Basel
den 27ten Juni 84.
Lieber Franklin!
Von der Stimmung des Gemüths ist oft das Handeln eines
Menschen mehr bedingt als von allen Gründen der Vernunft und Moral, sie läßt
uns Dinge vollführen und unterlassen gleichgiltig ob gut oder schlecht sie
seien. Daß ichSamuel Schaffner, mit dem Wedekind (seit Herbst 1881) das Gymnasium der Kantonsschule Aarau besucht hatte, nahm nach der Matura (10.4.1884) ein Studium der Theologie an der Universität Basel auf, während Wedekind ein Semester Literatur der neueren Sprachen an der Académie de Lausanne studierte. Wedekind verzeichnete den Klassenkameraden und Freund mehrfach in einer chronologischen Namensliste: „1881 [...] Samuel Schaffner“ und „1882 [...] Schaffner“ [Tb nach 22.10.1890]. Dir so lange nicht
geantwortSchreibversehen, statt: nicht geantwortet. Hinweis auf ein nicht überliefertes erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Samuel Schaffner, 1.6.1884. habe, daran ist einfach meine jetzige GemüthsstimungSchreibversehen, statt: Gemüthsstimmung. schuld. Ich
hätte Dir freilich die
Gedichtenicht ermittelt. schon längst senden sollen, allein sie ohne eine Epistel(griech.) ein langer Brief.
irgend welchen Inhalts abzuschicken schien mir natürlich zu philisteriös(Schüler- und Studentensprache) spießbürgerlich../,/ und
da Du ja immer
gegenüber meinen Fehlern, wenn nicht großmüthig so doch mehr oder weniger
unempfindlich gewesen bist, kann ich auch jetzt auf
Deine Geduld hoffen.
Doch da Du mir ohnehin dieses Gehack(schweiz.) im Sinne von überflüssiges Geschwätz. geschenkt hättest, will ich mich möglichst
kurz fassen und in guten Treuen(schweiz.) im guten Glauben.
Deine | Fragen beantworten
Aus verschiedenen Gründen hatte ich als Ort meiner ersten
theologischen Studien Basel gewählt. Man hatte mir dasselbe schon in Aarau wegen der
brillanten Lehrkräfte auf theologischem, der Einfachheit und Solidität auf studentischem Gebiete ganz besonders
empfohlen, zudem kam noch der wichtige Umstand, daß nach meiner damaligen
Ansicht hier diejenigen Theologen gemacht werden die meinem
diesbezüglichen Ideal nicht gar fe/zu/fern stehen. –.
Welche Erwartungen sich verwirklicht welche mich enttäuscht
haben kann, will ich Dir dies mal nicht angeben, nur eines weiß ich bestimmt,
daß meine Lieben zu Hausein Moosleerau, etwa 10 Kilometer südlich von Aarau, wo der Vater Samuel Schaffners Landwirtschaft betrieb., daß unser ehrwürdiger Herr PfarrerRudolf Wernly, der 1882 Stadtpfarrer von Aarau wurde (Nachfolge Emil Zschokke); er hatte in den 1860er Jahren Theologie an der Universität Basel studiert. nicht mehr so hoch von Basel denken würden, wenn
sie wüßten was hier von
Studenten geschieht, von Studenten erzählt, und von Studenten kann mitgemacht
werden – | Meine Collegien gefallen mir fast alle sehr gut, mit Ausnahme
zweier speciell theologisch exegethischer Übungen (Hebräische Sy u n griechische-neutestamentliche Syntax) bei welch letztern
die beiden ProfessorenDas waren der Theologe Rudolf Smend, Professor für Altes Testament an der Universität Basel, der im Sommersemester 1884 eine Vorlesung über hebräische Syntax anbot, sowie Paul Wilhelm Schmidt, Professor für Neues Testament, der über Syntax der neutestamentlichen Sprache las [vgl. „Vorlesungen der Universität im Sommer-Semester 1884“, in: Der Bund, Jg. 35, Nr. 59, 29.2.1884, S. 8].
wie Weilandin der Vergangenheit. Schützlials Lehrer an der Kantonsschule nicht identifiziert.
