Saxen
Ob. Oesterreich, Lokalbahn
Mauthausen.
Geehrter Herr Wedekind!
Es ist doch recht schade, daß Sie, um einer irrigen
Voraussetzung willen, erstlich sich beunruhigen u. unsDer Brief ist nicht unterschrieben; Briefpapier, Ortsangabe und Kontext verweisen auf Marie Uhl als Autorin, die hier jedoch auch im Namen ihrer Mutter Marie Reischl schreibt. Diese hatte die Korrespondenz mit Wedekind in ähnlicher Weise begonnen [vgl. Marie Reischl an Wedekind, 16.11.1901]. den Genuß
an Ihrem Schreibennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Marie Reischl, 23.11.1901. Wedekind begründete die Absage der Einladung, seinen Sohn Friedrich Strindberg in Dornach zu besuchen, anscheinend nach einem ersten Schreiben (siehe die folgende Erläuterung) ein zweites Mal nach seiner Rückkehr von Wien nach München am 22.11.1901, als er um den Misserfolg seines Wiener Gastspiels wusste. bedeutend rauben. Schon in Ihrem ersten Briefenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Marie Reischl, 17.11.1901. Wedekind sagte die Einladung zu einem Besuch in Dornach vermutlich unmittelbar von Wien aus ab und ließ später ein weiteres Schreiben mit einer ähnlichen Begründung folgen. fand sich
dieses falsche LeitmotivIn der Musik verbreitetes Darstellungsmittel einer wiederkehrenden, prägnanten Tonfolge zur Charakterisierung von Personen oder Situationen. Wedekind muss in beiden Briefen seine ökonomische Situation beklagt haben und fürchtete (als ‚irrige Voraussetzung‘) offenbar, zu Unterhaltszahlungen für seinen Sohn genötigt zu werden., u. nun tritt es geradezu ohrenzerreißend für uns auf.
Wir sind gänzlich unschuldig an Ihrem Jammer. Gewiß brauchten Sie viel mehr
Mühe in Anwendung zu
bringen uns zu überzeugen, daß Sie zu den „Satten“ gehören, selbst wenn Ihre
ErfolgeBeide Bühnenprojekte Wedekinds waren ein Misserfolg: Sein Gastspiel als Liedersänger zur Eröffnung des von Felix Salten gegründeten Jung-Wiener Theaters Zum lieben Augustin im Theater an der Wien vom 16.11.1901 bis 22.11.1901 und die Uraufführung des „Marquis von Keith“ am 11.10.1901 im Rahmen des 2. Literarischen Abends am Residenztheater in Berlin unter der Regie von Martin Zickel. Wedekind bezeichnete das eine als ‚lächerlichen‘, das andere als ‚grandiosen Durchfall‘ [vgl. Wedekind an Beate Heine, 10.3.1902]. in Wien u. Berlin auf den |
Höhepunkt gestiegen wären, denn „man“ kennt ja das fahrende, spielende,
singenden u. schreibende Ritterthum, das sich wohl manchmal satt trinken, aber
niemals zu sättigen vermag. Bitte, wir haben uns Ihnen ganz formlos genähertMarie Reischl hatte Wedekind eingeladen, seinen 4-jährigen Sohn Friedrich Strindberg von Wien aus in Dornach zu besuchen [vgl. Marie Reischl an Wedekind, 16.11.1901]. Wedekind hatte seinen Sohn zuletzt im Juli 1898 in Tutzing bei seiner Mutter Frida Strindberg besucht [vgl. Frank Wedekind an Beate Heine, 19.7.1898 und 27.7.1898].,
ohne verdächtige Absichten auf Ihre arme leere Börse, wir hatten etwas höheres
im Auge, das hehre Glück, einem Vater sein Kind vorzustellen, u. in der
freudenvollen Befriedigung desselben, den Lohn für alle Mühen u. AufopferungenFriedrich Strindberg wuchs seit 1899 in der Obhut seiner Großmutter Marie Uhl im oberösterreichischen Saxen und bei seiner Urgroßmutter Marie Reischl im benachbarten Dornach auf.
einzuheimsen. Und dann, wir lieben die KinderchensBereits 1896 hatte Frida Strindberg ihre Tochter Kerstin Strindberg aus der Ehe mit August Strindberg ihrer Mutter überantwortet., es schmerzt uns für sie, daß sie elternlos sind,
wie gerne würden wir ihnen |
dieselben geben, wenn es in unserer Macht stünde. Da hat erst vor kurzem die CherstiKosename für Kerstin [vgl. Marie Uhl an Wedekind, 10.11.1913]., als sie
sah, daß ihre Gespielin von ihrem bislang getrennten Vater für zwei Tage
abgeholt wurde, so
furchtbar geweint, sie selbst wußte nicht warum, aber ich erkannte es sofort,
es war die Sehnsucht nach ihrem Papa, den sie als er einmal längere Zeit bei
uns verweilte, abgöttisch liebte – sie war damals 2 Jahre, aber sie vergißt ihn
niemals – und der kleine Fritzi gab jedesmal, wenn ihn die Leute fragten , wo
ist dein Papa, wo ist
deine Mama, die mich auf’s äußerste verwundernde Auskunft: Gestorben! Und
niemand hat ihm das je gesagt, Wer würde auch einem Kinde | solch verletzende
Erklärung über den Verbleib seiner Eltern geben.
Geld u. Gut wird Fritzi von seinem Vater wohl nie bekommen,
aber gewiß seine Liebe u. viell. väterliche Führung, wer weiß was noch Alles, ein Vater
ist doch die Quintessenz der Güte für sein Kind. Freilich Frida! das ist ein trauriges Kapitel,
ein armes Kind, das beklagenswerteste Resultat vorausgegangener schlimmster
Ursachen, die ganze Familie ist erotisch, das arme Kind ist schuldlos an seinem
Elend u. kann sich nicht helfen. Bitte, es bleibt unter uns, denn Sie kennen ja
doch ihren traurigen Zustand. Ich bin nur so glücklich zu wißen, daß sie lebt,
mag es sein wie immer, Kind bleibt Kind. Und so danke ich Ihnen hrzl. für Ihre freundl. Bemühung um Fridas
ErmittlungMarie Reischl hatte Wedekind um die Mitteilung des Aufenthaltsortes von Frida Strindberg gebeten [vgl. Marie Reischl an Wedekind, 16.11.1901]..
Unsere besten Grüße