach dem Vortrag sitze ich bis 1 Uhr mit Mery Bela im Hotelrestaurant.“ [Tb] Er saß mit dem Verlagsbuchhändler Belá Méry, der in Budapest eine angesehene Musikalienhandlung betrieb und die Münchner Konzertagentur Emil Gutmann in Budapest vertrat, im Restaurant des Hotels Royal. saß ich mit Gutmanns Vertreter Musikhändler Mery allein im Restaurant. Das PublikumDie Presse bemerkte über Wedekinds Lesung am 17.3.1909 im Hotel Royal in Budapest, dass ihr „ein zahlreiches und dankbar angeregtes Publikum beiwohnte.“ [Vortrag Frank Wedekinds. In: Pester Lloyd, Jg. 56, Nr. 65, 18.3.1909, Morgenblatt, S. 11] war sehr aufmerksam, applaudierte aber wenig. Ich ging um ein Uhr zu Bett, stand um 8 Uhr auf und fuhr hierhernach Wien. Wedekind notierte am 18.3.1909: „Abreise von Budapest. Ich schreibe im Coupe. Ankunft in Wien. Bummele bis 5 Uhr schreibend durch die Straßen.“ [Tb]. Als ich zum Hotel fuhr schneite es wieder. Am Nachmittag suchte ich Gutmanns Vertreternicht eindeutig identifiziert. Karten für den „Vortragsabend“ waren bei „Gutmann, Perles und an der Abendkasse zu haben.“ [Wedekind am Vorlesetisch. In: Die Zeit, Jg. 8, Nr. 2399, 18.3.1909, Morgenblatt, S. 4] Da der in Wien geborene Emil Gutmann, der seit 1906 in München das Konzertbüro Emil Gutmann (Sitz: Theatinerstraße 38) betrieb und die aktuelle Lesereise Wedekinds organisiert hat, der Sohn des Musikverlegers Albert Gutmann war, der in Wien eine bekannte Konzertagentur betrieb (Himmelpfortgasse 27), darf angenommen werden, dass dieses Konzertbüro seines Vaters seine Vertretung in Wien war. auf bummelte durch die Stadt und schrieb bis zum Beginn des VortragsWedekinds vom Verein für Kunst und Literatur veranstaltete Lesung am 18.3.1909 im Bösendorfer Saal in Wien, bei der er ‒ wie zuerst am 25.11.1908 im Bayerischen Hof in München ‒ die zweite Szene von „Die Zensur“, „Totentanz“ sowie abschließend Gedichte las, alles mit einleitenden Worten eröffnet [vgl. KSA 6, S. 679] und organisiert vom Konzertbüro Emil Gutmann in München, begann um 19.30 Uhr [vgl. Wedekind am Vorlesetisch. In: Die Zeit, Jg. 8, Nr. 2399, 18.3.1909, Morgenblatt, S. 4]. Begrüßt wurde er von Julie Speyer (seit 1899 mit Jakob Wassermann verheiratet), wie Wedekind am 18.3.1909 notierte: „Vortrag. Frau Wassermann begrüßt mich.“ [Tb]. Nachher fand sich eine große Ge|sellschaftWedekind notierte nach der Lesung im Bösendorfer Saal (siehe oben) am 18.3.1909 das Beisammensein im Ratshauskeller in Wien (Felderstraße 1), bei dem er Wilhelm von Wymetal, seit 1908 Oberregisseur an der Wiener Hofoper [vgl. Neuer Theater-Almanach 1909, S. 642], Dr. Paul Stefan, Schriftsteller, Musikwissenschaftler und Sekretär beim Zentralverband österreichischer Industrieller [vgl. Der Fremdenverkehr. Offizielles Organ des Landesverband für Fremdenverkehr für Wien und Niederösterreich, Jg. 2, Nr. 15, 11.4.1909, S. 3], und Franz Servaes, seit 1904 Feuilletonchef der „Neuen Freien Presse“, begegnet ist (statt Ratshauskeller irrtümlich Ratskeller geschrieben): „Große Versammlung im Ratskeller Franz Servies Dr. von Wynnthal.“ [Tb] im Rathauskeller zusammen, von der ich nur Wimethal, Dr. Stefan und Franz Servaes kannte. Um zwölf Uhr empfahl ich mich, ging in die Pilsener BierkneipeWedekind war bei Perschill – Restaurant und Pilsener Bierhaus „zum Kühfuß“ (Naglergasse 1) sowie in einem weiteren Lokal, wie er am 18.3.1909 in Wien notierte: „Bei Perschill und Café de l’Europe bis 3 Uhr.“ [Tb] und saß dort allein bis zwei Uhr. Darauf legte ich mich schlafen.