ud WernliPfarrer Rudolf Wernly war Hebräischlehrer an der Kantonsschule Aarau. in Aarau, ihre
liebe Noth haben daß
ihre Co Vorlesungen besucht und die geforderten Arbeiten abgeliefert
werden. D/E/s ist hierin nur der kleine Unterschied, daß man dem trägen
statt einer langweiligen LamentadeKlage; Gejammer.
und Strafpredigt mit stillschweigendem Lächeln begegnet. Von meinen Professoren
befriedigen mich am meisten Herr von Orelli welcher wissenschaftlich eine ausführliche Archaiologie
von Pälastina dociertKonrad von Orelli, Professor für Altes Testament, las über „Biblische Archäologie“ [vgl. „Vorlesungen der Universität im Sommer-Semester 1884“, in: Der Bund, Jg. 35, Nr. 59, 29.2.1884, S. 8].
und Herr VolkeltDer Philosoph Johannes Volkelt, seit Herbst 1883 an der Universität Basel, hielt Vorlesungen über Darstellung und Kritik der Kantischen Philosophie, Grundzüge der Psychologie (mit besonderer Berücksichtigung der Lehre von den Sinneswahrnehmungen) und Auch bot er ästhetische Übungen im Anschluss an Schiller’s philosophische Aufsätze an [vgl. „Vorlesungen der Universität im Sommer-Semester 1884“, in: Der Bund, Jg. 35, Nr. 59, 29.2.1884, S. 8].
welcher in klarem verständlichen Vortrage die Kant’sche
Philosophie und die Grundzüge der Logik ud Psychologie erläutert. Auch besuche
ich seine praktisch esthetischen Übungen an den Philosophischen Aufsätzen Schillers, daß für mich dabei noch nicht |
allzufi/v/iel herausse/i/eht wirst Du begreifen denn um dieselbe
zu begreifen ud praktisch anwenden zu können, sollte man eben viele positive
Kenntniße ud viel gelesen z/h/aben. Doch genug davon und Fachsimpeln
kann auch in einem Briefe nur langweilig sein. Vielleicht wird es Dich mehr
interessiren etwas
von Deinen alten Bekannten SchlatterAugust Schlatter hatte im Frühjahr 1884 gemeinsam mit Wedekind und Samuel Schaffner das Abitur gemacht.
ud SternTheodor Stern aus Karlsruhe hatte im Winterhalbjahr 1882/83 mit Wedekind, August Schlatter und Samuel Schaffner die III. Klasse besucht [vgl. Theodor Stern an Wedekind, 29.4.1883]. zu
vernehmen Schlatter ist natürlich noch immer ein halber Philisterkleinbürgerlicher Mensch; Spießbürger. und steht bei vielen Collegen nicht
sehr in Achtung, wenn auch mit Unrecht, Aber wo man einmal so viel auf die Form
auf das Äußere auf Schliff ud Comment(Studentensprache) gute Erziehung und Sitte. sieht kann
natürlich ein Mensch wie Schlatter nicht sogleich imponieren. Und wenn er dann
um 10 Uhr statt in den Frühschoppen in eine Metzgerbude läuft eine Wurst kauft und sie h mir
d nichts Dir nichts
auf offener Straße verzehrt, dann sind die Basler Affenpejorativ: eitle Menschen. erst recht
erbittert über solche Dummheit und denken nicht daß ++/v/iele solcher,
origineller natürlicher Menschen für unseren Gesellschaft eine wahre
Wohlthat wären – |
2
Deinen Brief hab ich ihm (mit Verlaub) zu lesen gegeben, Er meint es würde ihm keine
Schwierigkeiten machen einst über jenes/dieses/ Thema
eine Predigt zu halten, nur müsse er
doch einigermassen die Richtigkeit desselben rebus usis(lat.) für die (oder: mit den) benutzten Sachen.!! geprüft haben. Im übrigen wünscht er Dir
Glück zu Deine germanistischen Studienin der griechischen Mythologie ein geflügelte Pferd; hier das Dichterross. in Lausanne und läßt Dir
einen freundlichen Gruß entbieten. Mehr als Schlatter scheint den Baslern
Freund Stern zu gefallen und die Herren VagönggerFagü’ngger (schweiz.) verächtlich für ‚erbärmliche Menschen‘. würden ihn jedenfalls gerne keilen(Studentensprache) Werbung neuer Mitglieder., ob sie etwas
ausrichten weiß ich nicht, es scheint mir daß Sterns Vater punkto Finanzen sehr kargt mit ihm
und ihn überhaupt allzu strenge hält. Wie
er mir mittheilte hat er in Zürich
die Fremdenmaturitätin der Schweiz eine Möglichkeit für Schüler, die wegen schlechter Noten oder unbotmäßigem Verhalten die Schule abgebrochen hatten, als Externe an einem Gymnasium die Maturitätsprüfung abzulegen.
