Deutsches Theater zu Berlin
den 25. Oktober 1908.
Herrn Frank Wedekind,
München,
Prinz Regentenstrasse
Von befreundeter Seite erhalten wir Ihr Schreiben vom 17.
OktoberWedekind hat das „Reinhardt-Tagebuch“ [KSA 5/II, S. 278-281], ein „Tagebuch“ überschriebenes Dossier zu seinen Vertragsstreitigkeiten mit Max Reinhardt [vgl. 5/III, S. 695-702], am 17.10.1908 als Briefbeilage an die Sozietäre des Deutschen Theaters und einige weitere Personen im engeren Umfeld des Deutschen Theaters gesandt (an Maximilian Harden, Emmy Loewenfeld, Fritz Andreae, Hermann Rosenberg, Robert von Mendelssohn, Walther Rathenau, Paul Cassirer). Das vorliegende Schreiben bezieht sich auf dieses Dossier und zitiert daraus., in dem Sie alle Einzelheiten unseres Vertragsverhältnisses mit
ausgesuchter Sorgfalt von der Wahrheit abrücken und Ihre allzu durchsichtigen
Beweggründe mit pathetischen Worten zu verdecken suchen. Sie werden, verehrter
Herr, uns gestatten müssen, dass wir Ihrem Gedächtnis ein wenig zu Hilfe kommen
und etwas Licht in das stimmungsvolle Dunkel tragen.
Was bezwecken Sie? Sie wollen einen vor Jahr und Tag rechtsgültig
geschlossenen VertragWedekind hat mit Max Reinhardt am 15.3.1906 „einen über fünf Jahre laufenden Autorenvertrag“ abgeschlossen, „seine neuen dramatischen Werke zuerst Reinhardt zur Aufführung anzubieten.“ [Vinçon 2014, S. 198f.] mit allen Mitteln lösen, weil Ihnen, Ihrer eigenen
Aussage gemäss, für einen derartigen Kontrakt grössere Angebote von anderer
Seite in Aussicht gestellt wurden. Wir wollen davon absehen, dass wir als die
ersten, die Ihre Werke dem Spielplan des deutschen Theaters dauernd einverleibt
haben, an dieser für Sie günstigen geschäftlichen Situation nicht ganz ohne
Verdienst sind (eine Tatsache, die nicht bloss von der Oeffentlichkeit, sondern
auch durch Sie selbst in manchen als wertvolle Andenken von uns verwahrten
Dankesbriefennicht überliefert (und nicht detaillierter zu erschließen). und in Tafelreden anerkannt wurde): aber wir finden es nicht
hübsch von Ihnen, dass
Sie zwanzig Monate nach Abschluss Ihres Vertrages plötzlich den Einfall haben,
bei der Unterzeichnung Ihres Vertrages „verwirrtZitat. Wedekind hat im „Reinhardt-Tagebuch“ unter dem Datum 15.3.1906 zur Unterzeichnung des Autorenvertrags geschrieben: „Abgespannt und verwirrt, wie ich infolge der vorangegangenen Anstrengungen bin, unterzeichne ich den Vertrag.“ [KSA 5/II, S. 278]“ gewesen zu sein, und dass Sie den lebhaften
Wunsch nach geschäftlichen Vorteilen mit der Sehnsucht nach geistiger
Bewegungsfreiheit drapieren wollen. Sie waren ja in diesem Frühjahr gewillt,
diese Freiheit abermals zu knebeln, wenn wir die erhöhten Geldforderungen Ihres
eigenen VertragsentwurfesWedekind hat einen von ihm entworfenen Vertragsentwurf an Max Reinhardt geschickt [vgl. Wedekind an Max Reinhardt, 8.4.1908]. bewilligt hätten.
