(Berlin, ohne Datum, 1908Wedekind hat den Brief am 2. oder 3.4.1907 geschrieben (siehe die Hinweise zur Datierung), wie aus dem Briefinhalt und seinen Kontexten hervorgeht..)
Lieber Arthur Holitscher!
Wie wirst Du die letzten Wochen geflucht haben, daß Du auf
Deinen so ungemein lieben herzlichen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Arthur Holitscher an Wedekind, 7.3.1907. Dem Brief dürfte die erste Fassung des Dramas „Der Golem“ (1908) beigelegen haben. gar kein Lebenszeichen von mir
erhieltst. Ich kann Dir nur das eine antworten: Ein Lump thut mehr als er kann.
Ich habe diesen Winter achtzig Mal gespieltWedekind hat am 1.4.1907 in der 80. Vorstellung von Max Reinhardts Inszenierung von „Frühlings Erwachen“ am Deutschen Theater in Berlin (Uraufführung: 20.11.1906) zum letzten Mal den vermummten Herrn gespielt: „Fr. Erw. 80. Ich spiele zum letzten Mal den vermummten Herrn.“ [Tb], keine schwere Rolle, aber danach
fragen die Nerven nicht. Bis vor wenigen Wochen habe ich dabei immer noch
Kleinigkeiten für mich arbeiten können, das ist gänzlich vorbeiWedekind notierte am 9.3.1907: „Ich bin arbeitsunfähig.“ [Tb]. Seit vierzehn
Tagen lese ich keine Zeitung mehr. Vor einiger Zeit war ich bei dem NervenarztWedekind hat in Berlin Dr. med. Richard Cassirer (Tauenzienstraße 7), als „Nervenarzt“ [Berliner Adreßbuch 1908, Teil I, S. 318] ausgewiesen, am 11.3.1907 aufgesucht: „Besuch beim Nervenarzt D. Cassirer.“ [Tb]
Cassirer, weil ich fürchtete, es sei eine Schraube los. Er beruhigte mich, es
sei noch alles fest. Vielleicht trägt die Schuld an dieser Verfassung auch
weniger das Spielen als vielmehr Berlin, diese Riesen-Nerven-Folter. Aber ich
will lieber gleich mit der Thür ins Haus fallen. Ich habe angefangen, den Golem
zu lesen, und fand, was ich las, sehr gut, aber ich bin noch nicht über den
ersten Akt hinaus. Ich werde weiter lesen, sobald ich irgendwie kann. Mit
Kahane sprach ich bei unserer letzten ZusammenkunftWedekind hat Arthur Kahane, Dramaturg bei Max Reinhardt am Deutschen Theater [vgl. Neuer Theater-Almanach 1907, S. 286], also zuletzt am 19.3.1907 getroffen, dem Tag der Uraufführung von Schalom Aschs Drama „Der Gott der Rache“ am Deutschen Theater in Berlin; er hielt fest (ohne das Beisein des Dramaturgen zu vermerken): „Première Gott der Rache. Mit Reinhart im Continental.“ [Tb] über Golem. Er hatte es
noch nicht gelesen, zeigte aber sehr großes Interesse dafür. Nur war gerade
damals die Constellation nicht günstigBeide Stücke, das aktuell gerade am Deutschen Theater uraufgeführte Drama „Der Gott der Rache“ und Arthur Holitschers Drama „Der Golem“, für dessen Aufführung am Deutschen Theater Wedekind bei Arthur Kahane geworben hat, haben eine ausgesprochen jüdische Thematik. Schalom Aschs Stück stand im April 1907 mehrfach in der Woche noch auf dem Spielplan, wie die Theaterprogramme in der Presse ausweisen; insofern war die Konstellation eine etwas andere als am Abend der Uraufführung. Der Autor des „Golem“ durfte sein Stück beim Deutschen Theater einreichen, nach „monatelangem Hinhalten“ wurde ihm aber im „Direktionsbüro des Deutschen Theaters“ mitgeteilt, „daß Bedenken gegen die Annahme des Stückes herrschten [...]. Ich nahm mein Manuskript an mich und verließ das Reich Reinhardts auf Nimmerwiedersehen.“ [Holitscher 1928, S. 60]. Es war am Premierenabend von Gott der
Rache. Jetzt ist Gott der Rache, künstlerisch wenigstens, abgethan; wiewohl es
immer noch ein sehr großer PublicumserfolgDas Publikum der Uraufführung war begeistert, wie Fritz Engels Besprechung zu entnehmen ist [vgl. F.E.: Deutsches Theater. Der Gott der Rache. Drama in drei Akten von Schalom Asch. In: Berliner Tageblatt, Jg. 36, Nr. 144, 20.3.1907, Morgen-Ausgabe, S. (2)]. werden kann. Aber die Constellation
ist insofern günstiger. Wenn Du hier wärst, würde ich Dich bitten, mir den
Golem vorzulesenArthur Holitscher hat Wedekind sein Drama am 7.4.1907 in Berlin vorgelesen, wie Wedekind notierte: „Hollitscher liest mir den Golem vor.“ [Tb] Er hat sich daran erinnert: „Ich las Wedekind ‚Golem‘ in der ersten Fassung vor, und er gab mir während der Vorlesung wertvolle Ratschläge in Bezug auf Kürzungen, schlagkräftigere Herausarbeitung der Pointen des Dialogs. Im übrigen sagte er mir, daß er mich um den Stoff beneidete, und daß das Stück einen großen Bühnenerfolg verspräche. Ich machte mir eifrig Notizen. Und als ich die Vorlesung beendet hatte, wünschte mir Wedekind Glück auf dem Dornenweg, den wir nun sogleich gemeinsam beschreiten wollten.“ [Holitscher 1928, S. 45]. Dann könnte ich sofort in Action treten. Aber ich sage mir doch,
daß jetzt, in der vorgerückten Saison, die Sache nicht so eilt.