gemacht und zwar
angeblich mit großem Schwein. Ungenügend sollen sich bei ihm keine eingestellt
haben, meist gut ud sehr gut ud selbst in Chemie, PhyikSchreibversehen, statt: Physik. und Naturgeschichte hat er ein gut erworben.
Nos miseros(lat) wir Armen (oder: wir Unglücklichen).!!!
|
Auf den nächsten
Samstagden 5.7.1884. sind wir von der Zofingiaeine nichtschlagende schweizerische Schüler- und Studentenverbindung, die in Zofingen (Aargau) gegründet wurde und an zahlreichen Schul- und Hochschulorten vertreten war. an den Heinrichskommers(schweiz.) Heiri oder Centralheiri; ein feierlicher Umtrunk, den die Baseler Sektion der Zofingia seit 1877 jedes Jahr zu Ehren des Kaisers Heinrich II. im Sommer veranstaltete [vgl. Stefan Hess: Heinrich II. und die „Reichsromantik“. In: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde, Jg. 102, 2002, S. 120-143; ebd. S, 136].
eingeladen. Ich werde nicht gehen da ich nie ud am wenigsten in Zofin
Basel Zofinger werden mag. Denn den vielen hohen Basler Herren, den vielen
hohlen Schädeln mag ich nicht meine Reverenz machen um mich von ihnen gemeistert
oder geduldet zu sehen. Ich wäre vielleicht in
eine andere VerbindungAn der Universität Basel gab es neben der Zofingia noch zwei nichtschlagende Verbindungen, das Schwizerhüsli (1847) für christliche Männer sowie die Rauracia (1863), die nur katholische Männer aufnahm.
eingetreten, in der sich mehrere intelligente Burschen befinden die mehr nach
meinem GeschmakSchreibversehen, statt: Geschmack. – In Aarau war Samuel Schaffner Mitglied der Schülerverbindung Industri, in der auch Wedekind kurzzeitig aktiv war [vgl. Sophie Haemmerli-Marti: Franklin Wedekind auf der Kantonsschule. In: Aarauer Neujahrsblätter (Zweite Folge) Jg. 16, 1942, S. 21-44, ebd. S. 30f.]. sind
und die auch Du vielleicht achten würdest, aber – aus dem einfachen Grunde daß
sie mir zu ––– freisinnig sind werd ich wahrscheinlich nicht eintreten, Du
wirst diesen Grund eher als jeder andere billigen, da Du ja weißt, daß ich micht
aus verschiedenen Gründen nicht der Partei von f/F/reisinnigen
anschließen will kann u. mich auch nicht verstellen kann
will.
Einer meiner
intimsten Freundenicht ermittelt., den Dich b/d/urch das/ie/
Verbindung kennen lernte äußerte sich als ein zukünftiger Theologe nach
langer ernster Besprechung also über Abendmahl
Taufe und Confirmation: |
Taufe und
AbendmahlSakramente des Christentums, deren Auslegung zwischen den zahlreichen Kirchen strittig ist. halte ich für #++üd/PopanzSchreckgestalt, Vogelscheuche; das ursprünglich geschriebene Wort sowie die mehrfachen Überschreibungen sind (fast) nicht mehr entzifferbar, die Überschreibung „Popanz“ hat Samuel Schaffner über der Zeile noch einmal (gut lesbar) geschrieben./ =
Popanz und als solche
gegeben erzeiltSchreibversehen, statt: erzielt. sie nicht den sonst möglichen Effekt.
Statt der Taufe schlage ich einmal für das Kindlein eine recht gründliche
Waschung ud beim Abendmahl für den Commilitonen größere QuantenMenge des bei der Abendmahls-Zeremonie gereichten Weins. vor. Die Confirmation(lat.) Bekräftigung; feierliche Segenshandlung in der evangelischen Kirche, bei der die Konfirmanden und Konfirmandinnen ihre Kirchenzugehörigkeit (Taufe) bestätigen und die Religionsmündigkeit erlangen. will er nur als ein weiteres Lehr und Unterrichtsmittel betrachten.
