[1. Briefentwurf:]
Sehr geehrter Herr!
Sie beehren mich mit der Anfrage, ob ich an dem vom Göthebund
in Dresden veranstalteten Vortragsabend nicht einige Lieder zur Guitarre
vortragen könne, was Sie freudig begrüßen würden. So sehr mich Ihr Vorschlag
freut und ehrt und sogern ich ihn
befolgen würde, glaube ich doch im Hinblick auf die unüberwindlichen
Hindernisse, die sich dem Bekanntwerden meiner ernsten Arbeiten
entgegenthürmen, davon abstehen zu müssen. Sollte sich die DrednerSchreibversehen, statt: Dresdner. Zensurbehörde zu bereit finden, „die Büchse
der Pandora“ oder „Totentanz“ für öffentliche Aufführungen frei zu geben, dann
würde ich mich nicht einen Augenblick besinnen | vor den Mitgliedern des Göthebundes
auch als Bänkelsänger zu erscheinen. So w/W/ie die Dinge aber tatsächlich liegen hätte ich einem
solchen Unterfangenzuerst gestrichen, durch Unterpunktung wieder hergestellt. Wagnis bei den maßgebenden
Persönlichkeiten nur eine um so geringere Einschätzung als Mensch und als Künstler Schriftsteller zu verdanken. Die
grauenvolle Humorlosigkeit unserer Zeit schaltet die Vorstellung völlig aus,
daß sich ein Mensch jemand, der sein ganzes Leben
der Bewältigung ernster ethischer und künstlerischerdurch Ziffern („3“ über „künstlerischer“, „2“ über „und“, „1“ über „ethischer“) markierte Umstellung der ursprünglichen Reihenfolge („künstlerischer und ethischer“). Aufgaben widmet auch
mit dem Vortrag von Moritaten Schwänkenirrtümlich nicht gestrichen. befassen kann nebenbei mit dem Vortrag von Schwänken abgiebt
Deshalb kam ich zu dem Entschluß, meine Guitarre nicht
eher erst dann wieder zur Hand zu nehmen
als bis wenn die Behörden der/n/ Vor Aufführungen meiner
Dramen keine Hindernisse mehr in den Weg legen.
In vorzüglichster
Hochschätzung
I ergeb Ihr ergebener |
[Text über der
durchgezogenen Linie durch Streichung insgesamt getilgt:]
daß sich ein Mensch auch mit dem Vortrag von Schwänken
befassen kann, der den Anspruch erhebt
daß ein Mensch, der sich mit dem Vortrag von Schwänken befaßt
abgiebt, sein Leben
m [Textlücke]
Weise der Bewältigung ernster ethischer und künstlerischer Aufgaben widmet
‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒
Fr.W. hat sendet dem VorstandDer 1900 gegründete Dresdner Goethebund, verpflichtet der „Verbreitung ästhetischer Bildung“ [Adreßbuch für Dresden 1909, Teil II, S. 158], hatte als Vorsitzenden Richard von Freiherr von Mansberg (Oberstleutnant a.D., Schriftsteller) [vgl. Adreßbuch für Dresden 1909, Teil I, S. 565], als Schriftführer Prof. Dr. Paul Schumann (Schriftsteller, verantwortlicher Redakteur am „Dresdner Anzeiger“) [vgl. ebd., S. 857], als Schatzmeister Dr. phil. Alfred Stößel (Schriftsteller, Vorsitzender der Elektra Aktiengesellschaft) [vgl. ebd., S. 907]. Diese drei Herren bildeten den Vorstand, solange der Dresdner Goethebund existierte.
des Göthebundes in Dresden folgende Zeilen.
