Mein lieber Frank, ich werde versuchen es niederzuschreiben,
sagen kann ich es nicht, weil ich immer fürchte, Du
lachst mich aus. Zuerst war es, wie es immer ist, ein Bischen Zuneigung, viel Sinnlichkeit
u. viel Eitelkeit. Aber mit jedem Tag wurde es anders. Und ich habe mich auch
schon sehr verändert. Sagst Du nicht selbst, ich sei jetzt
anders wie in WienAnspielung auf die von Karl Kraus organisierte Wiener Premiere der „Büchse der Pandora“ am 29.5.1905, bei der Tilly Newes die Hauptrolle der Lulu und Wedekind die Rolle des Jack spielte und beide sich kennengelernt haben., energischer selbstbewuß/s/ster. Ich bin es nur durch
Dich geworden. Ohne | Dich wäre es mir nicht gelungen, mich soweit von meiner
Familie frei zu machen. Wenn ich jetzt heiter sein kann, über dies u. das reden, von meiner Familie, von so vielen, kleinen
Erlebnissen, ich kann es nur durch Dich. Wenn Du mich gesehen hättest wie still
ich in Paul’s GesellschaftPaul Eger, der ehemalige Geliebte oder Verlobte von Tilly Newes; unklar ist, seit wann er in Berlin war. war, es ist kein Wunder, dass er mich für nicht klug
hielt, sagen wir dumm. Ich will Dir mit allem Freude machen, Dir gefallen, Dich
unterhalten. Ich habe jede Sentimen|talität ängstlich vermieden, ich glaubte Du
magst das nicht.
Das gieng so bis meine Mutter kamDas genaue Datum der Ankunft von Mathilde Newes in Berlin ist unklar; sie hat ihrer Tochter bereits in Frankfurt am Main Gesellschaft geleistet [vgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 13.10.1905]. Wedekind notierte im Tagebuch ihre Anwesenheit in Berlin im Beisammensein mit ihrer Tochter (fast immer nach „Hidalla“-Vorstellungen, in denen er auftrat) am 17.11.1905 („Hidalla [...] Nachher mit Tilly und ihrer Mutter bei Aschinger“), 21.11.1905 („Hidalla [...] nachher mit Tilly und ihrer Mutter Weinstube Aschinger“), 23.11.1905 („Abends mit Tilli und Ihrer Mutter im Wintergarten“) und 28.11.1905 („Hidalla [...] Nachher mit Tilly und ihrer Mutter bei Kempinsky und im Café de l’Opera“)., u. dann schicktest Du mich weg, ich glaube an den Tag werde ich
immer denken! Du sagst, es hat mich ordentlich zusammen gerüttelt, u. Du glaubst,
das kam nur von gekränktem Ehrgeiz, oder so etwas? Wie D ich von Dir
gieng, war mir ganz eigen, schwindlig, unklar. Was jetzt?
Es war so tot, so leer, nichts gar nichts. Ich habe nicht geweint, u. nichts
geredet, ich lief in meinem Zimmer hin u. her – | Es ist nicht möglich, es ist
nicht möglich. Ich lief immer hin u. her u. hatte Fieber. Ich will gar nichts
mehr, er glaubt nicht an deine Fähigkeiten, wie hättest Du
dann den Mut daran zu glauben. Wie hättest Du ohne diesen Glauben hier je
spielen können, wie hättest du den Mut gehabt; u. alles andre ebenso, nur durch
ihn. Und jetzt ist das nicht mehr, also was nun?