Daß diese in allem Ernst gesprochne Worte mich empören mußten wirst Du begreiff/e/n;
sintemal(schweiz.) weil; da. Du wie es scheinstSchreibversehen, statt: scheint. bereits als Priester der innern MissionInnere Mission (frz. Mission intérieure), von Johann Hinrich Wichern Mitte des 19. Jahrhunderts gegründete Vereinigungen evangelischer Christen, die es sich zur Aufgabe machten, geistige und leibliche Not von Armen und Kranken durch die Verkündigung des Evangeliums und durch praktische Fürsorge zu lindern. – Über Kontakte zur Mission intérieure Lausanne und tägliche Kirchenbesuche berichtete Wedekind auch nach Lenzburg [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 11.5.1884].
fungiert hast. Es wäre mir sehr lieb wenn Du mir/ch/ etwas näheres hören
ließest über Ursache ud Zweck Deines Auftretens als Apostelnicht bekannt., eventuell auch von die/e/n
Worte des TextesSchreibversehen, statt: Worten des Textes (fehlende Korrektur); der Bibeltext, der einer Predigt zugrunde liegt. mit von der Disposition und hômiletischen ErklärungeAufbau und inhaltliche Schwerpunkte der Predigt.n.
Wenn das so fortgeht bei Dir, kann ja
noch vieles gut werden, kannst Du auch noch zu einem christlichen Theologen promovieren, dem τονποτιεν(griech.) Zaubertrank; nach der christlichen Lehre der beim Abendmahl in das Blut des Religionsstifters (Jesus Christus) verwandelte Wein. ud größere
Quanten, mehr als Taufe und Abendmahl einleuchten. |
Wirst du die Ferien in Lausanne respect. im Wadtlandeder Kanton Waadt zwischen Genfer und Neuenburger See mit dem Hauptort Lausanne. verleben oder gehst
Du heim nach Lenzburg.
Wenn dies letztere der Fall ist, so wäre mir
vielleicht einmal vergönnt Dich zu sehenWedekind kehrte Mitte August 1884 nach Lenzburg zurück, von wo er am 2.11.1884 zum Jurastudium an die Universität München reiste. Dass sich die Freunde in den Semesterferien trafen, ist wahrscheinlich, aber nicht belegt., ud mit Dir einen gemüthlichen Tag zu
verleben wenn Du nicht von so vielen Tanten Cousin’s ud Cousinen Aeltern ud wichtigen Freunden
beansprucht wärest. Und da Du in Lausanne eine so
interessante alte BekannteFrieda Zschokke, namentlich auch in anderen Briefen aus Lausanne erwähnt [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 11.5.1884, Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 11.6.1884 sowie Oskar Schibler an Wedekind, 20.6.1884], hatte im Schuljahr 1883/84 die 2. Klasse des Lehrerinnenseminars in Aarau besucht, war im Januar 1884 abgegangen [vgl. Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar in Aarau. 1883-84, S. 5] und lebte jetzt im Mädchenpensionat von Madam Duplan in Lausanne.
getroffen, dürfte Dir vielleicht nach meiner unmaßgeblichen Meinung der
Aufenthalt am hellblauen Seedem Genfersee, der für seine blaue Farbe berühmt ist. – Die folgende Passage rekurriert auf den gemeinsamen Erdkundeunterricht an der Kantonsschule Aarau bei Friedrich Mühlberg, der einem berühmten Geologen u Eiszeitforscher der damaligen Zeit, der das Juragebirge am Genfersee kartographierte und über die eiszeitlichen Schotterbildungen und die Entstehung des Lössbodens in Aarau publizierte [vgl. Gerhard Ammann u.a.: Friedrich Mühlberg. 100 Jahre «Quellenkarte des Kantons Aargau». Sondernummer aus der Reihe UMWELT AARGAU. Jg. 11, Aarau (1991)]. Hoch geschätzt waren die botanischen und geologischen Exkursionen [vgl. ebd.], die Friedrich Mühlberg mit den Schülern der II. und IV. Klassen, darunter auch Samuel Schaffner und Wedekind, unternahm: „Vorbegriffe der Geologie, in Verbindung mit einigen Excursionen zur Demonstration der geologischen Verhältnisse der Umgegend. Repetitorium einiger Capitel der Naturgeschichte [Programm der Aargauischen Kantonsschule (Schuljahr 1883/84). Aarau 1884, S. 20 (IV. Klasse)]. –Mühlberg hatte (1859) die naturwissenschaftlich ausgerichtete Schülerverbindung Industria Aarau gegründet, in der Schaffner und Wedekind 1882 Mitglieder waren.