Selbstverständlich eilt es mit dem Glück immer! Ich schreibe Dir ja auch die
Zeilen nur, um etwas Zeit zu bekommen. Du weißt, wie entschieden ich mich bei „Am
andern Ufer“ verhaltenDas Drama „Das andere Ufer“ (ungedruckt) ist am 6.12.1901 im Münchner Schauspielhaus uraufgeführt worden (eine zweite Vorstellung gab es am 14.12.1901), wie angekündigt war: „Vorstellung des Akademisch-Dramatischen Vereins: Zum ersten Male: Das andere Ufer. Drama in drei Akten von Arthur Holitscher.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 54, Nr. 562, 4.12.1901, Vorabendblatt, S. 5] Wedekind dürfte sich für die Aufführung durch den Akademisch-Dramatischen Verein (Vorläufer des Neuen Vereins) eingesetzt haben. habe, und soweit kannst Du Dich in dieser Angelegenheit
auch auf mich verlassen. Wenn ich nur erst nicht mehr jeden zweiten oder
dritten Abend spiele, so daß sich wieder etwas Luxus-Energie im Organismus
ansammelt. Ende AprilWedekind reiste dem Tagebuch zufolge am 19.4.1907 nach Wien („Abreise von Berlin“), wo er am 20.4.1907 eintraf („Ankunft in Wien“); sein „Hidalla“-Gastspiel dort begann am 27.4.1907 („Hidallapremiere im Bürgertheater in Wien“). gastiren wir in Wien. Vielleicht sehn wir uns dort und Du
liest mir dort den Golem vor, wenn ich ihn bis dahin nicht längst gelesen habe.
Nein, lieber Holitscher, Berlin ist keine Stadt, in der man selig werden kann.
Ich bitte Dich nur, es nicht weiter zu sagen, da ich meine drei Jahre hierWedekind war seit 1905 in Berlin, also schon im dritten Jahr.
gerne absolviren möchte. Hat Gott den Menschen geschaffen, damit er sein halbes
Leben auf der Stadtbahn sitzt. Welchen Sinn hat das Leben eines Menschen, der
keine Zeit hat? Berlin ist eben keine Stadt, sondern ein trauriger Notbehelf,
Berlin ist ein Conglomerat von Kalamitäten. Also, lieber Holitscher, habe Nachsicht
mit mir. Der Golem scheint mir vollständig ein Stück für das Deutsche Theater
zu sein, große Dramatik. Das PersonenverzeichnisIm Verzeichnis „Personen“ der Buchausgabe sind aufgeführt: „Rabbi Bennahum / Seine Tochter Abigail / Sein Knecht Amina, ein Golem / Ruben Halbstamm, junger Kaufmann / Seine Schwester Taube / Rahel, die Goldschmiedswitwe, mit ihrem Kind / Der ehrwürdige Mardoch, Ältester der Gemeinde / Moschitzig, Narr / Krüppel; Männer, Weiber und Kinder / Schriftgelehrte, Schreiber und Schüler der Schrift / Jünglinge und Mädchen / Sechs Klageweiber; drei Judenmusikanten; Ghettovolk allesamt.“ [Arthur Holitscher: Der Golem. Ghettolegende in drei Aufzügen. Berlin 1908, S. (7)] allein ist entzückend. Ich
werde mich jetzt gleich auf den Divan legen und weiterlesen, kann aber nichts
versprechen, da ich nicht weiß, wann das KlaviergeklimperWedekind litt unter dem Klavierspiel von Anna Meyer in der Wohnung unter ihm und wandte sich an deren Mutter [vgl. Wedekind an Rosa Meyer, 25.10.1907] sowie an seinen Vermieter [vgl. Wedekind an Wilhelm Hamann, 12.4.1907, 14.7.1907 und 28.10.1907]; er hatte eine unüberwindliche Abneigung gegen „Klaviergeklimper“ [Wedekind an Maximilian Harden, 10.9.1913]. unter mir wieder
beginnt. Ich weiß ja, wie furchtbar das Warten ist, aber ob man in Berlin
Erfolg hat oder überhaupt keinen Erfolg hat, das ist beides vollkommen
dasselbe. Man ist als Mensch nicht um ein Haar von einander verschieden.
Die herzlichsten Grüße sendet Dir Dein alter Wedekind.
Meine Tilly läßt Dich bestens grüßen.