München, 4.12.14.
Prinzregentenstraße 50
Lieber verehrter Herr Will VesperWill Vesper war zwar als Schriftsteller in Hohenschäftlarn im Isartal verzeichnet [vgl. Kürschners Deutscher Literatur-Kalender auf das Jahr 1914, Teil II, Sp. 1843], hatte aber seit 1913 in Florenz gelebt (bezeugt durch seine Korrespondenz mit anderen Personen) und war nun zurück in Bayern; er wohnte zwischenzeitlich in Ebenhausen im Isartal (in unmittelbarer Nähe seines früheren Wohnortes Hohenschäftlarn gelegen, etwa 20 Kilometer von München entfernt), von wo aus er eine Unterkunft in München suchte, wie eine Annonce verrät: „Zimmer mit Pension gesucht unweit Englisch. Garten. Off. mit Preisang. an Will Vesper, Ebenhausen Isartal.“ [Münchner Neuester Nachrichten, Jg. 67, Nr. 551, 27.10.1914, General-Anzeiger, S. 6] Er dürfte inzwischen Offerten erhalten haben und wohnte dann jedenfalls in München zur Untermiete in der Germaniastraße 5 [vgl. Wedekind an Will Vesper, 7.12.1914], wohin Wedekind ihm geschrieben haben dürfte; erst später hatte er wieder eine eigene Wohnung in München (Leopoldstraße 62, 2. Stock) [vgl. Adreßbuch für München 1916, Teil I, S. 749], spätestens im Frühjahr 1915, wie einer Postkarte zu entnehmen ist [vgl. Wedekind an Will Vesper, 19.3.1915].!
Ihre schönen GedichteWill Vespers kriegsverherrlichender Lyrikband „Vom großen Krieg. 1914. Gedichte“ (die erste Folge mit 32 Seiten), vordatiert auf 1915 in der C. H. Beckschen Verlagsbuchhandlung (Oskar Beck) in München erschienen (dort war Will Vesper von 1906 bis 1913 als literarischer Beirat und Übersetzer tätig gewesen) und als Neuerscheinung angezeigt [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 81, Nr. 277, 30.11.1914, S. 8965]. Will Vesper war mit seiner Kriegslyrik sehr erfolgreich – er erhielt am 27.1.1915 (neben den Schriftstellern Richard Dehmel, Gerhart Hauptmann, Rudolf Presber, Cäsar Flaischlen, Ernst Lissauer, Paul Warncke, Richard Nordhausen, Gustav Falke, Ferdinand Avenarius, Walter Flex und Rudolf Alexander Schröder) von Wilhelm II. „aus Anlaß seines Geburtsfestes [...] den Roten-Adlerorden 4. Klasse mit der kgl. Krone verliehen“ [Der Krieg. Zum Geburtstag des Kaisers. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 68, Nr. 50, 28.1.1915, Morgenblatt, S. 3]. „Vom großen Krieg“ lese und
liebe ich schon seit acht Tagenseit dem 26.11.1914, genau gerechnet. Wedekind hatte Will Vespers Lyrikband „Vom großen Krieg. 1914. Gedichte“ (siehe oben) vorliegen, den er vom Autor aus Ebenhausen (siehe oben) mit einem Begleitschreiben erhalten haben dürfte, das nicht überliefert ist; erschlossenes Korrespondenzstück: Will Vesper an Wedekind, 25.11.1914.. Sie sind mir weitaus das höchsten was
ich seit vier Monatenseit Kriegsbeginn am 1.8.1914. an Lyrik kennen gelernt. Stückedie Gedichte „Deutsches Gebet“ und „Deutsche Musik“ aus dem Lyrikband „Vom großen Krieg. 1914. Gedichte“ (siehe oben). Das martialische Kriegsgedicht „Deutsche Musik“ war mit entsprechendem Nachweis in den „Münchner Neuesten Nachrichten“ nachgedruckt: „England führt Krieg / wider die deutsche Musik / und will von Haydnschen, Bachschen Chören, / und will von Beethovens Symphonien, / von Mozarts und Wagners Melodien / und all unsrer Meister Wunderwelt / keinen Ton mehr hören, / weil ein jeder ins Ohr ihm gellt: ‚Hört und seht / gegen welch ein Volk ihr steht / in schimpflichem Krieg!