unter wassergrünem Himmel, angenehmer sein als unter dem wolkichten Horizont
des Aaregausfrühmittelalterliche Bezeichnung für den Kanton Aargau. als an dem,
durch Schuttablagerungeneiszeitliche Schotterbildungen. Vgl. dazu Friedrich Mühlbergs wissenschaftliche Studie: Ueber die erratischen Bildungen im Aargau und in den benachbarten Theilen der angrenzenden Kantone, ein Beitrag zur Kenntniss der Eiszeit mit einer Uebersichtskarte der erratischen Bildungen. Aarau 1869. sich immer mehr trübenden Wappenstromdas Wappen des Aargaus zeigt auf der rechten Seite drei weiße Wellen, die die Aare symbolisieren. des einstigen Culturstaates. Hat der gute Oschwald die Sache nichtsSchreibversehen, statt: nicht. gewußt nicht vorausahnen
können, oder mußte er mit blutendem Herzen gerade seiner FridaFrieda Zschokke, nicht seine spätere Gattin Erika Wedekind, die sich in jungen Jahren Frieda (ihr erster Vorname) nannte. wegen, statt wie
nach Süden oder Westen wie er geplant hatte seinen Weg nach Osten oder NordenWalther Oschwald, Klassenkamerad von Samuel Schaffner und Frank Wedekind, begann sein Jurastudium im Sommersemester 1884 in München (im Osten von Aarau) und setzte es, wohl ein Jahr später, in Leipzig (nördlich von München) fort. Lausanne, wo sich Frieda Zschokke aufhielt, liegt im Südwesten von Aarau.
lenken!!|
3)
Nun, ich will nicht hoffen daß eitle Schranken dummen Anstandes
die Verliebten Seelen wie gleiche Pole abgestoßen haben, und will nicht hoffen daß
ein böser Mensch durch Einkeilendurch das Einhauen von Keilen den entstandenen Abstand fixieren oder maximieren. diese Schranken
zu vergrößern suche,
obschon man von einem Bösen sich alles gewärtig sein muß. Doch, Gedanken sind
frei und auch die Herzen so lange sie nicht gebunden sind. –––
Du schreibst mir daß Deine Muse ganz steril
geworden, und beweisest mir nolens
volens(lat.) gewollt oder ungewollt. gerade das Gegentheil davon, Entweder Du willst den Dir stets
willigen Pegasusin der griechischen Mythologie ein geflügelte Pferd; hier das Dichterross. zu
einem Riesensprung forcierensteigern., oder Du hast dies in Deiner
allzu großen Bescheidenheit
geschrieben. Wenigstens ist nach meiner/m/ in dieser Sache natürlchSchreibversehen, statt: natürlich. absolut ung/m/aßgebenden
Urtheil das erstere der
Gedichtenicht identifiziert. sowohl in Bezug auf Form als Inhalt (respective Empfindung) eines der trefflichsten die Du
mir seit
langen/m/ gezeigt. |
Es ist freilich das
erste Mal, daß mir in Deinen Poesien eine so weiche, wehmüthige Stimmung
entgegentritt, und zwar in solcher Reinheit ud Wahrheit wie ich sie bei meiner
leider mangelhaften Belesenheit nur bei einem Dichter von solchen/r/
genre’s bei LenauNikolaus Lenau gilt als Klassiker des Weltschmerzes. gelesen. Aber
welche Verschiedenheit
zwischen der Lenau’s ud der Deinigen Lebensanschauung, – zwischen Eueren Charakteren überhaupt. Glaube
mir ich weiß nicht ob ich mich mehr über Deinen Fortschritt
in Poeticis(lat.) im Dichterischen., als über