Heute stand ich um 12 Uhr auf und packte meine Sachen. Bei Hartmann traf ich Roda RodaWedekind, der den k.k.-kritischen Schriftsteller Alexander Roda Roda am 19.3.1909 im Wiener Restaurant Hartmann (Kärntnerring 10) traf – „Mittags bei Hartmann treffe ich Roda Roda“ [Tb] – und ihn zuletzt am 12.1.1909 bei dem „Roda-Roda-Vortrag“ [Tb] in München gesehen hatte, erfuhr, dass er als Kriegsberichterstatter nach Serbien ging. Die Presse schrieb darüber im Zusammenhang mit dem drohenden Krieg (siehe unten): „Die Kriegsberichterstattung auf serbischer und montenegrinischer Seite hat Herr Roda Roda übernommen, der bekannte Militärschriftsteller, der, wie so mancher Publizist von Ruf, selbst aus den Reihen der österreichischen Armee hervorgegangen ist.“ [Kriegsgefahr und Berichterstattung. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 62, Nr. 139, 24.3.1909, Morgenblatt, S. 5], der nach Belgrad fährt um den Krieg„Am 5.10.1908 hatte Österreich die türkischen Balkanprovinzen Bosnien und Herzegowina, seit 1878 durch den von den europäischen Großmächten geschlossenen Berliner Vertrag der österr. Militärverwaltung unterstellt, völkerrechtswidrig annektiert. Es drohte ein Krieg auszubrechen, da England und Russland darauf bestanden, die alten Rechtszustände auf dem Balkan wiederherzustellen. Da das Deutsche Reich sich bedingungslos politisch und militärisch hinter die Interessen der österr. Monarchie stellte, sah sich jedoch das durch den Russisch-Japanischen Krieg militärisch geschwächte Russland genötigt, am 25.3.1909 dem Anschluss von Bosnien-Herzegowina an Österreich-Ungarn zuzustimmen.“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 104f.] mitzumachen. Nach Tisch fuhr ich auf den Döblinger Friedhof und bestellte einen GrabsteinFrank Wedekind notierte am 19.3.1909 in Wien seinen Besuch auf dem Döblinger Friedhof, wo am 9.6.1908 sein Bruder Donald Wedekind beerdigt worden ist: „Fahrt auf den Friedhof. Bestelle Grabschmuck und Grabstein für Donald.“ [Tb] für Donalds Grab.

Dies sind meine Reiseerlebnisse, geliebte Tilly. In Stuttgart werde | ich voraussichtlich Hotel Marquart wohnen. Ich denke daß ich Gerhäuser wol gelegentlich des Vortragsaus Anlass von Wedekinds Lesung am 21.3.1909 in Stuttgart (organisiert vom Konzertbüro Emil Gutmann in München), veranstaltet von der Museums-Gesellschaft im Oberen Museum in Stuttgart (Kanzleistraße 11), wo wieder mit einer von ihm gesprochenen Einleitung die zweite Szene von „Die Zensur“, „Totentanz“ und Gedichte zum Vortrag kamen [vgl. KSA 6, S. 679f.] ‒ wie zuerst am 25.11.1908 im Bayerischen Hof in München. Wedekind notierte am 21.3.1909 in Stuttgart: „Entzückender Spaziergang mit Gerhäuser Vortrag. Bei Bertram mit Gerhäuser Kühn Eisenstein und Braunfels Café Königsbau.“ [Tb] sehen werde. Vorher werde ich ihn wohl schwerlich aufsuchen, da ich sehr mit meiner Arbeit beschäftigt bin.

Mein Telegrammvgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 19.3.1909. wirst Du derweil bekommen haben. Ich telegraphiere Dir noch, wann ich Montag Abend ankomme. Ich freue mich sehr darauf.

Ich hoffe, geliebte Tilly, daß es Dir und Anna Pamela gut geht. Grüße und küsse sie von mir.

Mit innigstem Kuß in Liebe
Dein
Frank


19.3.9Wedekind notierte am 19.3.1909 in Wien: „Brief an Tilly“ [Tb]..

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 11 x 17,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der Schreibort ist durch den Briefinhalt in Verbindung mit dem Tagebuch belegt.

  • Schreibort

    Wien
    19. März 1909 (Freitag)
    Sicher

  • Absendeort

    Wien
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Zweiter Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
220-222
Briefnummer:
330
Kommentar:
Neuedition: Vinçon 2018, Bd. 1, S. 131 (Nr. 184).
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 320
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 19.3.1909. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

16.09.2023 18:56