München, 21.VIII.1912.
An Willy Rudinoff v. G. g. Kuenstler.
Lieber Freund!
Wie ein Fürst beschenkst Du mich! Als Künstler bist Du ja
ein Fürst. Als Mensch, in der souveränen Art, wie Du Dein Leben gestaltest,
auch. Aber rein sachlich genommen, machst Du mir ein ganzes Kupferstich Kabinet
zum GeschenkWilly Rudinoff hatte Wedekind am 7.8.1912 (siehe seinen ersten Brief unter diesem Datum) eine ganze Reihe seiner Radierungen geschickt, darüber hinaus Presseartikel über seine Ausstellungen und einen Ausstellungskatalog (siehe seinen zweiten Brief unter dem Datum 7.8.1912).. Meine Frau brachte es mir am Vormittag herein, ich lag noch zu
Bett. Ich warf den Schlafrock um, derweil löste sie die Stricke, bog die
Kartons auseinander und dann erfreuten wir uns mehr als eine Stunde lang an
einem Blatt nach dem anderen.
Meiner früheren Unkenntnis zur Schmach muß ich gestehen, daß
ich Dein Lebenswerk seitdem mit ganz anderen Augen ansehe. Du bist einer der
Allerersten.
Wenn Du der allgemeinen Anerkennung dieses Sieges in
breitester Oeffentlichkeit immer noch geflissentlich ans dem Wege gehst, so
thust Du das doch wahrscheinlich auch nur aus Liebe zu Deiner Bühnenthätigkeit.
Seit sechs Jahren, seit meiner Verheirathung, hängt die
OelskizzeWilly Rudinoffs Selbstporträt im altniederländischen Stil in Öl auf Pappe gemalt [vgl. Raff 2015, S. 70, 229], das er Wedekind offenbar im Jahr 1900 übergeben hat und das dem vorliegenden Brief zufolge seit 1906 bei ihm über dem Schreibtisch hing (zuerst also in Berlin, seit 1907 dann in München), hat dem Maler selbst nicht gefallen. Tilly Wedekind erinnerte sich 1953 (Typoskript im Nachlass) an Willy Rudinoff: „Wir haben ein Selbstporträt von ihm – Frank hatte es aufgehängt – es ist nach Rubens-Manier gemalt – aber Rudinoff war entsetzt, als er es bei uns an der Wand sah. [...] Er nahm mir, nach Wedekinds Tod, das Versprechen ab, es wegzutun. – Da aber Frank es aus Sympathie und Pietät aufgehängt hatte – hängt es auch heute noch bei uns.“ [Raff 2015, S. 182f.]; Kadidja Wedekind hat dazu 1971 auf das Blatt notiert, das sei wohl ein Irrtum ihrer Mutter, das Gemälde sei vermutlich verbrannt., die Du mir vor zwölf Jahren hier in München schenktest, über meinem
Schreibtisch. Aber Deine prachtvollen Radierungen werden jedes meiner Zimmer
schmücken und ich werde sie täglich mit gleicher Freude genießen. Du und Deine
verehrte liebe Gemahlin, Ihr werdet sie hoffentlich auch bei uns sehen, wenn
Ihr wieder nach München kommt. Diesmal war ich Strohwittwer und unser
ZusammenseinWedekinds alter Freund war seit Anfang Juli 1912 zu einem Gastspiel in München, im Deutschen Theater, dem Varieté in der Schwanthaler-Passage, und trat dort unter dem Namen „William Rudinoff “ als „Universal-Künstler“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 65, Nr. 333, 3.7.1912, Vorabendblatt, S. 8] auf. Wedekind hat die Vorstellung am 6.7.1912 gesehen, suchte den befreundeten Künstler in der Garderobe auf und ging mit ihm in sein Stammlokal; er hielt fest: „Im Deutschen Theater. Dann mit Rudinoff und Frau in der T.St.“ [Tb] Wedekind war in der Torggelstube nicht nur mit Willy und Ida Rudinoff, mit in der Runde waren auch Max Halbe, Gustav Waldau und Erich Mühsam [vgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 8.7.1912], wobei dieser am 7.7.1912 über den weit in die Nacht reichenden Abend zuvor notierte: „Wedekind saß besonders mit dem Feuerfresser Rudinoff und dessen Frau zusammen.“ [Tb Mühsam] in der Torggelstube war der schönste Abend meiner
StrohwittwerschaftWährend Frank Wedekind sich in München aufhielt (seit dem 30.6.1912, davor war er in Dresden), war seine Frau Tilly Wedekind mit den Kindern vom 20.6.1912 bis 15.7.1912 zu Besuch bei ihrer Schwiegermutter in Lenzburg..
Mit besten Grüßen und Empfehlungen von uns beiden an Dich
und Deine verehrte Frau und auf baldiges frohes Wiedersehn Dein alter
Frank Wedekind.