Kennung: 2653

Salzburg, 1. März 1914 (Sonntag), Brief

Autor*in

  • Strindberg, Friedrich

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Salzburg 1.3.14.


Lieber Herr Wedekind!

Danke herzlichst für den lieben Brief & die Photographiennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Friedrich Strindberg, 24.2.1914. Bereits im November 1913 hatte sich Friedrich Strindberg eine Porträt-Photographie seines Vaters erbeten [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 7.11.1913]. Dem nicht überlieferten Brief lagen offenbar mehrere Photographien bei, auch solche von Wedekinds Töchtern [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 15.3.1914].! Hier herrscht eine gräßliche KatzenjammerstimmungNiedergeschlagenheit und depressive Verstimmung nach übermäßigem Alkoholgenuss., die das extra unangenehme für sich hat, daß nichts vorhanden ist, was einen „Kater“ hervorrufen könnte. In der Schule haben wir jetzt sogar den „göttlichen HomerLocus classicus dieser verbreiteten Wendung ist Aristophanes: „Βάτραχοι“ (Die Frösche), Vers 1034. kennengelernt, dessen Göttlichkeit höchstens bis jetzt in den gemeinsten, schwersten Satzkonstruktionen oder Vokabeln besteht. –

Die Photographien legte ich dorthin, wohin ich am meisten schaue, in „Frühlings Erwachen“ | und in „Schloß Wetterstein“.

„Die Musik“ wurde, wie ich gelesen habe, von M. Reinhart aufs Repertoire der KammerspieleNach einer zweimaligen Aufführung von Wedekinds Drama „Musik“ im Rahmen des Wedekind-Zyklus vom 1. bis 16. Juni 1912 am Deutschen Theater wurde das Stück 1913 von Max Reinhardt in einer Neuinszenierung unter der Regie des Schauspielers Eduard von Winterstein präsentiert und hatte am 9.10.1913 Premiere: „In den Kammerspielen Berlin Musik mit Winterstein und Eybenschütz.“ [Tb] Es wurde „viermal gespielt und ist außerdem wiederholt auf Gastspielen des Deutschen Theaters zur Aufführung gelangt“ [Frank Wedekind im Repertoire der Reinhardt-Bühnen. In: Blätter des Deutschen Theaters, Jg. 3, Nr. 49, o. D. 1913, S. 792]. gebracht und zwar mit Erfolg. F. Eibenschütz soll als Klara herrlich gespieltCamilla Eibenschütz wurde für die Darstellung der Musikschülerin Klara Hühnerwadel in „Musik“ von der Presse einhellig gelobt [vgl. KSA 6, S. 820]. haben! In Wien hatt sogar „der Kammersänger“ einen kleinen RummelWedekinds Einakter „Der Kammersänger“ war das erste seiner Stücke, das am Wiener Burgtheater aufgeführt wurde (unter der Regie des Direktors Hugo Thimig; Premiere: 31.1.1914) [vgl. Hugo Thimig an Wedekind, 21.1.1914; Wedekind an Hugo Thimig, 27.1.1914] – er wurde, wie der Theaterzettel [zugänglich unter: https://anno.onb.ac.at/] ausweist, als erstes von drei Stücken gespielt; ihm folgten „Boubouroche“ von Georges Courteline (deutsch von Siegfried Trebitsch) und „Literatur“ von Arthur Schnitzler (nicht wie Friedrich Strindberg irrtümlich annahm Schnitzlers Stück „Der einsame Weg“, das am Tag darauf gespielt wurde). Die Presse urteilte: „Wedekind hat mit dem ‚Kammersänger‘ in der künstlerisch vollendeten Darstellung, die ihm das Burgtheater bot, sich als hieher gehörig erwiesen“ [Neues Wiener Tagblatt, Jg. 48, Nr. 32, 1.2.1914, S. 16]. verursacht; eine österreichische Zeitungeine österreichische Zeitung] vermutlich ist hier bereits die „Reichspost“ gemeint (siehe unten). Dort war eine Kritik des Theaterabends im Wiener Burgtheater von Hans Brecka erschienen, die mit den Worten begann: „Man wird sich ihn gut merken müssen, diesen letzten Jännertag des Jahres 1914. Ein geliebtes Theater erklärte sich an diesem Letzten bankerott“ [Reichspost, Jg. 21, Nr. 53, 1.2.1914, Morgenblatt, S. 11]. Ähnlich vernichtend die Kritik des „Novitäten“-Abends auch im „Grazer Volksblatt“, das konstatierte, „das Wiener Hofburgtheater“ gebe sich „allem Anscheine nach die redlichste Mühe, sein so schon mehr als zweifelhaft gewordenes Renommee einer ersten deutschen Bühne endgültig zu zerstören“ [Grazer Volksblatt, Jg. 47, Nr. 45, 7.2.1914, Morgen-Ausgabe, S. 1]. fällte über ihn, über Schnitzlers „Einsamen Weg“ & über „Bourburroug/ch/e“ von …. ein „Todesurteil“als Zitat nicht ermittelt; charakterisiert sein dürfte mit dem Begriff ein Leitartikel, der Wedekinds Werk zu diskreditieren suchte und dazu den Philosophen Johannes Volkelt paraphrasierte: „Was Wedekind forme, werde Mißgeburt und Fratze“, der „Geist dieser hingeschmierten pornographischen Machwerke lasse sich nur als Geist sittlicher Verworfenheit bezeichnen“, seine Stücke seien ein „Schandfleck in der Entwicklung des deutschen Geisteslebens“. Es wurde außerdem missbilligt, dass auf dem Spielplan des Wiener Burgtheaters („des vornehmsten Wiener Schauspielhauses“) „ein Stück von Wedekind: ‚Der Kammersänger‘ eingereiht“ sei, und festgestellt: „die Mehrzahl der Novitäten des gegenwärtigen Spieljahres: [...] Schnitzlers ‚Einsamer Weg‘, ‚Boubouroche‘ von Courteline haben mehr oder minder Geist von Wedekinds Geist.“ Solche „Wedekindereien im Wiener Hofburgtheater“ würden „systematisch den Ruf eines Kunstinstitutes untergraben, auf dem der Duft glanzvoller Vergangenheit liegt […] Das nichtsemitische Wien würde dem Befreier des Hofburgtheaters entgegenjubeln.“ [„Der Menschheit Würde...“. In: Reichspost, Jg. 21, Nr. 76, 15.2.1914, Morgenblatt, S. 1-2] was unter den übrigen Zeitungen ein Gelächter hervorrief! Die „Wiener Arbeiterzeitung“ schriebDas nachfolgende Zitat ließ sich bislang nicht nachweisen. Die sozialdemokratische „Arbeiter-Zeitung“ polemisierte nahezu täglich gegen die Berichterstattung der katholisch-antisemitischen „Reichspost“. : „ob die Reichspe(o)st auch aus das Gute (ihr) mit ihrer Schnautze beschnüfeln wolle“ –

