Sehr geehrter Herr Stollberg!
Empfangen Sie meinen herzlichen aufrichtigen Dank für die
wundervolle Vorstellung„Neueinstudiert“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 63, Nr. 484, 15.10.1910, General-Anzeiger, S. 2] stand auf dem Spielplan des Münchner Schauspielhauses bei „Erdgeist. Tragödie in vier Aufzügen“ (Premiere: 15.10.1910) – unter der Regie von Georg Stollberg. Wedekind sah die Vorstellung vom 26.10.1910: „Mit Tilly in Erdgeist. Peppler Dr. Schön Schaffer Lulu. Nachher Torggelstube mit Consuela Nicoletti.“ [Tb] Er notierte Consuela Nicoletti (genannt: Konsul), mit der er nach der Vorstellung zusammen war, nicht als Darstellerin der Rolle des Gymnasiasten Hugenberg [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 63, Nr. 502, 26.10.1910, General-Anzeiger, S. 2], sondern lediglich die Neubesetzung der Hauptrollen, die auch für die Theaterkritik (Richard Elchinger) interessant war: „Neu einstudiert: Erdgeist. Die beiden Hauptrollen waren neu besetzt, Lulu mit Fräulein Schaffer, Doktor Schön mit Herrn Peppler. [...] Das Publikum zeichnete die Darsteller am Schluß mit lebhaftem Beifall aus.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 63, Nr. 487, 18.10.1910, Vorabendblatt, S. 3] von „Erdgeist“, die wir gestern sahen. Ich finde die
Aufführung von einer prachtvollen Lebendigkeit, dabei künstlerisch ausgeglichen
von der ersten bis zur letzten Scene. Ich fand, | daß mehrere Scenen an Kraft
bedeutend gewonnen haben. So SchigolchHans Raabe, Schauspieler am Münchner Schauspielhaus [vgl. Neuer Theater-Almanach 1911, S. 577], spielte die Rolle des Schigolch [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 63, Nr. 502, 26.10.1910, General-Anzeiger, S. 2]. Wedekind kannte ihn seit der Zeit, als er selbst gerade seine Stelle am Münchner Schauspielhaus angetreten hatte [vgl. Wedekind an Georg Stollberg, 20.8.1898].. Frau SchafferFritzi Schaffer, Schauspielerin am Münchner Schauspielhaus [vgl. Neuer Theater-Almanach 1911, S. 578], spielte die Rolle der Lulu. Sie hatte einen Namen als Darstellerin von Oscar Wildes Salome und als Tänzerin. Die Theaterkritik (Richard Elchinger) verglich sie als Lulu-Interpretin mit Tilly Wedekind und Gertrud Eysoldt: „Frau Wedekinds Erbschaft hat Fräulein Schaffer angetreten. In einer Szene war die Vorgängerin von tieferer Ueberzeugungskraft, in dem Briefakt. Vielleicht hat man, um den Anschein einer Kopie zu vermeiden, das erprobte Arrangement vermieden. Nicht zum Vorteil der Wirkung. Im übrigen erwies sich indes die Figur der Lulu von geschmackvoller Eigenart. Sie war in ihrer Wesenheit jenseits der durch die Eysoldt für die Interpretierung dieser Rolle eingeführten Perversitätskomplexe angesiedelt. Das Nichtwissend-Unbewußte Evas kam zu vollem Ausdruck, und verhalf nach Wedekindschen Intentionen dieser Lulu zur Vollkommenheit.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 63, Nr. 487, 18.10.1910, Vorabendblatt, S. 3] fand ich, ganz
vereinzelte Schärfen und Geziertheiten ausgenommen perfekt. Aber auch PeplerKarl Peppler, Regisseur und Schauspieler am Münchner Schauspielhaus [vgl. Neuer Theater-Almanach 1911, S. 577], spielte die Rolle des Dr. Schön. Die Theaterkritik (Richard Elchinger) meinte: „Herr Peppler gab dem Schön in der äußeren Erscheinung viel Kraft und Originalität mit auf den Weg. Nur schien zuweilen mehr Warmblütigkeit und gutes Herz zum Durchbruch zu kommen, als man dem Schön zu konzedieren neigt. Das machte sich gegen den Schluß hin geltend, dem es etwas an der ehernen Stilisierung fehlte.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 63, Nr. 487, 18.10.1910, Vorabendblatt, S. 3],
der die unvergleichlich schwerere Arbeit zu bewältigen hat, fand ich an
einzelnen Stellen monumental. Vor allem | aber fand ich alle vier Akte ungemein
farbig, lebendig und lustig. Also noch einmal besten Dank.
Mit schönsten Empfehlungen an Sie und Ihre verehrte Frau
Gemahlin von meiner Frau und mir
Ihr ergebener
Frank Wedekind.
München 27.10.10.