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Rosenberg,
Dienstagder 16.7.1907..
Geliebter Frank,
Du wunderst Dich vielleicht, dass
ich wenig schreibe. Aber ich weiß ja keine bestimmte Adresse von Dir; bis meine
Briefe ankommen, bist Du schon wo anders. Ich habe Freitag einen Briefvgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 12.7.1907. nach
Leipzig, u. Sonntag eine Kartevgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 14.7.1907. nach Frankfurt
geschickt. Wenn Du bei Deinem Vorsatz geblieben bist, dann bist Du vielleicht
schon in München. Wo wolltest Du dort wohnen? |
Mein Bruder Karl ist heute auch nach Graz zurückgekommen.
Ich laßSchreibversehen, statt: las. Bertl die beiden ActeTilly Wedekind las ihrem Bruder Dagobert Newes die beiden ersten Bilder von „Musik. Sittengemälde in vier Bildern von Frank Wedekind“ vor, die bereits gedruckt in der Literaturzeitschrift „Morgen“ vorlagen [vgl. KSA 6, S. 723], bezeichnet als „Erstes Bild“ [Morgen, Jg. 1, Nr. 3, 26.6.1907, S. 75] und „Zweites Bild“ [Morgen, Jg. 1, Nr. 4, 5.7.1907, S. 107]. „Musik“ vor. Über „die sieben Worte“Wedekinds in sieben nummerierte Abschnitte gegliedertes, 60 Zeilen umfassendes und stilistisch als „Referenzfolie“ den „Dekalog“ [KSA 1/II, S. 1364] adaptierendes Gedicht „Die sechzig Zeilen oder Die Sieben Worte“ [KSA 1/I, S. 562-564] ist von Karl Kraus veröffentlicht worden [vgl. Die Fackel, Jg. 9, Nr. 227-228, 10.6.1907, S. 1-3]; es hatte in handschriftlichen Fassungen noch den Titel „Die sieben Worte“ [vgl. KSA 1/II, S. 1356-1358]. Erich Mühsam schrieb Karl Kraus am 22.6.1907 über das Gedicht: „Diese 7 Worte gehören zum Großartigsten, was überhaupt geschrieben ist. Sie stellen nicht nur das Extrakt aus allen Wedekindschen Arbeiten dar, sondern erweitern sie zu einer Bejahung, in der er weit über Nietzsche hinausgreift, und die Sprache dieser 60 Zeilen erhöht sie zu einem Katechismus modernen Menschentums.“ [Jungblut 1984, S. 102] müssen wir noch zusammen sprechen, ich verstehe nicht in allem,
was Du meinst.
Was machen alle unsere Freunde in München?
Eine Schulfreundin besuchte mich gestern, man wunderte sich
dass man so rasch denselben vertrauten Ton wiederfindet. Martha war jetzt 2
Tage bei mir, wir unterhielten uns sehr gut. | Ich schreibe auf der Veranda;
von hier aus, ist reizende Aussicht. Es würde Dir sicher sehr gefallen. Mir fiel erst jetzt auf, dass das Mädchen in MusikIm Erstdruck von „Musik“ (nicht mehr in der Buchausgabe) ist im Verzeichnis der Personen angegeben: „Hildegard, Mädchen bei Reißners“ [Morgen, Jg. 1, Nr. 3, 26.6.1907, S. 75]. ja
Hildegard heißtAnspielung auf Hildegarde Zellner, von 1900 bis 1903 Wedekinds Haushälterin – aus „der intimen Beziehung“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 59] mit ihr stammt Wedekinds am 22.5.1902 geborener unehelicher Sohn Franklin Zellner [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 216f.].. Du musst, weil ich die Bemerkung mache, nicht denken, es sei
mir unangenehm.
Herzlichen Kuss
Deine Tilly
Lieber Papa,
Du musst mir bitte auch mal schreiben.
Gruß u. Kuss
Anna Pamela
[auf Seite 3, um 90
Grad gedreht am linken Rand, Tilly Wedekind:]
Siedie Tochter Pamela. freut sich ungeheuer zu schreiben!