Deine Geschicklichkeit Dinge zu schildern, die/wenn Du sie nicht fühlst, verwundern soll. So lange wir uns kennenSamuel Schaffner und Wedekind dürften sich im Frühjahr 1880, bald nach Beginn des Schuljahres 1880/81 an der Kantonsschule Aarau, kennengelernt haben. Schaffner besuchte die I. Klasse des Gymnasiums, Wedekind die II. Die Freundschaft begann erst im Herbst 1881, als Wedekind, der im Frühjahr sitzen geblieben war, nach halbjähriger Unterbrechung nach Aarau zurückkehrte und nun mit Schaffner in die gleiche Klasse ging. Beide wurden Mitglieder der Schülerverbindung Industria, aus der Wedekind am 30.10.1882 wieder austrat. habe ich Dich wenigstens nie in einer so sentimentalen GemüthsstimungSchreibversehen, statt: Gemüthsstimmung. – Die „Misstimmung“ Wedekinds thematisiert Oskar Schibler ausführlich [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 20.6.1884]. beobachten
können. Wie es auch immer darum stehn mag das eine freut mich so viel wie das andere. Ein Poet der
solche Phantasie ud Geschicklichkeit zeigt, so viel Gemüth und weiches Gefühl zugleich für Sachen der Lust, der
Freude, der Sehnsucht, der
Trauer! |
Wäre nicht das etwas unpoetische Verzichten zu Anfang des
Gedichtes ud der/as/ fatale Verhängniß das den/ie/ letzte Strophe
unvollendet ließ, ich würde könnte das Poem in/als/ untadelhaft,
unübertrefflich bezeichnen. –
Weniger
entzückt bin ich von dem
zweiten Gedichtchennicht identifiziert.; zwar find ich auch hier die Form correct, und derSchreibversehen, statt: den. Bau der Strophen ganz
trefflich jedoch der Inhalt sagt mir gar nicht zu. Der Mensch der so sprechen
kann gleicht entweder einem einem Schmetterling der aus Instinkt von
Blume zu Blume flattert, u weder auf die Stacheln noch Dornen obacht gibt, wenn er
nur von derem Saft einmal gekostet hat, seinen Rüssel nur einmal in derenn verlokendenSchreibversehen, statt: deren verlockenden. Kelche
getaucht hat –––
Oder
er gleicht jenemSchreibversehen, statt: jenen.
Lichtschwärmern die unempfindlich sind, für das belebende, goldene Licht der/ein/er Sonne, um am grell zündenden Licht einer/der/
Laternen sich für immer ihre Flügel zu
verbrennen, |
Ganz abgesehn davon daß Liebe eben nicht Sache einer kalten
erwägenden Vernunft ist – möchte ich Dich nur an das/ie/ Worte Deines Lieblingsdichters
Heine erinnern, der
seinen RückenSamuel Schaffner bezieht sich auf Heines Aphorismus „Die deutschen Öfen wärmen besser als die französischen Kamine, aber daß man hier das Feuer lodern sieht, ist angenehmer; ein freudiger Anblick, aber Frost im Rücken – Deutscher Ofen, wie wärmst du treu und scheinlos!“ [Heine: Deutsche und französische Frauen, in: Heinrich Heine’s Sämmtliche Werke. Bd. 8, Hamburg 1876, S. 210: Gedanken und Einfälle. IV. Staat und Gesellschaft]. auch wah lieber
am unscheinbaren deutschen Ofen zu wärmen wünschte als an dem glänzend strahlenden französischen
Kamin. Und Heine lebte doch in Paris hatte sich wenig über Kälte zu beklagen. –––
Daß wir in dieser Hinsicht nicht gleiche Ansichten haben ist
Dir schon längst bekannt, und ich glaube, daß vielleicht die Deinige, wenn auch
nicht die, Dir als Poet zukommende, idealere, so doch dieStreichung durch Unterpunktung wieder aufgehoben. weitaus praktischere ist. Nach wenigen
Jahren über etwas verächtlich die Achsel zucken, das man einst geliebt
angebetet hat, eine solche metathesis(griech.) Wechsel der Position.
geht einstweilen noch über meinen
Horizont hinaus. |
4).
