Kennung: 2404

München, 7. Oktober 1911 (Samstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Eulenberg, Herbert

Inhalt

Offener BriefEin zeitgenössischer Druck des als offener Brief konzipierten Korrespondenzstücks ist nicht nachgewiesen.
an Herbert Eulenberg.


Lieber Herbert EulenbergDr. jur. Herbert Eulenberg lebte als Schriftsteller in Kaiserswerth bei Düsseldorf (Haus Freiheit) [vgl. Kürschners Deutscher Literatur-Kalender auf das Jahr 1912, Teil II, Sp. 393].!

Empfangen Sie innigen DankHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zur Buchsendung (siehe unten); erschlossenes Korrespondenzstück: Herbert Eulenberg an Wedekind, 1.10.1911. für das herrliche GedichtHerbert Eulenbergs Drama „Alles um Geld“ (1911) war im Ernst Rowohlt Verlag in Leipzig im Sommer als erschienen gemeldet [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 78, Nr. 202, 31.8.1911, S. 9735]. Es wurde am 20.9.1911 am Berliner Lessingtheater (Direktion: Otto Brahm) uraufgeführt.: [„]Alles um Geld.“ Das schönste tiefste und lustigste aus der Dramatik aller Zeiten. Das Werk ist durch und durch deutsch und läßt sich doch mit den Maßstäben heutiger deutscher Dramatik nicht messen. Für mich ist es Weltliteratur. Dostojewsky hätte seine Freude daran gehabt, vielleicht auch Zervantes.

Den Leidensweg, der dem übermütigen geistsprühenden Kind von Seiten unserer Deutschen Schauspielkunst beschieden war, verfolgte ich mit Grauen und Empörung. Ich bitte Sie nur um eines: Klagen Sie nicht das deutsche PublikumHerbert Eulenberg hatte einen kurz zuvor erschienenen Essay mit einer Publikumsschelte begonnen: „Denn heute ist unsere Kunst und sind unsere Künstler von einem vielköpfigen Ungeheuer abhängig, das die meisten im Staube und mit ehrfürchtig gesenkten Stirnen, wie die Phönizier ihren Götzen Baal, verehren und anzubeten pflegen. Dieser Abgott, der jetzt bei uns auf den häßlichen Namen ‚das Publikum;‘ hört, hat niemals die Kunst und ihre Jünger und Meister so sehr beherrscht und geknechtet, wie in unseren Tagen. [...] Niemals ist so frech und schnell über Fragen und Werke der Kunst der Stab gebrochen worden, wie von dem ungebildeten Publikum; unserer Zeit. [...] Man sollte gesetzlich; auf zehn Jahre anordnen, daß vor jeder neuen Ausstellung oder Aufführung vor dem Eingang oder Vorhang ein allgemein sichtbares Schild mit der Aufschrift: ‚Die Kunst verlangt Teilnahme und Hingabe des Publikums‘ angebracht würde, auf daß die törichtsten und frechsten Kunsturteile im Keim schon vernichtet würden.“ [Herbert Eulenberg: Die Kunst in unserer Zeit. Eine Trauerrede an die deutsche Nation. Leipzig 1911, S. 5-7] an. Das Publikum lechzt nach Herbert Eulenberg Ihnen, das Publikum zwingt Ihre Werke immer | wieder auf die Bühne und jubelt Ihnen zu, sobald Sie ihm einmal unverkleinert unverfälscht unverballhornt, unverkuhwedelt vom Schauspieler vorgeführt werden. Und dazu ist der deutsche Schauspieler fähig, sobald er die geistlose Flegelei des Naturalismus abgelegt und die künstlerische Degradation überwunden hat, zu der er durch Bühnenschulmeister und Theaterfürsten erniedrigt wurde.

Vor einem JahrWedekind dürfte sich dem Dramatiker mündlich als Regisseur angeboten haben, am 11.11.1910, als er sich in München „mit Eulenberg“ [Tb] traf; brieflich ist das Angebot nicht greifbar [vgl. Wedekind an Herbert Eulenberg, 12.11.1910]. bot ich mich Ihnen als Regisseur an. Meine Gefühle gegenüber dem Schicksal von „Alles um Geld“ sind deshalb geteilter Natur. Aber davon abgesehen, bin ich fest überzeugt daß die geistvolle/sprühende/ Tollheit und Schönheit dieses Werkes durch keine heute noch so hoch gepriesene Modeschauspielerei auf die Dauer unter die Erde spielen läßt gespielt werden kann. |

Vergreifen Sie sich nur bitte nicht wieder an unserem gemeinsamen besten Freunde, dem Deutschen Publikum.

