Kennung: 2528

München, 8. Februar 1909 (Montag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Goethe-Bund Dresden, (Verein)

Inhalt

[1. Briefentwurf:]


Sehr geehrter Herr!

Sie beehren mich mit der Anfrage, ob ich an dem vom Göthebund in Dresden veranstalteten Vortragsabend nicht einige Lieder zur Guitarre vortragen könne, was Sie freudig begrüßen würden. So sehr mich Ihr Vorschlag freut und ehrt und sogern ich ihn befolgen würde, glaube ich doch im Hinblick auf die unüberwindlichen Hindernisse, die sich dem Bekanntwerden meiner ernsten Arbeiten entgegenthürmen, davon abstehen zu müssen. Sollte sich die DrednerSchreibversehen, statt: Dresdner. Zensurbehörde zu bereit finden, „die Büchse der Pandora“ oder „Totentanz“ für öffentliche Aufführungen frei zu geben, dann würde ich mich nicht einen Augenblick besinnen | vor den Mitgliedern des Göthebundes auch als Bänkelsänger zu erscheinen. So w/W/ie die Dinge aber tatsächlich liegen hätte ich einem solchen Unterfangenzuerst gestrichen, durch Unterpunktung wieder hergestellt. Wagnis bei den maßgebenden Persönlichkeiten nur eine um so geringere Einschätzung als Mensch und als Künstler Schriftsteller zu verdanken. Die grauenvolle Humorlosigkeit unserer Zeit schaltet die Vorstellung völlig aus, daß sich ein Mensch jemand, der sein ganzes Leben der Bewältigung ernster ethischer und künstlerischerdurch Ziffern („3“ über „künstlerischer“, „2“ über „und“, „1“ über „ethischer“) markierte Umstellung der ursprünglichen Reihenfolge („künstlerischer und ethischer“). Aufgaben widmet auch mit dem Vortrag von Moritaten Schwänkenirrtümlich nicht gestrichen. befassen kann nebenbei mit dem Vortrag von Schwänken abgiebt

Deshalb kam ich zu dem Entschluß, meine Guitarre nicht eher erst dann wieder zur Hand zu nehmen als bis wenn die Behörden der/n/ Vor Aufführungen meiner Dramen keine Hindernisse mehr in den Weg legen.

In vorzüglichster Hochschätzung
I ergeb Ihr ergebener
|


[Text über der durchgezogenen Linie durch Streichung insgesamt getilgt:]

daß sich ein Mensch auch mit dem Vortrag von Schwänken befassen kann, der den Anspruch erhebt

daß ein Mensch, der sich mit dem Vortrag von Schwänken befaßt abgiebt, sein Leben

m [Textlücke] Weise der Bewältigung ernster ethischer und künstlerischer Aufgaben widmet

‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒‒

Fr.W. hat sendet dem VorstandDer 1900 gegründete Dresdner Goethebund, verpflichtet der „Verbreitung ästhetischer Bildung“ [Adreßbuch für Dresden 1909, Teil II, S. 158], hatte als Vorsitzenden Richard von Freiherr von Mansberg (Oberstleutnant a.D., Schriftsteller) [vgl. Adreßbuch für Dresden 1909, Teil I, S. 565], als Schriftführer Prof. Dr. Paul Schumann (Schriftsteller, verantwortlicher Redakteur am „Dresdner Anzeiger“) [vgl. ebd., S. 857], als Schatzmeister Dr. phil. Alfred Stößel (Schriftsteller, Vorsitzender der Elektra Aktiengesellschaft) [vgl. ebd., S. 907]. Diese drei Herren bildeten den Vorstand, solange der Dresdner Goethebund existierte. des Göthebundes in Dresden folgende Zeilen.


[2. Druck:]