Daß sich bei mir solche Gedanken nicht einschlei/ei/chen
werden will ich Dir sogleich zeigen durch die nachfolgende Reimerei zu der ich
aus lautee/r/ Verliebtheit und Sehnsucht gekommen bin, und welche gewiss anh in Bezug auf
Liebesbezeugung ud Standhaftigkeit den bekannten
Citaten aus der II.
schlesischen SchuleDiese Epoche der Literaturgeschichte (1660-1725), deren Hauptvertreter Daniel Caspar von Lohenstein und Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau sind, ist, dem damaligen Schulbuch der Kantonsschule Aarau (Klasse IV) [vgl. Programm der Aargauischen Kantonsschule Schuljahr 1883/84, S. 20] zufolge, durch die Merkmale bestimmt, „daß vorherrschend grobsinnliche Stoffe zur Bearbeitung kamen“ und „daß Schwulst und Uebertreibungen in der Sprache Ueberhand nahmen“ [Werner Hahn: Geschichte der poetischen Litteratur der Deutschen. 8. verb. Aufl. Berlin 1877, S. 127].
((1öffnende Klammer über diese und die folgende Zeile; darüber öffnende Klammer über diese und die folgenden zwei Zeilen.) Der HimmelGemeint sind die im Schulbuch zitierten Verse „Der Himmel blase nun in unsre Liebesflammen, / Es weh uns dessen Gunst Zibeth und Bisem zu [...]“, die Emma (Tochter Karls des Großen) an Eginhard schreibt [zitiert nach Werner Hahn: Geschichte der poetischen Litteratur der Deutschen. 8. Aufl. Berlin 1877, S. 128]. weh in unsre Liebesflamme u. s. w.)schließende Klammer über diese und die folgenden zwei Zeilen.
2) Erd, Himmelin Anlehnung an das Schulbuchzitat aus Graf Gleichens Heldenbriefen: „Die Rauhigkeit der Luft, Stein, Wasser Berg und Hecken, / Wild, Regen, Nebel, Schnee, Wind, Hagel, Eis und Frost, / Durst Hunger, Finsterniß, Sand, Wüste, Furcht und Schrecken / Trieb ihren Vorsatz nicht aus der getreuen Brust“ [Werner Hahn: Geschichte der poetischen Litteratur der Deutschen. 8. Aufl. Berlin 1877, S. 128]., Regen, Donner Schnee u Hagel u. s.
nicht nachkomme/stehe/n werden:
An – – –
1) Du holdes Lieb, in wie viel schweren Stunden,
Wo herber Schmerz mein krankes Herz bewegt,
Ließ bald ein Blick aus Deinem Auge mich gesunden
Ließ fliehen allen/jeden/ Kummer der meine Seel’ erregt.
2)
Du holdes Lieb, in wie viel frohen Stunden,
Wo Freude mich ud Wonne sanft umstrickten,
Hat Himmelslust meine Herze stets empfunden
Wenn freudlich Deine
Augen in die meine
blickten.
3) Du holdes Lieb, ach wie viel bange Stunden
Da hin zu Dir mich heft’ge Sehnsucht zieht
Hat keine Ruh’ mein armes Herz gefunden
Weil Hoffnung auf ein
Wiedersehen trostlos flieht. |
Aufgepaßt es kommt noch ein Gang!
Du holdes Kind/Lieb/, nach vielen Trennungsstunden
Nein halt! Wenn mich momentan auch niemand stört oder allzu sehr zerstreut so
will ich doch nicht fortfahren Entweder Du siehst den/ie/ ganze Litaneiendlos monotone Aufzählung. als einen SpuckSchreibversehen, statt: Spuk. an wie er im Gehirn
eines sterblich Verliebten entstehen kann, oder Du lachst über die herd/rl/ichen
Reime – u. in beiden Fällen habe ich Dir genug geboten.
–––
Deine Lieben Kleinen werde ich Dir zugleich schicken, und
ich hoffe Du werdest mich deß wegen entschuldigen daß ich Dir sie so lange nicht gesendet habe.
Ich wußte nicht einmal ob Du eigentlich in Lausanne oder in Genf studierst. Bist Du
denn wirklich immer solid wie Du Dir den Anschein gibst, warst Du vielleicht
auch schon in GenfWedekind unternahm erst im August 1891 eine Reise nach Genf [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 47]. es
soll dort sehr schön sein wie Göthe in seineSchreibversehen, statt: seinen.