Hoffentlich haben die Königsberger AufführungenWedekinds „Marquis von Keith“ hatte am 28.2.1914 am Stadttheater Königsberg Premiere und wurde dreimal aufgeführt. Frank Wedekind war mit seiner Frau Tilly Wedekind am 24.2.1914 über Berlin nach Königsberg gereist, wo sie für die vorangehenden Proben am 26.2.1914 eintrafen: „Ankunft in Königsberg. Hotel Deutsches Haus ½ 11 Uhr Probe.“ [Tb] Vermutlich hatte Wedekind seinem Sohn von den Gastspielplänen berichtet und ihm möglicherweise auch eine Adresse mitgeteilt, an die Friedrich Strindberg seinen Brief adressieren konnte. guten Erfolg! Daß Karl Kraus sich ob meiner ZuneigungOffenbar hatte Wedekind Karl Kraus mitgeteilt, dass Friedrich Strindberg gerne dessen Lesung in Salzburg besucht hätte [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 13.1.1914 und 18.1.1914] und seinem Sohn von dessen Reaktion geschrieben. Wedekind hatte sich dem Tagebuch zufolge mit dem Kritiker am 13.2.1914 („Treffe Karl Kraus“) und am 14.2.1914 („Spaziergang mit Kraus“) in München getroffen. freut hat mir/ch/ sehr mit Freude erfüllt! Meine SzenenFriedrich Strindbergs Szenenfolge „Menschenrecht“ – „eigentlich sind es nur 5 kleine Arbeiten, denn sie hängen ziehmlich lose zusammen und könnten als Einakter auch existieren“ [Friedrich Strindberg an Wedekind, 17.2.1914]. , die ich nun langsam zusammen stelle & nun bald fertig gestellt habe, freuen mich | sehr, besonders weil sie (d. h. ihre Ideen, die für mein Alter etwas kühn sind) überall Widerspruch erfahren. Das stärkt mein Bewußtsein, da ich glaube, neue Ideen u. sogar ein neues Problem gebracht, letzteres sogar gelöst zu haben. Ich versuchte soviel als möglich Gesichtspunkte hineinzubekommen, mußte aber auch einsehen, daß eine neue Idee gerade nur zum Untergang führte,… also „pleite“ ginghier im übertragenen Sinne für: scheitern..