Sehr geehrter Herr!Richard von Mansberg, Paul Schumann oder Alfred Stößel ‒ wen Wedekind bei der Anrede im Blick hatte, kann nicht sicher gesagt werden (unklar ist, wer der drei Vorstandsmitglieder des Dresdner Goethebundes Wedekind angeschrieben hatte). Nach seinem Vortrag in Dresden am 13.3.1909 (siehe unten) saß Wedekind bei der Gesellschaft im Palais de Saxe (das ist das noble Hôtel de Saxe) „mit Dr. Stössel“ [Tb] am Tisch. Sie beehren mich mit der Anfragenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Dresdner Goethebund an Wedekind, 6.2.1909., ob ich an dem vom Goethe-Bund in Dresden veranstalteten VortragsabendWedekind war am 13.3.1909 zum „Vortrag“ [Tb] auf Einladung des Dresdner Goethebundes im Künstlerhaus in Dresden (Beginn 20 Uhr); er las aus „Die Zensur“ und „Totentanz“ – ein erstmals am 25.11.1908 in München präsentiertes Programm [vgl. Wedekind an Emil Gutmann, 21.11.1908]. Die Besprechungen der Lesung spielten an auf Wedekinds offenen Brief an den Dresdner Goethebund. „Der Goethe-Bund wollte seinen Mitgliedern etwas Besonderes bieten und hatte den in München lebenden Dichter Frank Wedekind zu einem Vortragsabend eingeladen. Man hatte eigentlich um Lieder zur Laute gebeten, aber Wedekind hatte die Zeit für Spiel und Tanz für ungeeignet gehalten, zumal seine Büchse der Pandora in Sachsen noch zu den verbotenen Stücken gehöre.“ [Dresdner Nachrichten, Jg. 53, Nr. 74, 15.3.1909, S. (3) „Frank Wedekind las am Sonnabend im Dresdner Goethebund einige seiner Dichtungen vor. Er hatte vor kurzem die Freigabe seiner ‚Büchse der Pandora‘ zur Bedingung für sein Kommen gemacht; auch jetzt begann er mit einem indirekten Appell an die Zensur […], um im zweiten Teil die glänzende Tragikomödie des Moralisten, den ‚Totentanz‘, zu bringen.“ [Dresdner Neueste Nachrichten, Jg. 17, Nr. 72, 16.3.1909, S. 2] nicht einige Lieder zur Gitarre vortragen könne, was Sie freudig begrüßen würden. So sehr mich Ihr Vorschlag freut und ehrt und so gern ich ihn befolgen würde, glaube ich doch im Hinblick auf die unüberwindlichen Hindernisse, die das Bekanntwerden meiner ernsten Arbeiten unmöglich machen, davon abstehen zu müssen. Sollte sich die Dresdner Zensurbehörde bereitfinden, „Die Büchse der Pandora“ oder „Totentanz“ für öffentliche Aufführungen frei zu gebenDie Zensur hat „Die Büchse der Pandora“ für Dresden nicht freigegeben (das Stück wurde dort erst 1919 aufgeführt), auch nicht den „Totentanz“ (das Stück wurde in Dresden erst 1922 aufgeführt), aus dem Wedekind aber am 13.3.1909 bei seinen Vortragsabend in Dresden las (siehe oben)., dann würde ich mich nicht einen Augenblick besinnen, vor den Mitgliedern des Goethe-Bundes auch als Bänkelsänger zu erscheinen. Wie die Dinge aber tatsächlich liegen, hätte ich einem solchen Unterfangen bei den maßgebenden Persönlichkeiten nur eine um so geringere Einschätzung als Mensch und als Schriftsteller zu verdanken. Die grauenvolle Humorlosigkeit unserer Zeit schaltet die Vorstellung völlig aus, daß sich jemand, der sein Leben der Bewältigung ernster ethischer und künstlerischer Aufgaben widmet, nebenbei mit dem Vortrag von Schwänken abgibt. Deshalb kam ich zu dem Entschluß, meine Gitarre nicht mehr zur Hand zu nehmen, so lange die Behörden den Aufführungen meiner Dramen noch Hindernisse in den Weg legen.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 3 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Bleistift.
Schriftträger:
Liniertes Papier. Notizbuchblätter. 10 x 16,5 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Der als offener Brief konzipierte Briefentwurf steht im Notizbuch [Nb 55, Blatt 40v-41v]; zwei Korrekturen [Blatt 41r] sind mit Tinte ausgeführt, ein fingierter redaktioneller Text [Blatt 41v] ist gleich mitentworfen.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Schreibort und Schreibdatum sind durch das Tagebuch belegt. Wedekind notierte am 8.2.1909: „Im Hofbräuhaus schreibe ich Brief an Göthebund Dresden.“ Ein auf der Grundlage des Briefentwurfs verfasster Brief ist nicht überliefert, er dürfte aber geschrieben und nach Dresden gesandt worden sein – nicht nur nach München als Beilage für den Abdruck [vgl. Wedekind an Münchner Neueste Nachrichten, 10.2.1909].

  • Schreibort

    München
    8. Februar 1909 (Montag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Dresden
    Datum unbekannt

Erstdruck

Münchner Neueste Nachrichten

Verlag:
München: Knorr und Hirth
Kommentar:
Detaillierter Nachweis: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 62, Nr. 69, 12.2.1909, Vorabendblatt, S. 3-4. Der offene Brief erschien in der Rubrik „Literatur und Wissenschaft“ am 11.2.1909 (im Vorabendblatt einen Tag vordatiert) und ist von der Redaktion mit den Worten eingeleitet: „Frank Wedekind hat dem Vorstand des Goethe-Bundes in Dresden folgende Zeilen gesandt:“ Unmittelbar an den offenen Brief schließt sich die redaktionelle Nachbemerkung an: „Zufällig kündigt zu gleicher Zeit das Deutsche Theater in Berlin die Aufführung der nun von Wedekind umgearbeiteten Büchse der Pandora an, die bekanntlich seinerzeit vom Landgericht Berlin II zur Einstampfung verurteilt worden ist.“ Wedekind hat der Redaktion die nicht überlieferte Druckvorlage einen Tag zuvor geschickt [vgl. Wedekind an Münchner Neueste Nachrichten, 10.2.1909]. Er registrierte am 11.2.1909: „Brief an Goethebund steht in der Zeitung.“ [Tb] ‒ Der Erstdruck des offenen Briefs wurde unter dem Titel „An den Vorstand des Goethebundes in Dresden“ [KSA 5/II, S. 290] nachgedruckt. Erstdruck des Briefentwurfs: „An den Goethebund in Dresden.“ [GB 2, S. 218-219 (Nr. 327)] Datiert: „(Frühling 1909.)“
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
L 3501/55
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an (Verein) Goethe-Bund Dresden, 8.2.1909. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

21.03.2022 11:59