Frankfurt,
Freitagder 13.10.1905..
Lieber Wedekind,
heute war also Barnowsky hier. Er hat mich Nachmittag’s in
meiner Wohnung aufgesucht. Er gefällt mir gut, hoffentlich gefalle ich ihm
auch. Ich sprach ihm den ersten ActDer 1. Akt der „Büchse der Pandora“ (1903) spielt in der Villa des toten Dr. Schön, in dem sich Lulus Liebhaber vor ihrer Flucht nach Paris um sie versammeln [vgl. KSA 3/I, S. 479-496]. „Büchse“ vor, ich glaube das hat ihm sehr gefallen. Abends spielte ich eine ziemlich
unbedeutende Rollenicht ermittelt; sie habe im Frankfurter Residenztheater, auf dessen Spielplan fast ausschließlich „Boulevardstücke und Lustspiele“ standen, wie Tilly Wedekind sich erinnerte, in einem „Stück von Oscar Wilde“ eine kleine Rolle gespielt, in der sie „hauptsächlich vom Wetter und von einer Verlobung zu reden hatte“, sowie „Rollen in französischen Lustspielen“ [Wedekind 1969, S. 50f.]., er wollte aber wohl hauptsächlich wissen, wie ich aussehe.
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Es wird ihm doch keinen unangenehmen Eindruck machen, weiln
ich meine Mutter bei mir habeMathilde Newes hat ihre Tochter von Graz nach Frankfurt am Main begleitet, wie Tilly Wedekind sich erinnerte: „In das neue Engagement nach Frankfurt begleitete mich meine Mutter“ [Wedekind 1969, S. 49].?! Er wird sich wohl denken, dass ich „Muttern“
nicht überall hin mitnehme. Das gienge wohl auch nicht gut, meinen Sie nicht??
Er fürchtet, dass ich für die Fanny Kettlereine der Hauptfiguren in Wedekinds Schauspiel „Hidalla“ (1904), das am 26.9.1905 im Kleinen Theater in Berlin unter der Regie des Direktors Victor Barnowsky Premiere hatte, mit Gertrud Arnold in dieser Rolle. Tilly Newes trat erstmals am 27.10.1905 in der Rolle auf, wie Wedekind im Tagebuch notierte („Hidalla [...] Erstes Auftreten von Tilly Newes“), dann aber am 30.10.1905 nochmals Gertrud Arnold („Hidalla [...]. Letztes Auftreten von Gertrud Arnold“), die sich am 31.10.1905 vom Kleinen Theater verabschiedete („Abschiedsabend von Gertrud Arnold“). Tilly Wedekind erinnerte sich: „Wedekind hatte mich gleich am Anfang für die weibliche Hauptrolle haben wollen, war aber mit diesem Wunsch nicht durchgedrungen“; sie „übernahm“ dann aber doch „diese Rolle, die mir außerordentlich lag.“ [Wedekind 1969, S. 53f.] zu Mädchenhaft,
zu wenig weiblich bin. Ach, bitte, beruhigen
Sie ihn doch darüber! LuluHauptfigur in Wedekinds Tragödie „Die Büchse der Pandora“ (1903), die Tilly Newes in der Wiener Inszenierung gespielt (in geschlossenen Vorstellungen am 29.5.1905 und 15.6.1905) und Wedekind dadurch kennengelernt hat. braucht doch auch starke Weiblichkeit, u. ich
glaube, das bet/s/itze ich | in hohem Maße, wenn ich auch sehr jung u.
sehr schlank bin. Machen Sie ihm das doch begreiflich.
Leider scheint er doch zu ahnen, dass ich Ihnen, wie soll
ich sagen, – auch sonst „sympatischSchreibversehen, statt: sympathisch.“ bin, auch macht er sich von der Fanny
scheinbar eine andre Vorstellung wie Sie. Aber dies alles wird ihn hoffentlich
nicht hindern, mich zu engagieren. Er will morgen | in Berlin mit meinem
Director telephonisch sprechen, der leider in StraßburgOtto Ploecker-Eckardt war Direktor des Frankfurter Residenztheaters und zugleich Direktor des Uniontheaters in Straßburg [vgl. Neuer Theater-Almanach 1906, S. 378]. ist u. wird mir dann
telegraphieren.
Ich brauche Sie wohl nicht aufmerksam zu machen, von meinem
Briefe zu schweigen; er wird ja wohl gleich selbst von mir sprechen, u. dann
lieber Wedekind, beweisen Sie ihm möglichst unauffällig, dass ich
genügend Weib bin, um die Fanny zu spielen. Ich möchte so gern. Aber jetzt, Lebwohl,
es ist schon 1 Uhr! Herzlichst
Ihre Tilly