Und du hast ihm nie gezeigt, dass du keinen Mut hast u. dass du nicht an dich
glaubst, nur um ihm zu gefallen. Und jetzt meint er, du siehst | an allen
andern Leuten Fehler nur an D/d/ir nicht. Und er glaubt nicht, dass D/d/u
eine Künstlerin werden kannst. Ist das das Höchste was du für ihn sein
könntest? Und wie gern will ich dann alles dran setzen, schon um ihm zu
gefallen, um ihm etwas zu sein. Aber jetzt hab’ ich ja gar keinen Mut u. keine Kraft
mehr. Also Schluss machen, irgend ein Ende, gleichviel wie. Und die Mutter
gleich fort, sie soll es nicht miterleben, u. sie ist ja immer im Wege! Und
abends kam IduschkaIda Orloff spielte am 29.5.1905 in der Wiener Premiere der „Büchse der Pandora“ die Rolle der Kadidja di Santa Croce [vgl. KSA 3/I, S. 548] – Wedekind hat sie in diesem Zusammenhang kennengelernt. Tilly Wedekind erinnerte sich: „Sie wurde allgemein ‚Iduschka‘ genannt“ und sei eine ihrer „besten Freundinnen“ [Wedekind 1969, S. 40] gewesen.. | „Du hast ja Fieber, was hast du für Augen, lach’ nicht
so gräßlich, rede doch um Gottes Willen was ist denn geschehen?“
Es ist aus, er glaubt nicht an mich, nun kann ich nicht
mehr. „Du bist verrückt, jetzt erst recht solltest du zeigen, ich kann etwas“
Ja, wer so sicher wäre wie du, wer so an sich glauben könnte, – „Nur so kannst
Du ihn zurückgewinnen!“ Ach, wenn das gienge!! – Aber Mama muss so oder so weg,
Mama, Du musst weg, es geht nicht anders. Du musst. „Gut, ich seh’ D/d/u
bist nicht glücklich, vielleicht ist es gut, ich gehe.[“] |
Abends Ghettowohl die Vorstellung vom 29.11.1905. Tilly Newes spielte in dem Trauerspiel „Ghetto“ (1898, deutsch 1903) von Herman Heijermans, das am 11.11.1905 am Kleinen Theater in Berlin Premiere hatte, die weibliche Hauptrolle der Rose; weitere Vorstellungen gab es am 12.11.1905, am 15. und 16.11.1905, vom 18. bis 20.11.1905, am 25. und 26.11.1905, am 29.11.1905, 7.12.1905 und 11.12.1905 sowie zusätzlich ‒ „Im Kleinen Theater gelangt in Abänderung des Spielplans nächsten Sonnabend ‚Ghetto‘ zur Aufführung. An allen vorhergehenden Abenden wird Frank Wedekinds ‚Marquis von Keith‘ mit dem Dichter in der Titelrolle gegeben.“ [Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 595, 20.12.1905, Morgen-Ausgabe, S. 7] ‒ am 23.12.1905 (Samstag). Wedekind hat die Premiere besucht und war anschließend mit Tilly Newes zusammen, wie er am 11.11.1905 notierte: „Abends Premiere von Ghetto. Nachher mit Tilly Orlik Sulzberger Donald und Lanz bei Habel dann Stallmann. Tilli kommt zu mir, bleibt bis 7.“ [Tb]! Es gieng sehr gut. Im letzten Act packte es mich,
ich schüttelte mich vor Schluchzen u. Weinen. Donnerstagder 30.11.1905 – Abreisevorbereitungen von Mathilde Newes. ein hin u. her laufen,
Mama reisefertig machen. Freitagder 1.12.1905 – Abreise von Mathilde Newes von Berlin zurück nach Graz. Früh fährt sie weg. Gott sei Dank; ich atme
auf. Als ich mit ihr im Wagen sitze, sehe ich ein Geschäft, Waffen. Beim zurück
kommen, geh ich hinein u. kaufe einen RevolverDer Revolver ist ein symbolträchtiges Requisit in Wedekinds Schauspiel „Der Marquis von Keith“ – am Schluss des 5. Akts betrachtet der Marquis von Keith unschlüssig den Revolver, erschießt sich aber nicht, grinst und meint: „Das Leben ist eine Rutschbahn...“ [KSA 4, S. 228], das Schlusswort im Stück. für – den Marquis v. Keith.
