An die tit. RedaktionRedaktionsadresse der „Münchner Neuesten Nachrichten“ war noch Färbergraben 23/24 [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1905, Teil III, S. 119].
der „Münchner Neuesten Nachrichten[“]
München
Hochgeehrter HerrChefredakteur der „Münchner Neuesten Nachrichten“ war seinerzeit Dr. Friedrich Tresz, verantwortlich für das Feuilleton Dr. Paul Busching [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1905, Teil III, S. 119; Teil I, S. 550, 68]; so auch auf den damaligen Titelseiten der „Münchner Neuesten Nachrichten“ verzeichnet (wen Wedekind bei der Anrede im Blick hatte, kann nicht sicher gesagt werden).!
Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen mitzutheilen daß mir
die BesprechungWedekind muss die Besprechung der Aufführung von „Nachtasyl“ (siehe unten), die ohne Titel, unterzeichnet „Hanns v. Gumppenberg“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 282, 19.6.1904, S. 2-3], in der Ausgabe der „Münchner Neuesten Nachrichten“ vom 19.6.1904 gedruckt ist, schon am 18.6.1904 vorliegen gehabt haben, als er den vorliegenden Brief schrieb. der AufführungDas Gastspiel des Berliner Kleinen und Neuen Theaters (Direktion: Max Reinhardt) [vgl. Neuer Theater Almanach 1904, S. 245f.] am Münchner Volkstheater wurde am 17.6.1904 mit „Nachtasyl. Szenen aus der Tiefe in 4 Akten von Maxim Gorki“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 279, 17.6.1904, General-Anzeiger, S. 1] eröffnet; es spielten Guido Herzfeld (Kostylew), Rosa Bertens (Wassilissa), Lucie Höflich (Natascha), Joseph Dill (Medwjedew), Eduard von Winterstein (Pepel), Friedrich Kayßler (Kleschtsch), Gertrud Eysoldt (Nastja), Richard Vallentin (Satin), Hans Waßmann („Ein Baron“), Emanuel Reicher („Ein Schauspieler“) und Max Reinhardt (Luka). ‒ Im Rahmen des Gastspiels wurde am 24.6.1904 auch Wedekinds „Erdgeist“ aufgeführt. von „Nachtasyl“ in der Nummer vom 19 JuniWedekind verweist auf die Ausgabe der „Münchner Neuesten Nachrichten“ vom 19.6.1904 (siehe oben), die ihm dem vorliegenden Brief zufolge bereits am 18.6.1904 (vermutlich abends) vorlag und also bereits am Vortag ausgeliefert worden sein dürfte. Ihres
geschätzten Blattes durch Herrn von Gumppenberg als eine der schamlosesten und
niederträchtigsten Leistungen von Ehrabschneidung und Herabwürdigung erscheint,
die jemals an die Öffentlichkeit gelangt sind. Selbstverständlich bin ich jeden
Augenblick bereit, meine Ansicht vor Gericht zu vertreten und habe mir Ihrem
Berichterstatter gegenüber daher keinen Vorwurf zu machen, wenn ich mich nicht
direct an G ihn wende. Aber wir/e/ soll ein künstlerisches
Streben auf diesem Gebiete noch möglich sein, wenn es in der Macht eines
einzelnen Menschen steht, jeden Dank, auch den stärksten Ausdruck von Freude, die
der Künstler dem Publicum abgewinnt, der breiteren Öffentlichkeit gegenüber
direct in das Gegentheil, in Undank und Abweisung zu verkehren! Die Thatsache,
daß die gestrige Vorstellung„Nachtasyl“ wurde am 17.6.1904 aufgeführt (siehe oben); ‚gestrig‘ ist ein Indiz dafür, dass der 18.6.1904 das zutreffende Schreibdatum des vorliegenden Briefs war (und keine irrtümliche Datierung anzunehmen ist). Wedekind hat die Vorstellung am 17.6.1904 gesehen: „Abends Nachtasyl.“ [Tb] von Nachtasyl einen ganz außergewöhnlichen Erfolg
erzielte, einen Erfolg den | die darstellenden Künstler, die doch gewiß an
allerhand Ehrungen ges/w/öhnt sind, als einen von IhnenSchreibversehen, statt: ihnen. noch nirgends
erreichten bezeichneten, wird den Lesern Ihres geschätzten Blattes rundweg
verschwiegen. Als einen klaren Beweis für die niedrige Bösartigkeit Ihres
Berichterstatters möchte ich indessen nur folgenden SatzDer von Wedekind zitierte Satz steht in der Besprechung Hanns von Gumppenbergs ganz am Schluss: „Das wohl infolge der hohen Eintrittspreise und der noch höheren Temperatur nur mäßig besuchte Haus war sehr beifallslustig und spendete den Herren Reicher und Waßmann bei offener Szene, dem Ensemble nach allen Akten starken Applaus; am Schlusse wurden die Mitwirkenden, die mit großer Geschwindigkeit abgeschminkt in Zivil erschienen, immer wieder stürmisch an die Rampe gerufen.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 282, 19.6.1904, S. 3] aus seinem Referat
zitieren: „zum Schlusse wurden die Mitwirkenden, die mit großer Geschwindigkeit
abgeschminkt in Zivil erschienen, immer wieder stürmisch an die Rampe gerufen“.
– Daß sich jeder Künstler nach gethaner Arbeit so rasch wie nur irgendwie
möglich abschminkt, ist eine Selbstverständlichkeit. Daß diese
Selbstverständlichkeit hier erwähnt wird, kann keinen anderen Zweck haben, als das dem Erscheinen der Künstler
vor der Rampe, das in bedeutend längeren Intervallen erfolgte, als es hier
sonst üblich ist, den Werth aufrichtiger Ehrung und freudigen Dankes zu nehmen.
Ich brauche Ihnen, sehr geehrter Herr, nicht zu sagen, daß
es mir völlig fern liegt, Ihr eigenes Urtheil mit demjenigen Ihres
Berichterstatters zu identifizieren, möchte aber doch noch hinzufügen, daß es
mir noch niemals eingefallen ist, gegen eine über mich selbst gefällte Kritik
das Wort zu ergreifen.
Mit der Bitte, den Ausdruck meiner allervorzüglichsten
Hochschätzung entgegen nehmen zu wollen
Frank Wedekind.
München, den 18. Juni 1904.