[1. Briefentwurf:]
Wien, 14. im
Dez. 1905
Lieber, verehrter Fr.
W.!
Vielen Dank für Ihre Karte und für Ihre freundliche Kritik
der letzten „Fackel“. Wenn die nur bald wieder einen Beitrag von Ihnen hätte!
Der „schönen Philosophin“ habe ich soeben Ihre Grüße ausgerichtet. Ihre
Frage, mit wem ich in Rom war, wäre besser mündlich – ich erhoffe baldiges
Wiedersehen – zu beantworten, denn die Antwort hat eine verwickelte
Vorgeschichte. Ich war mit unserer lieben Frau Maria in Rom. Sie erinnern sich,
welchen Luftsprung ich that, als Sie mir in Wien erzählten, daß Sie B. B. kennen; ich hatte seit drei Jahren schon für S/s/ie
geschwärmt, ihre Spur, die nach Stuttgart führte, verloren, von ihrer Rückkehr
nichts gewusst ... Im Herbst, als ich hörte, sie sei eines Tages aus Ihrer
Wohnung verschwunden und nach Rom Italien gereist, begann – ich weiß selbst nicht, wie das kam – meine
Liebe lichterloh zu brennen; und ich führte nun den alten Plan einer
Italienreise aus, als ich mich in den Zug setzte, um auf’s Gerathewohl
nachzureisen ... Sie kennen Berthe Maria nicht, da Sie sie nicht im
mondbeleuchteten Colosseum gesehen haben, auf | einem Trümmer des Sessels Marmorsitzes der Kaiserin. sitzend. Der ganze Zauber der Vergangenheit,
den diese Ruinen einschließen, schien leibhaftig aus ihren schönen Augen zu
treten, bis ein Thränenflor ihn verhüllte. Seit damals bete ich sie an ... Ich
glaube nicht, daß durch meine Liebe der Ihren ein Leid geschieht, umsoweniger,
als ich ja nicht weiß, wie diese Frau mit den zahllosen Seelen ihre Gefühle
vertheilt ... Wenn sie – worüber ich ihr schon Vorwürfe gemacht habe – ein
wenig schreibfaul ist, so ist sie zur Hälfte dadurch entschuldigt, daß sie ihre
freie die Zeit, die sie nicht der
Sehnsucht nach dem Colosseum und seiner gewesenen Pracht widmet, mit
Strümpfestricken für ihre Großmutter zubringt. Sie kann nämlich auch das. Wenn
ihre Sinne schweigen, hat verlangt sie nur mehr das
Verlangen nach dem Mann im Mond. Leider kann ich ihr nicht alle ihre
Wünsche erfüllen. |
Sollten Sie auch fernerhin durch Proben und Vorstellungen
verhindert sein, das schöne Wesen, mit dem ich natürlich kein Verhältnis, nur
ein Verhängnis habe, zu heirathen, so werde ich es – Berthe Marias
Einverständnis vorausgesetzt – für Sie thun. Ich weiß, daß sie, wer immer von
uns sie heirathet, keinem von beiden verloren geht.
In aufrichtiger Herzlichkeit grüßt Sie
Ihr
K. K.
„Den beiden Schwestern Männern schwur ich Lieb und
Treue.
Welchen nehm’ ich? Einen? Beide? Keinen?“
Edmund
in „König Lear“.
frei nach Shakespeare.
[2. Abgesandter Brief:]
Wien, im Dezember 1905
Lieber, verehrter Fr. W.!