Wir wollen uns also an die einfachen Tatsachen halten und im
folgenden aufzeigen, wie sehr Sie Ihr Gedächtnis betrogen hat. |
1. Es ist unwahr, dass Herr Hollaender während einer Probe
Ihnen die Unterschrift zu einem Vertrage abgenötigt hat, von dem bisher „nie
von einer Silbe die Rede warZitat. Wedekind hat im „Reinhardt-Tagebuch“ unter dem Datum 15.3.1906 geschrieben, Felix Hollaender sei mit dem fertig aufgesetzten Autorenvertrag auf ihn zugekommen, „von dem vorher nie mit einer Silbe die Rede war.“ [KSA 5/II, S. 278]“; wahr ist vielmehr, dass Herr Hollaender
anlässlich einer Probe Sie ersuchte, den vorher wiederholt besprochenen
Vertrag, mit dem Sie
sich in allen Punkten einverstanden erklärt hatten, zu unterzeichnen. Sie taten das auch ohne das
leiseste Bedenken und ohne jeden Einwand. Herr Hollaender hat notabene lange
vor dieser Probe Ihr Einverständnis mit dem in Frage kommenden Vertrage der
Direktion mitgeteilt
Es ist nicht ohne pikanten Reiz, wenn Sie sich in diesem
Tagebuchblatt als den verwirrten und weltfremden Poeten gerieren, den man quasi
überrumpelt hat, zumal, wenn wir uns Ihres programmatischen Ausspruches
erinnern, nach dem Sie bisher noch jeden Vertrag, den Sie brechen wollten, auch
gebrochen haben. In der Tat sind wir ja nicht die ersten und einzigen, die Ihre
eigenartige Auffassung von Vertragstreue kennen lernen mussten. Die Fälle sind
ja nicht unbekannt.
2. Unwahr ist, dass Herr Hollaender Ihnen gesagt hat, dass
alle übrigen Autoren des Deutschen Theaters den gleichen Vertrag unterzeichnet
haben.
3. Unwahr ist, dass kaum ein einziger Autor einen Vertrag
mit den gleichen Bedingungen wie Sie unterschrieben hat. Wahr ist vielmehr,
dass Herr Hollaender erklärt hat, dass viele Autoren von Rang den gleichen
Vertrag mit dem Deutschen Theater haben und dass er Ihnen damals die Namen
genannt hat. Das Deutsche Theater hat mit Bernard Shaw, Leo Greiner,
Vollmöller, Emil Strauss, Schmidtbonn, Ossip Dymow und mit den Autoren des
russischen Verlags (Ladyschnikow) eine gleiche Abmachung vereinbart. Derartige
Verträge sind übrigens auch bei anderen Theatern gang und gäbe.
Demnach müssen wir es als eine Methode von verblüffender
Dreistigkeit bezeichnen, wenn Sie den Spiess umdrehen und erklären, der
Betrogene zu sein.
4. Was Ihren SchauspielervertragWedekind hat mit Max Reinhardt am 21.12.1905 einen Schauspielervertrag abgeschlossen. „Als der Schauspielervertrag verlängert werden soll, sind sich die Vertragspartner nicht einig. Es gibt Streit über die Verlängerung, weil Wedekind“ ihr „nur zustimmen will, wenn der Autorenvertrag annulliert wird.“ [Vinçon 2014, S. 199] anlangt, der ja mit dem
Autorenvertrag garnichts zu tun hat, so weichen auch
diesbezüglich Ihre Behauptungen von der Wahrheit ab. Es ist unwahr, dass Sie
pünktlich eingetroffen sind, um diesen Vertrag zu erfüllen; wahr ist vielmehr,
dass Sie laut Vertrag verpflichtet gewesen wären, am 20. SeptemberWedekind war am 20.9.1907 in München und reiste am 3.10.1907 nach Berlin [vgl. Tb]. im Theater
einzutreffen und dass Sie trotz wiederholter Aufforderung erst am 8. OktoberWedekind hielt am 8.10.1907 in Berlin einen „Besuch bei Justizrat Ehrlich“ wegen des „Marquis von Keith“ fest und anschließend: „Ich gehe auf die Probe M. v. K. Gespräch mit Holländer“ [Tb]. im
Theater erschienen sind. Und auch an diesem Tage haben Sie sich nicht etwa dem
Theater als Schauspieler zur Verfügung gestellt, sondern Sie sind lediglich mit
der unverkennbaren Absicht auf die „Keith“-Probe gekommen, einen Skandal zu
provozieren.