Das Publikum ist aufnahmefähig neugierig, wohlwollend und brennt darauf, die Werke, die es liebt und hoch schätzt
Der Schauspieler ist faul, träge, schüchtern, bescheiden
in künstlerisch vollendeter Form dargestellt zu sehen.

Der Schauspieler dagegen ist faul, träge, schüchtern, bescheidenUmstellung; hier stand zunächst „bescheiden dagegen“ („bescheiden“ ist mit Einweisungszeichen in die Zeile darüber umgestellt). und schämt sich heute im Grund der Seele seines Berufes genau so beinahe ebenso wie es der deutsche Kellner thut.

Ich bin Auf eine Beleidigungsklage deutscher KellnerAnspielung auf eine Stelle im Stück, an der Peter auf die Frage von Paul, was er denn nun eigentlich beruflich mache, wo das Geschäft schlecht gehe, antwortet: „PETER: Gelegenheitsarbeiter. – Ich hab’ mir den Anzug von einem kranken Kellner geliehen, der mit mir schläft. PAUL: Das ist doch kein Verbrechen. Du kannst doch nicht für deine Lieferanten. Ich lasse auch nicht nach Maß machen.“ [Herbert Eulenberg: Alles um Geld. Leipzig 1911, S. 18] bin ich gefaßt, die sich nicht ohne weiteres mit deutschen Schauspielern vergleichen lassen wollen.

Sie brauchen sich nicht ohne Verschulden mit deutschen Schauspielern vergleichen zu lassen.

Mit herzlichen Grüßen
Ihr
Fr.W.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Bleistift.
Schriftträger:
Liniertes Papier. Ringbuchblätter. 9,5 x 14,5 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Die einzelnen Seiten des Briefentwurf sind von Wedekind oben jeweils mit den Ziffern „1“, „2“, „3“ und „4“ paginiert; auf dieser Grundlage dürfte ein Brief geschrieben und abgesandt worden sein.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 7.10.1911 ist als Ankerdatum gesetzt – das wahrscheinliche Schreibdatum, da Wedekind am 7.10.1911 notierte: „Eulenberg alles um Geld“ [Tb]. Die Notiz kann entweder als Hinweis auf die Abfassung des Briefentwurfs (oder eines nicht überlieferten abgesandten Briefs) aufgefasst werden – oder aber als Hinweis auf den Erhalt von Herbert Eulenbergs Drama; in diesem Fall entstand der Briefentwurf „sehr wahrscheinlich wenige Tage“ nach dem 7.10.1911, „an dem Wedekind Herbert Eulenbergs Drama ‚Alles um Geld‘ (1911) erhalten hat.“ [KSA 5/III, S. 624f.]

  • Schreibort

    München
    7. Oktober 1911 (Samstag)
    Ermittelt (unsicher)

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Kaiserswerth
    Datum unbekannt

Erstdruck

Werke. Kritische Studienausgabe. Band 5/II. Vermischte Schriften. Schulaufsätze, Essays, Aphorismen, Kritiken, Repliken, Notizen

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Hartmut Vinçon unter Mitarbeit von Friederike Becker, Miroslav Brei und Martin Hahn
Verlag:
Darmstadt: Häusser.media Verlag
Jahrgang:
2013
Seitenangabe:
419-420
Kommentar:
Der Brief ist im Erstdruck unter dem Titel „Offener Brief an Herbert Eulenburg“ ediert. Eine zeitgenössische Veröffentlichung „konnte nicht nachgewiesen werden.“ [KSA 5/III, S. 625]
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Aargauer Kantonsbibliothek

Aargauerplatz
5001 Aarau
Schweiz

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Wedekind-Archiv
Signatur des Dokuments:
Wedekind-Archiv B, Nr. 171
Standort:
Aargauer Kantonsbibliothek (Aarau)

Danksagung

Wir danken der Aargauer Kantonsbibliothek für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Herbert Eulenberg, 7.10.1911. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

19.07.2024 09:40