[2. Druck:]
Sehr geehrter Herr!Richard von Mansberg, Paul Schumann oder Alfred Stößel ‒ wen Wedekind bei der Anrede im Blick hatte, kann nicht sicher gesagt werden (unklar ist, wer der drei Vorstandsmitglieder des Dresdner Goethebundes Wedekind angeschrieben hatte). Nach seinem Vortrag in Dresden am 13.3.1909 (siehe unten) saß Wedekind bei der Gesellschaft im Palais de Saxe (das ist das noble Hôtel de Saxe) „mit Dr. Stössel“ [Tb] am Tisch. Sie beehren mich mit der Anfragenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Dresdner Goethebund an Wedekind, 6.2.1909., ob ich
an dem vom Goethe-Bund in Dresden veranstalteten VortragsabendWedekind war am 13.3.1909 zum „Vortrag“ [Tb] auf Einladung des Dresdner Goethebundes im Künstlerhaus in Dresden (Beginn 20 Uhr); er las aus „Die Zensur“ und „Totentanz“ – ein erstmals am 25.11.1908 in München präsentiertes Programm [vgl. Wedekind an Emil Gutmann, 21.11.1908]. Die Besprechungen der Lesung spielten an auf Wedekinds offenen Brief an den Dresdner Goethebund. „Der Goethe-Bund wollte seinen Mitgliedern etwas Besonderes bieten und hatte den in München lebenden Dichter Frank Wedekind zu einem Vortragsabend eingeladen. Man hatte eigentlich um Lieder zur Laute gebeten, aber Wedekind hatte die Zeit für Spiel und Tanz für ungeeignet gehalten, zumal seine Büchse der Pandora in Sachsen noch zu den verbotenen Stücken gehöre.“ [Dresdner Nachrichten, Jg. 53, Nr. 74, 15.3.1909, S. (3) „Frank Wedekind las am Sonnabend im Dresdner Goethebund einige seiner Dichtungen vor. Er hatte vor kurzem die Freigabe seiner ‚Büchse der Pandora‘ zur Bedingung für sein Kommen gemacht; auch jetzt begann er mit einem indirekten Appell an die Zensur […], um im zweiten Teil die glänzende Tragikomödie des Moralisten, den ‚Totentanz‘, zu bringen.“ [Dresdner Neueste Nachrichten, Jg. 17, Nr. 72, 16.3.1909, S. 2] nicht einige
Lieder zur Gitarre vortragen könne, was Sie
freudig begrüßen würden. So sehr mich Ihr Vorschlag freut und ehrt und so gern
ich ihn befolgen würde, glaube ich doch im Hinblick auf die unüberwindlichen
Hindernisse, die das Bekanntwerden meiner ernsten Arbeiten unmöglich machen,
davon abstehen zu müssen. Sollte sich die Dresdner Zensurbehörde bereitfinden, „Die Büchse der Pandora“
oder „Totentanz“
für öffentliche Aufführungen frei zu gebenDie Zensur hat „Die Büchse der Pandora“ für Dresden nicht freigegeben (das Stück wurde dort erst 1919 aufgeführt), auch nicht den „Totentanz“ (das Stück wurde in Dresden erst 1922 aufgeführt), aus dem Wedekind aber am 13.3.1909 bei seinen Vortragsabend in Dresden las (siehe oben)., dann würde ich mich nicht einen
Augenblick besinnen, vor den Mitgliedern des Goethe-Bundes auch als
Bänkelsänger zu erscheinen. Wie die Dinge aber tatsächlich liegen, hätte ich
einem solchen Unterfangen bei den maßgebenden Persönlichkeiten nur eine um so
geringere Einschätzung als Mensch und als Schriftsteller zu verdanken. Die
grauenvolle Humorlosigkeit unserer Zeit schaltet die Vorstellung völlig aus,
daß sich jemand, der sein Leben der Bewältigung ernster ethischer und
künstlerischer Aufgaben widmet, nebenbei mit dem Vortrag von Schwänken abgibt.
Deshalb kam ich zu dem Entschluß, meine Gitarre nicht mehr zur Hand zu nehmen,
so lange die Behörden den Aufführungen meiner Dramen noch Hindernisse in den
Weg legen.