Vielen Dank für Ihre Kartevgl. Wedekind an Karl Kraus, 13.12.1905. und für Ihre freundliche Kritik
der letzten „Fackel“Wedekind hat seine Lektüre des „Fackel“-Hefts vom 11.12.1905 erwähnt [vgl. Wedekind an Karl Kraus, 13.12.1905] und nannte speziell außer dem Artikel „Geld“ von Lucianus (Karl Hauer) – ein an eine „verehrte Frau“ (sie dürfte von Wedekind als die ‚schöne Philosophin‘ Berthe Marie Denk interpretiert worden sein) gerichteter offener Brief, der als eine „Philosophie des Geldes“ [Die Fackel, Jg. 7, Nr. 190, 11.12.1905, S. 11] charakterisiert ist – den Artikel „Vorurteile“ von Egon Friedell, der „am Beispiel [...] fremder Länder [...] aus Sekundärurteilen und Phantasie geschöpfte Vorurteile“ [Nottscheid 2008, S. 155] behandelt; Karl Kraus hat hier eine Fußnote gesetzt, die auf seine Italienreise im Herbst 1905 aufmerksam macht (in Italien hat er Berthe Marie Denk getroffen, was Wedekind aus der Anmerkung schließen konnte): „Hier erlaubt sich der Herausgeber zu bemerken, daß er am Ende dieses Sommers mit Italien ganz ähnliche Erfahrungen gemacht hat.“ [Die Fackel, Jg. 7, Nr. 190, 11.12.1905, S. 7]. Wenn die nur bald wieder einen
Beitrag von Ihnen hätte! Der „schönen Philosophin“Zitat aus Wedekinds Postkarte [vgl. Wedekind an Karl Kraus, 13.12.1905]; gemeint ist Berthe Marie Denk. habe ich Ihre Grüße
ausgerichtet. Ihre Frage, mit wem ich in RomBerthe Marie Denk hat Wedekind unmittelbar vor ihrem Aufbruch nach Italien von ihrer anstehende Reise geschrieben [vgl. Berthe Marie Denk an Wedekind, 5.9.1905] und sich nach ihrer Rückkehr von dieser Reise zurückgemeldet [vgl. Berthe Marie Denk an Wedekind, 22.9.1905]. war, wäre besser mündlich – ich
erhoffe baldiges Wiedersehen – zu beantworten, denn die Antwort hat eine
verwickelte Vorgeschichte. Ich war mit unserer lieben Frau MariaBerthe Marie Denk, „für die Kraus hier die in der katholischen Liturgie übliche Anrede für die Heilige Jungfrau Maria benutzt“ [Nottscheid 2008, S. 156]. in Rom. Sie
erinnern sich, welchen Luftsprung ich that, als Sie mir in Wien erzählten, daß
Sie B. B.gemeint ist „offenbar“ Berthe Marie Denk, auch wenn die „Bedeutung der Chiffre [...] unklar“ [Nottscheid 2008, S. 157] ist. kennen, ich hatte seit drei
Jahren schon für sie geschwärmt, ihre Spur, die nach StuttgartWedekind hat Berthe Marie Denk im Frühjahr 1905 in Stuttgart kennengelernt [vgl. Berthe Marie Denk an Wedekind, 14.4.1905; Wedekind an Berthe Marie Denk, 15.4.1905]. führte,
verloren, von ihrer Rückkehr nichts gewußt ... Im Herbst, als ich hörte, sie
sei eines Tages aus ihrer Wohnung verschwunden und nach Italien gereist, begann
– ich weiß selbst nicht, wie das kam – meine Liebe lichterloh zu brennen; und
ich führte nur den alten Plan einer Italienreise aus, als ich mich in den Zug
setzte, um auf’s Gerathewohl nachzureisen ...
Sie kennen Berthe Maria nicht, da Sie sie nicht im mondbeleuchteten Colosseum
gesehen haben, auf einem Trümmer des Marmorsitzes der Kaiserin. Der ganze
Zauber des Gewesenen, den diese Ruinen einschließen, schien leibhaftig aus
ihren schönen | Augen zu treten, bis ein Tränenflor ihn verhüllte. Seit damals
bete ich sie an ... Ich glaube nicht, daß durch meine Liebe der Ihren ein Leid
geschieht, umsoweniger, als ich ja nicht weiß, wie diese Frau mit den zahllosen
Seelen ihre Gefühle vertheilt ... Wenn sie – worüber ich ihr schon Vorwürfe
gemacht habe – ein wenig schreibfaul ist, so ist sie zur Hälfte dadurch
entschuldigt, daß sie die Zeit, die sie nicht der Sehnsucht nach dem Colosseum
und seiner gewesenen Pracht widmet, mit Strümpfestricken für ihre Großmutterwohl nicht konkret gemeint (Berthe Marie Denks Großmutter mütterlicher- oder väterlicherseits).