Wahr ist ferner, dass Sie daraufhin eine an Sie gerichtete
briefliche Anfragenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Deutsches Theater zu Berlin an Wedekind, 9.10.1907., ob Sie Ihre schauspielerische Tätigkeit in dieser Spielzeit
wieder aufnehmen wollten, nicht beantworteten und eine Rolle, die Ihnen von
Herrn Hollaender angeboten wurde (SpiegelbergFigur aus Friedrich Schillers Drama „Die Räuber“ (1781).Figur aus Friedrich Schillers Drama „Die Räuber“ (1781).) mit dem Bemerken ablehnten, Sie
hätten Besseres zu tun. Dagegen haben Sie abseits von den Vertragsbestimmungen
neue Vereinbarungen für Ihr Auftreten und das Ihrer Frau getroffen, die
unsererseits selbstverständlich pünktlich eingelöst worden sind.
5. Es ist unwahr, dass Direktor Reinhardt, Ihnen in Gegenwart
des Herrn Andreae wiederholt die feste Versicherung gegeben hat, Ihnen eine
entsprechende Entschädigung für die noch ausstehenden drei Vertragsjahre zu
zahlen, wahr ist vielmehr, dass Direktor Reinhardt in Gegenwart des Herrn
Andreae ausdrücklich betont hat, dass der mit Ihnen geschlossene Autorenvertrag
zu Recht bestehe und dass somit für das Deutsche Theater keinerlei | Verpflichtung erwachse, den Vertrag nach
irgend einer Richtung hin zu modifizieren. Dagegen hat Direktor Reinhardt sich
aus freien Stücken in Gegenwart des Herrn Andreae bereit erklärt, mit Ihnen,
als einem Autor, dessen Bedeutung für das Theater er zu schätzen wisse,
bezüglich wirtschaftlicher Zugeständnisse über den Vertrag hinaus in Verhandlung zu treten.
6. Ihrer Behauptung, durch diesen Vertrag ein unbezahlter
Angestellter der Direktion Reinhardt zu sein, begnügen wir uns, die Tatsache
entgegenzustellen, dass Sie vom 20. November 1906 bis 1. Oktober 1908 48648,85
M. (Achtundvierzigtausendsechshundertundachtundvierzig Mark und 85 Pfennig) vom
Deutschen Theaterbezogen haben. (Tantièmen und Gage).
7. Es ist unwahr, dass Direktor Reinhardt jemals behauptet
hat, dass er den Vertrag ohne Einwilligung der Sozietäre nicht lösen dürfe;
wahr ist vielmehr, dass er erklärt hat, es vor seinen Sozietären nicht
verantworten zu können, für das Theater wichtige und rechtsgültig
abgeschlossene Verträge ohne weiteres aufzuheben.
8. Unwahr sind sämtliche Behauptungen, die Sie in folgendem
Passus zum Ausdruck bringen: „22. April. Herr Max ReinhardtZitat aus dem „Reinhardt-Tagebuch“ unter dem Datum 22.4.1908: „Herr Max Reinhardt unterbreitet mir schriftlich einen Vertrag, in dem auf drei Jahre eine Garantie der Forderungen meines Verlegers festgesetzt ist unter der Bedingung, dass ich in den Kammerspielen und am Deutschen Theater zu Spielhonoraren auftrete, die dreimal niedriger sind, als wie sie mir zur Zeit von anderen Theaterdirektoren bezahlt werden.“ [KSA 5/II, S. 280] unterbreitet mir
schriftlich einen Vertrag, in dem auf drei Jahre eine Garantie der Forderungen
meines Verlegers festgesetzt ist, unter der Bedingung, dass ich in den
Kammerspielen und am Deutschen Theater zu Spielhonoraren auftrete, die dreimal
niedriger sind, als wie sie mir zur Zeit von anderen Theaterdirektoren bezahlt
werden“. Wahr ist vielmehr, dass Ihnen Herr Direktor Reinhardt in der Folge
verschiedene Vorschläge als Ergänzung zu Ihrem Vertrage unterbreitet hat, nach
denen Sie persönlich, nicht Ihr Verleger, 3000 M. (dreitausend Mark) als
Tantièmenvorschuss ausbezahlt erhalten sollten. Dagegen ist von einer
Verpflichtung Ihrerseits, im Deutschen Theater oder in den Kammerspielen
aufzutreten, mit keiner Silbe die Rede gewesen.