‘ // Da nun die göttlichen Meister schweigen, / wollen wir eine andre Musik, / auch deutschen Geistes, ihnen geigen. / Die sollen sie hören, ob sie wollen oder nicht, / bis ihnen das Trommelfell bricht! / Eine deutsche Musik! eine Teufelsmusik! / Kein Tirili und zart Gequick, / eine Musik, die ein jeder versteht, / die von Herzen und zu Herzen geht, / geschrieben mit blutigen roten / feuerflammenden Noten. / Deutsche Gewehre sollen die Flöten sein. / Deutsche Kanonen brummen den Baß darein. / Deutsche Schwerter sind die Geigenbogen, / breit über britische Nacken gezogen. / Unsere Kolben trommeln dumpf und hell / auf britischem Fell. // Als sie die Ouvertüre vernommen, / wurden die Hörer im Saal, / wurden Frankreich und Belgien fahl / und England erbebt. / Weh ihm! wenn sich der Vorhang hebt / und unsre Musikanten kommen / über den Kanal!“ [Will Vesper: Deutsche Musik. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 67, Nr. 592, 18.11.1914, Morgenblatt, S. 2] wie „Deutsches Gebet“ und
„Deutsche Musik“ sind mir ans Herz gewachsen. Zwei Mal schon hatte ich Briefe
an Sie begonnen, seit Ausbruch des Krieges, um Ihnen für die schönen Tage in
FlorenzWedekind verbrachte die fünf Tage vom 27.6.1914 (Ankunft) bis 1.7.1914 (Abreise) in Florenz [vgl. Tb]. Er war an drei Abenden mit Will Vesper zusammen, der seinerzeit noch in Florenz lebte; am letzten Abend war er bei ihm eingeladen und alle drei Abende mit ihm in der Birreria Mucke (Via Lamberti 5), dem Lokal von Bruno Mucke, in dem es böhmisches und bayrisches Bier gab (Pilsener Urquell und Pschorr Bräu) ‒ so am 28.6.1914 („mit Will Vesper [...] bei Mucke“), am 29.6.1914 („Mit Will Vesper und Frau [...] bei Mucke“) und am 30.6.1914 („Am Abend bei Will Vesper [...] mit ihm und seinen beiden Frauen. Nachher mit ihm bei Mucke“), wie Wedekind im Tagebuch festhielt., für die freundlichen | Grüßenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Will Vesper an Wedekind, 13.7.1914. Es hat sich entweder sich um eine Bildpostkarte mit einem Doppelmotiv oder um zwei Bildpostkarten aus Florenz gehandelt, von denen eine Leda, die andere Venus als Motiv hatten. mit der Ledain der griechischen Mythologie von Zeus sexuell bedrängte Königstochter, „der sich ihr in Gestalt eines Schwans genähert hat“ [Brodersen/Zimmermann 2006, S. 331]; insofern erscheint sie als Bildmotiv in der europäischen Kulturgeschichte in der Regel zusammen mit einem Schwan. und der Venusin der römischen Mythologie Göttin der Liebe (Eros), Schönheit und Fruchtbarkeit, Pendant zur griechischen Liebesgöttin Aphrodite. zu danken.
Aber da mich die Ereignisse hier zu einem gewissen Gradede lähmten, ließ
ich die Briefe halbfertig liegen, mit dem Gedanken, was Sie wohl von solcher
Undankbarkeit denken werden. Aber nun sind Sie hierWill Vesper dürfte Wedekind in dem nicht überlieferten Begleitschreiben zu seinem Gedichtband (siehe oben) mitgeteilt haben, dass er von Florenz zurück und nun wieder in München sei. und ich freue mich herzlich
darauf Sie wiederzusehen. Wollen Sie mir die Freundlichkeit erweisen zu mir zu
kommen, mit Ihrer verehrten Frau Gemahlin, wenn sie hier ist. Dürfen wirFrank und Tilly Wedekind. Sie
und Ihre Frau GemahlinDie Grafikerin Käte Waentig war seit 1906 mit Will Vesper verheiratet; sie hat die Titelblätter und Buchumschläge einiger seiner Bücher illustriert. Wedekind hat sie im Sommer 1914 in Florenz persönlich kennengelernt (siehe oben). vielleicht | übermorgenWedekind war am 6.12.1914 (Sonntag) und die Tage darauf „krank“ [Tb]; am 4.12.1914 war die „Bauchmuskulatur entzündet“ [Tb], Bettruhe war angezeigt und er konnte keinen Besuch zum Essen empfangen., Sonntag um halb zweium 13.30 Uhr. zum Essen
erwarten? PaßSchreibversehen, statt: Paßt (oder: Passt). es Ihnen, dann bitte ich um telephonischen BescheidWill Vesper hat Wedekind angerufen [vgl. Wedekind an Will Vesper, 7.12.1914]. No
20633.
Mit schönsten Grüßen
Ihr ergebener
Frank Wedekind.