zubringt. Sie kann nämlich auch das. Wenn ihre Sinne schweigen, verlangt sie
nur mehr nach dem Mann im MondKarl Kraus hat aus dieser Briefstelle später einen Aphorismus gemacht: „Wenn die Sinne der Frau schweigen, verlangt sie den Mann im Mond.“ [Die Fackel, Jg. 7, Nr. 198, 12.3.1906, S. 1]. Leider kann ich ihr nicht alle Wünsche
erfüllen. Sollten Sie auch fernerhin durch Proben und VorstellungenWedekind in Berlin stand aktuell im Kleinen Theater in der Titelrolle des „Marquis von Keith“ auf der Bühne (Premiere: 13.12.1905), die Proben dazu hatten am 2.12.1905 begonnen; davor spielte er im Kleinen Theater in „Hidalla“ den Karl Hetmann (Premiere: 26.9.1905). verhindert
sein, das schöne Wesen, mit dem ich natürlich kein Verhältnis, nur ein
Verhängnis habe, zu heirathen, so werde ich es – Berthe Marias
Einverständnis vorausgesetzt – für Sie thun. Ich weiß, daß
sie, wer immer von uns sie heirathet, keinem von beiden verloren geht.
In aufrichtiger Herzlichkeit grüßt Sie
Ihr
Karl Kraus |
Den
beiden Männern schwur ich Lieb u. Treue ...
Welchen nehm’ ich? Einen? – Beide? Keinen?
(Frei nach Shakespearefrei nach dem Monolog Edmunds in William Shakespeares „König Lear“ (Szene V/1): „Den beiden Schwestern schwur ich meine Liebe, / Und beide hassen sich, wie der Gestochne / Die Natter. Welche soll ich nehmen? Beide? / Ein’ oder Keine?“ [Shakspeare’s dramatische Werke übersetzt von August Wilhelm von Schlegel und Ludwig Tieck. Neue Ausgabe in neun Bänden. Bd. 8. Berlin 1867, S. 367f.] Im Briefentwurf hat Karl Kraus das von ihm als Anspielung auf das Dreiecksverhältnis Wedekind – Denk – Kraus umgeschriebene Shakespeare-Zitat notiert, im abgesandten Brief hat Berthe Marie Denk diese Zitatadaption ihren Zeilen als Motto vorangestellt.)
Geliebter Cäsar, auf jeden Fall bleibe ich mir treu –
und sende Dir nebst herzlichen Dank für l. Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Berthe Marie Denk, 13.11.1905. herzlichen Gruss. Ich ersuche Dich die
Idee mit den AnsichtskartenBerthe Marie Denk hatte Wedekind ein Foto von sich geschickt [vgl. Berthe Marie Denk an Wedekind, 12.11.1905] und Wedekind schlug ihr daraufhin offenbar vor, dieses Foto als Bildpostkarte zu reproduzieren [vgl. Wedekind an Berthe Marie Denk, 13.11.1905]. nichtviermal unterstrichen. auszuführen; (es wäre auch
zu viel Reclame); (wohin mit all den Heiratsanträgen?) Wann | kommst Du endlich
wieder einmal nach WienWedekind war zuletzt die drei Tage vom 14. bis 16.5.1905 in Wien und hat Berthe Marie Denk täglich gesehen [vgl. Tb].? Du weisst sicher gar nicht mehr, wie ich aussehe!
Bertha Maria