Lieber verehrter Freund!
Zuerst meinen Dank dafür daß Du Frl. Erw. auf
der BühneFritz Basil, nach wie vor Hofschauspieler und Regisseur am Münchner Hoftheater [vgl. Neuer Theater-Almanach 1907, S. 510], plante in München unter seiner Regie eine Inszenierung von „Frühlings Erwachen“, die ‒ veranstaltet vom Neuen Verein ‒ realisiert wurde und mit nur einer geschlossenen Vorstellung (eine zweite wurde von der Zensur nicht genehmigt) am 28.1.1907 im Münchner Schauspielhaus stattfand: „vor den Mitgliedern und geladenen Gästen des Vereins im Schauspielhause“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 60, Nr. 46, 28.1.1907, S. 4]. bringen willst. Ich habe eben das Personenverzeichnis an Ruederer
geschicktHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Josef Ruederer, 3.1.1907. ‒ Beilage war die (verschollene) Abschrift eines im Notizbuch überlieferten vollständigen Personenverzeichnisses von „Frühlings Erwachen“ [vgl. KSA 2, S. 775]. Josef Ruederer war Vorstandsmitglied des Neuen Vereins und dessen langjähriger Vorsitzender (Vorsitzender war inzwischen Wilhelm Rosenthal). und werde morgender 4.1.1907; der Versand des (nicht erhaltenen) Soufflierbuchs von „Frühlings Erwachen“ von Berlin nach München verzögerte sich, da Max Reinhardt zunächst nicht bereit war, es herauszugeben [vgl. Wedekind an Josef Ruederer, 7.1.1907], dann aber offenbar doch [vgl. Wedekind an Josef Ruederer, 9.1.1907]. für Absendung des Soufflierbuches sorgen.
Darf ich nur auf etwas von vorn herein hinweisen. Ich wurde
hier in Berlin erst zur 10. ProbeBei den Proben für die dann äußerst erfolgreiche Uraufführung von „Frühlings Erwachen“ an den Kammerspielen des Deutschen Theaters (Direktion: Max Reinhardt) in Berlin am 20.11.1906 war Wedekind wohl erstmals am 25.10.1906 mit dabei (das war ein Tag nach der Freigabe durch die Zensur) – er notierte: „Vormittags auf der Probe“ [Tb], dann am 27.10. 1906: „Vormittags Probe. Ich arrangiere Kirchhofsscene“ [Tb], am 30.10.1906: „Abends Probe“ [Tb], um erst am 31.10.1906 auch den Titel des Stücks zu notieren: „Fr Erwachen Probe“ [Tb]; von da an bis zum Premierenabend hat Wedekind noch eine ganze Reihe Proben besucht. | zugelassen und fand da eine leibhaftige
wirkliche Tragödie mit den höchsten dramatischen Tönen vor, in der der Humor
gänzlich fehlte. Ich that dann mein möglichstes um den Humor zur Geltung zu
bringen, ganz besonders in der Figur der WendlaDie Rolle der Wendla Bergmann wurde in der Inszenierung von „Frühlings Erwachen“ an den Kammerspielen des Deutschen Theaters (siehe oben) von Camilla Eibenschütz gespielt, Schauspielerin im Ensemble Max Reinhardts [vgl. Neuer Theater-Almanach 1907, S. 287]., in allen Scenen mit ihrer
MutterDie Rolle der Frau Bergmann wurde in der Inszenierung von „Frühlings Erwachen“ an den Kammerspielen des Deutschen Theaters (siehe oben) von Hedwig Wangel gespielt, Schauspielerin im Ensemble Max Reinhardts [vgl. Neuer Theater-Almanach 1907, S. 287]., auch in der letzten„Frühlings Erwachen“ (1906), 3. Akt, 3. Szene [vgl. KSA 2, S. 366-368]., das Intellektuelle, das Spielerische zu heben und
das Leidenschaftliche zu heben dämpfen, auch in | der Schlußscene„Frühlings Erwachen“ (1906), 3. Akt, 5. Szene [vgl. KSA 2, S. 369-376]. auf dem Kirchhof. Ich glaube, daß das
Stück um so ergreifender wirkt, je harmloser, je sonniger, je lachender es gespielt wird. So vor allem der MonologMoritz Stiefels letzter Monolog am Ende des 2. Akts, 7. Szene von „Frühlings Erwachen“ (1906) [vgl. KSA 2, S. 295f.]. von
MoritzDie Rolle des Moritz Stiefel wurde in der Inszenierung von „Frühlings Erwachen“ an den Kammerspielen des Deutschen Theaters (siehe oben) von Alexander Moissi gespielt, Schauspieler im Ensemble Max Reinhardts [vgl. Neuer Theater-Almanach 1907, S. 287]., Schluß vom 2. Akt, den
ich bis auf den Schluß durchaus lustig sprechen ließ. Ich glaube, daß
das Stück, wenn die Tragik und Leidenschaftlichkeit betont wird, leicht abstoßend wirken kann.
Du verzeihst mir, lieber Freund | daß ich Dir diese
Bemerkungen als Ergebnis der hiesigen Einstudierung mittheile. Ich bin sonst
ganz sicher Dich auf der Seite des Lustigen Witzigen gegenüber dem Humorlosen
zu wissen. Aber dann wären sicher Leute gekommen, die Dir vorgeworfen hätten,
Du hättest mich mißverstanden.
Mit den herzlichsten Grüßen an Dich und alle unsere Freunde
und Freundinnen, bin ich Dein
dankbarer Schüler
Frank Wedekind.
Berlin 3.I.7.