MAX HALBE
MÜNCHEN
WILHELMSTRASSE 2
Lieber Frank, wie ich aus
einem mir zugegangenen BriefeDer Brief von Leonor Goldschmied, Schriftsteller in Nikolassee bei Berlin [vgl. Kürschners Deutscher Literatur-Kalender auf das Jahr 1908, Teil II, Sp. 516], an Max Halbe, der hier aus diesem Brief zitiert, ist nicht überliefert. des Herrn Goldschmied ersehe, befindet er sich in
dem sehr irrthümlichen Glauben, ich wolle vor GerichtLeonor Goldschmied rechnete mit einer erneuten Gerichtsverhandlung – er hatte nach einem verlorenen Prozess am 8.10.1908 vor dem Amtsgericht in Charlottenburg Berufung eingelegt, die er aber zurückzog, als am 28.4.1909 vom Landgericht II in Berlin eine Beweiserhebung abgelehnt wurde [vgl. Literatenzänkerei. In: Vorwärts, Jg. 26, Nr. 99, 29.4.1909, 2. Beilage, S. (3)] – und hatte sich daher an Max Halbe gewandt; am 8.10.1908 vormittags wurde die Beleidigungsklage Leonor Goldschmied gegen Erich Mühsam verhandelt, der ihn im Sommer im Café Sezession in Berlin als Polizeispitzel bezeichnet habe, wobei Mühsam sich durch beleidigenden Äußerungen gereizt gesehen habe. „Vor dem Amtsgericht Charlottenburg wurde am Donnerstag eine Klage des Schriftstellers Leonor Goldschmidt gegen den Schriftsteller Erich Mühsam verhandelt. Mühsam hatte Goldschmidt als ‚Polizeispitzel‘ bezeichnet, behauptet aber, dazu durch allerlei Belästigungen in einem Café beim Billardspiel gereizt worden zu sein. [...] Durch Vernehmung einiger Zeugen wurde festgestellt, wie Mühsam provoziert worden ist. Ihn und Genossen bezeichnete Goldschmidt als ‚Idiotenbande‘ und nannte ihn einen ‚Trottel‘, ‚genialen Schiefling‘ und ‚Schnorrer‘. Dieser Ausdrücke wegen erhob Mühsam durch seinen Rechtsanwalt Caro Widerklage. Das richterliche Urteil ging dahin, daß der Angeklagte Mühsam der Beleidigung schuldig, aber straffrei erklärt wurde, da er zu schwer gereizt worden ist, der Privatkläger Goldschmidt dagegen wegen Beleidigung zu 20 Mk. Geldstrafe oder 4 Tagen Haft verurteilt werde. Die Gerichtskosten hat der Privatkläger zu tragen.“ [Der bestrafte Kläger. In: Vorwärts, Jg. 25, Nr. 237, 9.10.1908, 1. Beilage, S. (3)] Bei der Gerichtsverhandlung fielen auch die Namen von Max Halbe und Wedekind, wie die Presse berichtete: „Die Boheme hatte ihre Sensation. Erich Mühsam, der zarteste Anarchist der Welt, hatte vor Monaten den Schriftsteller Leonor Goldschmidt einen Polizeispitzel genannt, und deshalb kam es zum Prozeß. Leonor Goldschmidt war nicht erschienen; ahnte er, was ihm bevorstand? Hätte er es nicht ertragen, wenn ihm die lange Liste der berühmten Ohrfeigen vorgetragen würde, die er in seinem Leben erhalten hat? Max Halbe, Frank Wedekind, Hans Heinz Ewers und andere Kapazitäten wurden als Verabreicher dieser Ohrfeigen vor dem Gericht benannt.“ [Der lyrische Anarchist. In: Berliner Tageblatt, Jg. 37, Nr. 514, 8.10.1908, Abend-Ausgabe, 1. Beiblatt, S. (1)] „Zeugniß für ihn
ablegen“. Da ich annehmen muß, daß er in diesem Sinne auch an Dich | geschriebenWedekind hat von Leonor Goldschmied ebenfalls einen Brief erhalten [vgl. Wedekind an Max Halbe, 29.10.1908].
hat, so halte ich es für geboten, dem „Irrthum“ des Herrn G. energisch
entgegenzutreten und festzustellen, daß ich weiter nichts gethan habe, als ihm
auf sein Drängen hin mit wenigen Worten zu bestätigen, daß keine
„ThätlichkeitenTätlichkeiten (Leonor Goldschmied sei von Max Halbe und Wedekind geohrfeigt worden), von denen im Prozess am 8.10.1908 die Rede war (siehe oben) – wohl irrtümlich. Leonor Goldschmied hatte in einer Pressemitteilung bereits eine Erklärung dazu abgegeben: „Der lyrische Anarchist. Zu dem unter dieser Spitzmarke veröffentlichten Bericht über die Beleidigungsklagen Erich Mühsams gegen Leonor Goldschmied schreibt uns dieser: ‚Es ist unwahr, daß ich mit Max Halbe oder – wie in der Verhandlung behauptet wurde – mit Frank Wedekind jemals derart zusammengeraten bin, daß es zu Tätlichkeiten gekommen ist. Lediglich mit Hanns Heinz Ewers, der eine Behauptung von mir, die Kabarets betreffend, nicht besser als mit einem tätlichen Anfall zu parieren wußte, hatte ich eine Affäre, wofür indessen nicht ich, sondern er von mir abgeführt wurde.‘“ [Berliner Tageblatt, Jg. 37, Nr. 522, 13.10.1908, Morgen-Ausgabe, 1. Beiblatt, S. (3)]“ zwischen uns vorgekommen sind. Alles Weitere habe ich
vollständig dahingestellt sein lassen. Meine alte Meinung über ihn bleibt bis
auf Weiteres bestehen. Mit bestem Gruß
Dein Max
Halbe