Üb+/er/ OsternDer Ostersonntag fiel auf den 12.4.1914. Friedrich Strindberg war zu einem Osterbesuch bei Wedekind eingeladen, er besuchte ihn jedoch eine Woche früher und reiste am 4.4.1914 für eine Übernachtung nach München [vgl. Tb]. freue ich mich schon im vorhinaus! Das Lernen ef/r/fährt natürlich durch meine kleinen Versuche nicht die geringsten Störungen, da ich übrigens nur dann schreiber, wenn ich muß; ich las jetzt in letzter Zeit Strindbergs „Vater“ und bin ganz außer mir, daß ein Mensch eine Krankheit, die er selbst hat, so sehr hart aber wahr, ja sogar mit überlegener Ironie darstellen kann. Der Verfolgungswahn des Rittmeisters ist herrlich, seine Frau ein schrecklicher Dummkopf! Mir kommt vor, daß jetzt alles gegen Hauptmann loszieht. Bei uns herüben konstatiert jedes Klatsch|blatt, daß er in seinem „Bogen des Odisseus“Gerhart Hauptmanns Stück „Der Bogen des Odysseus“ wurde am 17.1.1914 am Deutschen Künstlertheater in Berlin uraufgeführt. sein Schlechtestes gebotenDie Kritiken zu Gerhart Hauptmanns Stück „Der Bogen des Odysseus“ fielen gemischt aus. Paul Goldmann lieferte allerdings noch Wochen nach der Uraufführung einen umfangreichen Verriss [vgl. Neue Freie Presse, Nr. 17763, 7.2.1914, Morgenblatt, S.1-3]., Homer gra/e/ulich verhunzt„Kurz und gut, Hauptmann wollte eben den Homer naturalisieren, was er auch symbolisch dadurch ausdrückte, daß er die ganzen fünf Akte in und bei der Wohnung des Sauhirten Eumäos, also in unmittelbarster Nachbarschaft des Schweinekobens, spielen ließ. Ist doch das Schwein das heilige Tier des Naturalismus!“ [Deutsches Volksblatt, Jg. 26, Nr. 8993, 18.1.1914, Morgen-Ausgabe, S. 2] habe, ja man zitiert sogar NietzscheIn seinem Überblicksartikel „Deutsche Dichter in Frankreich“ schrieb Andreas Révék zur Eröffnung der Berliner Freien Bühne: „Einige Wochen später spielt man das Stück eines damals unbekannten Autors: das Drama ‚Vor Sonnenaufgang‘ von Gerhart Hauptmann. Damit beginnt der leidenschaftliche Kampf zwischen den Alten und der Moderne, dessen Ergebnis wir seit langem kennen und genießen. / Später aber flaut der Naturalismus für einige Zeit ab. Nietzsches Invektiven gegen die moderne Kultur und die ‚Bildungsphilister‘ fallen auf fruchtbaren Boden.“ [Pester Lloyd, Jg. 61, Nr. 34, 8.2.1914, S. 22]., um gegen Hauptmann aufzukommen!

Noch viele, herzliche Grüße
mit frohen Glückwünschen für
die Königsberger Aufführung
in Liebe
Friedrich Strindberg

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 13,5 x 18 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Wohin Friedrich Strindberg den Brief adressierte und wo er Wedekind erreichte, ist unklar. Wedekind reiste am 25.2.1914 über Berlin nach Königsberg zu einem Gastspiel; von dort fuhr er am 3.3.1914 nach Bremen; am 10.3.1914 war er zurück in München [vgl. Tb.].

  • Schreibort

    Salzburg
    1. März 1914 (Sonntag)
    Sicher

  • Absendeort

    Salzburg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Königsberg
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 165a
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Friedrich Strindberg an Frank Wedekind, 1.3.1914. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

24.10.2024 10:45