SchweizerreisenGoethe beschrieb in seinen „Briefen aus der Schweiz“ (1779) die Gebirgslandschaft des Genfer Jura. erzählt
und ich glaube kaum daß Du nicht schon alles schöne und würdige
besuchenSchreibversehen, statt: besucht. ud besehen
hast!! |
Den Verlobten
von Fräulein HaberstichJohanna Rosa (Hanna) Haberstich, Tochter des Politikers und Rechtsanwalts Johannes Haberstich in Aarau und der Rosina Elisabeth Holzach aus Basel.
habe ich schon mehrmals
gesehenFriedrich Albert Schetty war Kaufmann und Bürger von Basel. Das Paar heiratete am 24.9.1884 [vgl. Stadtarchiv Aarau, Bürgerregister Aarau, S. 2128]., er ist schön, reich, wie ich von Freunden vernommen nicht allzu
intelligent, sonst frisch ud lebenslustig und wird die schöne, geilstigeDas l ist fünfmal durchgestrichen.
Hanna jedenfalls in keiner Hinsicht unbefriedigt lassen. –––
Sonstiges hab ich Dir nicht mitzutheilen, wenn wir einmal
beisammen plaudern ud scherzen können, will ich Dir dann auch eine lustige historie
von einem aufgeklärten Kantonsschüler erzählen von dem man singen und sagen
kann:
Einst zogin Anlehnung an die Verse „Er [der Knab] stürmt ins Leben wild hinaus, [...] Fremd kehrt er heim ins Vaterhaus,“ aus Schillers Dichtung „Das Lied von der Glocke“.
als Knab er froh hinaus,
Und kehrt als ... ins Vaterhaus –.
Wenn Du mir allenfalls recht
bald vor den Ferien einige Zeilen zu kommen lasssest und ich hoffe es des
bestimmtesten, so sei so gut und sende mir neben vielen neuen Poemata | Deine MarianneDas Gedicht „Marianne (Ein Schnaderhüpfel)“ [KSA 1/I, S. 129-131], im Frühjahr 1884 von Wedekind im Heft „Stunden der Andacht“ mit dem Hinweis „Frühling 1881, an Bickels Abschiedswix“ [KSA 1/II, S. 1833ff.] aufgenommen, dürfte Samuel Schaffner bei diesem Anlass kennengelernt haben. Bickel war der Biername des Aarauer Kantonsschülers Emil Kern, der die Gewerbeschule besuchte, 1879 zum Kantusmagister des Kantonsschülerturnvereins gewählt worden war [für den Hinweis danke ich Daniel Pfister (KTV Aarau)] und ein halbes Jahr vor dem Abitur (im Frühjahr 1881) die Schule verlassen hatte [vgl. Programm der Aargauischen Kantonsschule Schuljahr 1880/81, S. 13 u. Schuljahr 1881/82, S. 7]. Bei seinem Abschiedsumtrunk dürfte „Marianne“ in der Urfassung („Laßt froh uns nun leben“ [vgl. KSA 1/IV, S. 958-961) erstmals gesungen worden sein. – Auf Emil Kern hatte Wedekind 1880 das Spottgedicht „Sonderbar. In aller Ehrfurcht gewidmet unserem neuen Dichter Bickel“ [vgl. KSA 1/I, S. 49f.] verfasst. ud das Lied„War wohl je ein Mensch so frech“ (anonym, 1844) – Lied zum versuchten Attentat des ehemaligen Storkower Bürgermeisters Ludwig Tschechs auf König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen am 26.7.1844, das Wedekind bei einer Vorstellung des politischen Kabaretts Die Elf Scharfrichter am 10.11.1902 in München (Türkenstraße 28) neben eigenen Werken vortrug [vgl. KSA 1/III, S. 498]. vom Bürgermeister Tzech
sofern Du es im Gedächtniß hast. Für Deine gütigst geliehnen Gedichte empfange vorläufig meinen
besten Dank.
In Erwartung baldiger AntwortWedekinds Antwort ist nicht überliefert, freundschaftliche Beziehungen bestanden aber mindestens bis zum Jahr 1889 [vgl. Tb 5.9.1889 sowie Samuel Schaffner an Wedekind, 4.6.1887].
Grüßt Dich herzlich Dein
S. Schaffner stud,
theol
Burgfelderstraße I.