Donnerstag.
21.V.08.
Mein lieber Frank,
hoffentlich nimmst Du’s mir nicht übel, dass ich Dir bis
jetzt keinen richtig gehenden Brief geschrieben habe. Ich habe Dir schließlich
alles geschrieben, was ich wusste; in Graz giebt es nicht viel Neues.
GesternTilly Wedekind hat am 20.5.1908 in Graz die Vorstellung von Max Halbes „Jugend“ im Theater am Franzensplatz besucht, wie sie ihrem Mann angekündigt hat [vgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 20.5.1908]. kam ich in’s Theater, da stand der DoctorGustav Ritter von Purgay, Hilfskassierer des Theaters am Franzensplatz [vgl. Neuer Theater-Almanach 1908, S. 387], ehrenamtlich tätig; er war nicht nur Mitglied des Vereins der Landesbeamten der Steiermark, ein „Landesrechnungsrevident“ [Grazer Volksblatt, Jg. 41, Nr. 581, 18.12.1908, Morgen-Ausgabe, S. 5] kurz vor dem Ruhestand, sondern auch Vorstandsmitglied (neben dem Grazer Bürgermeister und einem Stadtrat) des 1891 gegründeten Grazer Theater-Versorgungs- und Unterstützungs-Vereins [vgl. Neuer Theater-Almanach 1909, S. 428]. mit dem langen
Bart an der Kasse. | Er gab mir gleich eine Loge. (Wie er heißt, weiß ich nicht
mehr.) Es wurde recht gut gespielt.
Heute waren wir den ganzen Tag bei einer Freundinnicht identifiziert. von mir, die
mit ihren Eltern eine Villa in der Umgebung bewohnt. Es war sehr schön; ich
glaube die Luft hier wird mir sehr gut tun. Ich bleibe zu Hause wohnen, wir
sind ja doch den ganzen Tag im Freien. |
Zu meinem Bedauern hörte ich, von Onkel Dagobert,
dass Du bei Professor Engländer heute abendWedekind hat den Besuch bei Richard Engländer, dem Bruder von Dagobert Engländer und Onkel seiner Frau (beides Brüder ihrer Mutter Mathilde Newes), am 21.5.1908 im Tagebuch nicht notiert; die Begegnung fand aber statt, wie sein nächster Brief [vgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 22.5.1908] und eine kollektiv geschriebene Bildpostkarte von diesem Abend [vgl. Frank Wedekind, Mathilde Engländer, Dagobert Engländer, Karl Lillin, Laura Engländer, Richard Engländer, Stephanie Engländer an Tilly Wedekind, 21.5.1908] belegt, allerdings nicht in der Wohnung von Richard Engländer (Wien VI, Kopernikusgasse 7), sondern bei Dagobert Engländer. eingeladen bist. Hoffentlich hast
Du eine passende Ausrede gefunden, denn dass es Dir nicht angenehmWedekind hatte offenbar Vorbehalte gegen Richard Engländer, k. k. Professor für Maschinenbau an der Technischen Hochschule Wien, gegen den seine Studenten revoltiert hatten, wie die Presse unlängst berichtete, wie eine ironische Stellungnahme von ihm nahelegt [vgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 29.4.1908]. sein wird,
kann ich mir denken.
Nun bist Du noch zwei Tage in Wien. Wenn Du in München mit
einem Arzt gesprochen hast, bitte schreibe mir gleich was er meint. Ich wünsche
| von Herzen, dass Dir der Aufenthalt in München recht gut bekommt. Du musst
dann eben auch in Berlin möglichst viel gehen. Ich habe dann MarthaMartha Newes „unterstützte als ‚Kindermädchen‘ in jungen Jahren gelegentlich in München ihre ältere Schwester.“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 88], u. Du brauchst
Dich durch mich nicht gehindert fühlen. Ich habe jetzt „Werther’s Leiden“
angefangen. Wie dumm, dass man sich das Leben so schwer macht, wenn es so
angenehm sein könnte. Ich tu’s nicht wieder, geliebter Frank.
In innigster Liebe
Deine Tilly
[Seite 1, am rechten
Rand um 90 Grad gedreht:]
Anna Pamela, mein Stolz, schickt Dir viele Küsse.