Von allen Ihren Behauptungen bleibt demnach als einzige
wahre Tatsache nur die bestehen, dass Sie von Herrn Hollaender zu einem Essen
bei BorchardtWedekind war öfters mit Felix Hollaender (und anderen Mitarbeitern des Deutschen Theaters) zum Essen in der Weinstube F. W. Borchardt in Berlin, so am 9.1.1906, 26.1.1906, 15.3.1906, 2.4.1906, 22.11.1906, 23.11.1906, 20.12.1906, 4.1.1907, 9.11.1907. geladen wurden, ein allerdings schwer gravierender Vorgang, der
sich, wie wir einräumen müssen, sogar wiederholt hat.
Wir haben uns die Zeit genommen, Ihre amüsanten
Tagebuchblätter auf Grund des uns vorliegenden Materials Punkt für Punkt zu
korrigieren, um diese Methode skrupelfreier Verdrehungen zu erhellen. Die
Direktion des Deutschen Theaters ist entschlossen, diesen Nachweis vor jeder
Instanz zu führen.
Und nun gestatten Sie uns zum Schluss, Sie mit einer
kostbaren Entdeckung bekannt zu machen, die Ihren hitzigen Kampf um geistige
Bewegungsfreiheit lediglich als merkantilen Spektakel demaskiert: In diesem
Kampf fehlt das Objekt. Zur Diskussion stehen die drei Werke „Musik“, „Oaha“,
„Zensur“. Ueber „Musik“ haben Sie abseits von aller „Probenverwirrung“ elf
Monate nach Abschluss des Generalvertrages einen Spezialvertrag mit uns
abgeschlossen, was Sie nachträglich freilich nicht gehindert hat, Ihre geistige
Bewegungsfreiheit bis zum Abschlusse eines dritten Vertrages mit einer anderen
Bühne„Musik“ wurde am 11.1.1908 am Intimen Theater in Nürnberg unter der Regie von Emil Meßthaler uraufgeführt. Wedekind hatte zunächst die Hoffnung gehabt, „Musik“ durch Vermittlung Felix Hollaenders am Deutschen Theater in Berlin aufführen zu können [vgl. KSA 6, S. 793] und ihm das Stück am 11.10.1906 übergeben: „Ich hole Holländer im Theater ab und übergebe ihm ‚Musik‘“ [Tb]. auszudehnen.
Dieses Verfahren (das nämliche Stück dreimal zu veräussern)
müsste man als Kollision mit dem Strafgesetz ansehen, wenn es nicht so
charakteristisch wäre für Ihren ethischen Humor und die Praxis, die Sie in
solchen Dingen verfolgen. |
Uns persönlich wäre es allerdings sympathischer gewesen,
wenn Sie sich in dieser Campagne an das hübsche, von Ihnen geprägte Wort
erinnert hätten: „Das glänzendste GeschäftZitat aus „Marquis von Keith“ (5. Aufzug): „das glänzendste Geschäft in dieser Welt ist die Moral.“ [KSA 4, S. 216]. in der Welt ist die Moral.“
Die beiden andern in Frage kommenden Werke, die uns von
Ihrem Vertreter Bruno Cassirer eingereicht wurden, haben wir bereits vor Wochen
abgelehnt; Sie konnten demnach über sie frei verfügen.
Im übrigen besteht die begründete Aussicht, dass wir auch
für die Zukunft in der Lage sein werden, dem von Ihnen ausgedrückten Wunsche,
Ihre Werke nicht am Deutschen Theater aufgeführt zu sehen, entgegenzukommen.
Die Direktion des Deutschen TheatersEigentümer und Direktor des Deutschen Theaters war Max Reinhardt [vgl. Neuer Theater-Almanach 1908, S. 268], der insofern als verantwortlicher Verfasser des vorliegenden Briefes anzusehen ist..