Dann denke ich, ich muss es erst versuchen, will Barnowsky um
| eine Rolle bitten, aber wenn ich seh’ es nützt nichts; oder ich habe zu wenig
Mut, ist immer gut, wenn man das Ding hatte. Ich komm nach Hause; Angele
soll ich spielenTilly Newes sollte die Titelrolle in Otto Erich Hartlebens Komödie „Angele“ (1891) spielen [vgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 23.9.1905], die seit dem Frühjahr (Premiere: 4.2.1905) auf dem Spielplan des Kleinen Theaters in Berlin stand und aktuell gespielt wurde; die nächsten Vorstellungen waren am 5. und 6.12.1905, 9.12.1905 sowie nachmittags am 17.12.1905. Tilly Wedekind erinnerte sich daran, die Rolle gespielt zu haben [vgl. Wedekind 1969, S. 55]., Gott sei Dank eine Gelegenheit, u. der Hermann CasimirFigur aus dem „Marquis von Keith“, in der Berliner Premiere am 13.12.1905 von Tilly Newes gespielt (siehe unten).! Wenn
Du mich jetzt sehen würdest, Du würdest nicht sagen, ich habe keinen Ehrgeiz!
Und heute Hidallawohl die „Hidalla“-Vorstellung am 8.12.1905 (die letzte in diesem Jahr). Wedekind notierte an diesem Tag dreimal Tilly Newes: „Nachmittags mit T.N. im Deutschen Theater wo uns Buck die Perücken anprobirt. [...] Hidalla [...]. Nachher mit T.N. und Felix Holländer bei Habel. T. kommt zu mir.“ [Tb]! Und ich arbeite den ganzen Tag. Und nun soll ich Dich
wiedersehn, ich kann es nicht ertragen u. ich sehne | mich doch so sehr danach!
Du trittst auf, ich muss mich in Acht nehmen, dass ich ruhig bleibe u. nicht aufschluchze. Im II. Act.Es folgt ein Zitat aus „Hidalla“, 2. Akt (Figurenrede Fanny Kettler): „Nein, nein! Lassen Sie mich das nicht hören! Gehe ich den Weg, den Sie in Ihrem Kopfe ausgedacht, dann bedarf das größerer Kraft, als wenn ein leichtherziges Geschöpf ihn geht! Fußtritte verdiene ich nicht, auch wenn es genügt, Weib zu sein, um in Ihrem Geiste zu leben!“ [KSA 6, S. 65] „Nein, nein
lassen Sie mich das nicht hören, gehe ich den Weg so bedarf das größerer Kraft,
Fußtritte verdiene ich nicht“
Mir ist, als könnte ich nicht mehr weiter spielen.
Im III. Act.Es folgt ein Zitat aus „Hidalla“, 3. Akt (Figurenrede Fanny Kettler): „Und mich haben Sie dazu ausersehn! Mich halten Sie für das grauenvolle Ungeheuer, das eine Ermordung kalten Blutes miterlebt?!“ [KSA 6, S. 81] „Und mich halten Sie für das grauenvolle
Ungeheuer“ und in meiner Hand fühle ich den Revolver u. ziele, auf Dich oder
mich | Und im V. Act. Da sind auf einmal keine Menschen da, u. ich bin nicht
auf der Bühne, ich bin in Deinem Zimmer u.
niemand ist da als Du u. ich. Und ich kann Dir alles, alles sagen, was ich
neulich nicht aus der Kehle brachte, – „von Dir muss mein Leben kommen, von Dir
muss es kommen, von Dir“ Ich ersticke fast vor Tränen.
Und ich gehe mit Dir u. SandrockWedekinds Tagebuch gibt keinen Hinweis auf einen gemeinsamen Heimweg mit Tilly Newes und Adele Sandrock nach einer „Hidalla“-Vorstellung im Kleinen Theater. nach Hause u. habe die Empfindung,
er glaubt, | vielleicht ist doch noch was aus ihr zu machen. Aber er hat nicht
gefühlt, dass ich heut abend mit jedem Wort schrie:
ich habe Dich lieb, ich hab’ Dich so unendlich lieb. Und ich saß zu Hause u.
dachte, jetzt kann noch alles gut werden, aber er liebt D/d/ich nicht,
u. war traurig. Und ich wollte Dir nicht nachlaufen, nur weil ich fürchtete es
könnte Dir missfallen u. Dich erst recht von | mir entfernen.
Und als Du kamst war ich schwach u. glücklich u. stiller. Du
hast selbst gesagt ich sei stiller. Ich fürchtete sehr, Dir oberflächlich vorzukommen,
u. es war mir ja auch lieber, wenn ich stiller sein durfte. Und dann kam „Marquis“Wedekinds Schauspiel „Der Marquis von Keith“ hatte am Kleinen Theater in Berlin am 13.12.1905 Premiere: „Durchfall des Marquis von Keith [...]. Nach der Vorstellung mit Kuhnert seiner Frau und Tilly bei Habel. Tilli kommt zu mir“ [Tb]; er spielte die Titelrolle, Tilly Newes die Rolle des Hermann Casimir, die eine weibliche Besetzung verlangte [vgl. KSA 4, S. 560].
u. jetzt war ich krankWedekind notierte im Tagebuch die Erkrankung von Tilly Newes – am 17.12.1905 („Tilli [...] hat starkes Fieber“), 18.12.1905 („Tilli leidet an Angina“), 20.12.1905 („Marquis v Keith [...]. Nachher mit Tilly bei Habel. Sie kommt zu mir. Morgens um 6 Uhr begleite ich sie nach Haus. Sie hat starkes Fieber“), 23.12.1905 („T hat eine Mittelohrentzündung, wird geschnitten. Abends fahr ich mit ihr zu Dr. Flatau“), 24.12.1905 („Fahre mit Tilly zu Dr. Flatau. Sie leidet fürchterlich auf dem Heimweg und zu Hause. Ich bleibe bis 9 Uhr bei ihr“), 25.12.1905 („mit Tilli zu Dr. Flatau“), 29.12.1905 („mit Tilly beim Arzt“) und 30.12.1905 („Ich begleite Tilli zum Arzt“).. Und weil Du so lieb u. gut warst mit mir, u. Dich so freutest
als ich wohler wurde, dachte ich, er hat Dich doch lieb. Und wenn Du fort warst
lag ich still, lächelte u. hatte Tränen im Auge. |
Und sah Dein BildTilly Newes hatte sich ein Foto von Wedekind gewünscht [vgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 28.8.1905 und 23.9.1905], das sie inzwischen erhalten haben dürfte. Sie und Wedekind haben sich seinem Tagebuch zufolge in Berlin außerdem von der Fotografin Aura Hertwig aufnehmen lassen – am 23.11.1905 („Tilli und ich fahren zu Frau Hertwich, die uns beide nackt photographiert“) und 29.11.1905 („Wir werden auf meinem Zimmer photographiert“); die Fotos hat Wedekind ihr am 2.12.1905 gebracht („Ich hole die Photographien bei Aura Hertwich und bringe sie Tilly Newes“). an, u. dachte: Du Lieber, Du Gutervgl. „Der Marquis von Keith“ (1901), 3. Akt (Molly Griesinger zum Marquis von Keith): „MOLLY (fällt ihm leidenschaftlich um den Hals und küßt ihn ab) – Du Lieber! – Du Großer! – Du Guter!“ [KSA 4, S. 200] Das wiederum war eine Anspielung an Gerhart Hauptmanns „Einsame Menschen“ (1891), 2. Akt, in dem Käthe Vockerat beim Abschiednehmen („An Johannes’ Halse“) sagt: „Du Lieber! Guter!“. Und heute
hast Du mir das alles wieder fortgenommen, ich
verstehe Dich nicht mehr, ich verstehe mich nicht mehr. Ist denn das alles
Einbildung?
Ich quäle mich sehr u. kann nicht herausfinden.
Und die Tränen waren Freude, über meine IlusionSchreibversehen, statt: Illusion., dass wir uns
lieb haben.
Und wenn ich Dich nicht mehr sehe, dass kann nicht
aufhören. | Versuche es doch mal, u. stelle mich auf eine Probe.
Und wenn Du fort bist, wer soll denn dann der Nächste sein? Und
wann denn schon? Wie werde ich wohl über Dich reden?
Müsste ich denn dann nicht denken, alles ist Komödie, u. ich
selbst bin auch eine Komödiantin u. Du wohl auch?
Sag’ mir doch Frank, was ich tun soll!