Lenzburg Mittwoch Juli 1884.
Du „Drehpeter„DREHPETER, m. nennt man im gemeinen leben einen im handeln und in der bewegung langsamen mensch, bei dem nichts einen rechten fortgang hat“ [DWb Bd. 2, S. 1368].“ von einem – DichtergeniusMit dem Wort ‚Dichtergenius‘ endet Wedekinds Gedicht „Künstlerblut“, das nur in einer Abschrift Minna von Greyerz’ vorliegt.!
Was Drehpeter heißt, wirst Du wol wissen; zu solchen rechne ich auch diejenigen
Leute, welche ohne triftigen Grund, ihre Freunde auf Briefe warten lassen u
haben sie endlich den Entschluß gefaßt, es zu thun dieselben zu beantworten u ist
das große Werk vollbracht, ihr Schreiben dann noch 2-3 Tage herumliegen lassen
– sie haben sich ja vorderhand selbst
genügt u erst in zweiter Linie fällt ihnen ein, daß derjenige welcher Anspruch
darauf machen darf, befriedigt werden sollte. Nennst Du das „heruntercapiteln“?
Oh es sollte mich
freuen, wenn meine Worte etwas Eindruck machen könnten u Du Dich thatsächlich
darin bessern wolltest. Dann werde ich Dir auch meine Verzeihung schicken,
vorderhand werde ich Großmut üben u Dich mit einer unverdienten baldigen Antwort zu
beschämen suchen. Dein
Briefvgl. Wedekind an Minna von Greyerz, 29.6.1884. – Der Brief ist nur fragmentarisch überliefert, der Anfang (vermutlich 1 Doppelblatt) fehlt. an u für sich aber hat mich sehr gefreutMinna von Greyerz hat die Worte mit dicker Tinte und sichtbar größer geschrieben als den übrigen Brieftext., wenn Du auch nicht den Ausdruck dieser Worte hörst, so
siehst Du doch den
Nachdruck. |
Deine
Briefbehandlungstheorie verstehe ich schon, besonders wenn ich bedenke, daß Du
nun, bei Deinem/r/ einmal ausgepsprochenen
Behauptung beharren willst. Im
Geheimen hast Du meinem Satz aber doch auch Recht geben müssen, besonders
bei einer Corresspondenz zwischen zwei intimen Freunden, die sich gern Alles offenbaren, selbst wenn
der Brief über Gebühr schwer würde. In einer Beziehung allein schon billige ich
Deinen Ausspruch, weil ich finde, daß dadurch mehr Leichtigkeit in StylSchreibversehen, statt: im Styl. gebracht wird, was ja
nur fördernd sein kann. Ich bin also weit entfernt Dir zu zürnen, nebenbei
gesagt, Du mußt mich für empfindlich halten, daß Du das fragen konntest. Na ja
s’hat eben jedes seinen Haken, oft ganz unbewußt, daher verdienst Du vielleicht
jene Bemerkung gar nicht. – Daß Du Dich nun so gern und oft in die Natur
versenkst, auf WaldeshöhAnspielung auf Wedekinds frühmorgendlichen Spaziergang zum Signal, von dem er in seinem Brief erzählt. u einsam plätschernden SilberbachAnspielung auf das in Wedekinds Brief abgeschriebene Gedicht „In Pully“., wundert mich, bei einem Dichtergemüt wie
das Deine, gar nicht. WolSchreibversehen, statt: Wohl.
aber will mir Deine einstmals hingeworfene Bemerkung nicht aus dem Sinn: daß
die Natur Dich kalt lasse. Wie reimt sich denn das zusammen? Besonders wenn man
Einkehr in sich selbst halten will u Probleme höherer Art lösen möchte, so |
eignet sich zu solchen Betrachtungen doch keine Umgebung besser als die freie
Natur, dieses Eldorado von Vollkommenheit?/!/ Nur einem/n/ geistlosen
Menschen kann die Natur kalt lassen, weil er den Geist nicht darin, allüberall erkennen kann, weil
er nicht im Stande ist, ihn selbst hineinzulegen. Wo der Geist fehlt ist das
Leben nur Mechanik, also schon kein Leben mehr sondern nur todte Maschine.
Verzeih, alle logischen Begründungen riechen nach A Abhandlung
u die treffe Bann u Fluch wenn sie nicht Humor sprüht. Ich wähle daher einen
bloßen Namen der alle Farbenpracht in sich schließt: Blanche! Die VersöhnungÜber die Verstimmung von Blanche Zweifel hatte Minna von Greyerz in ihrem letzten Brief geschrieben [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 2.-5.6.1884]. hat stattgefunden bei Blumenduft u
Vollmondschein in einem der lauschigen Plätzchen des schönen Garten’sDer zur Villa Hünerwadel gehörende Garten in Niederlenz – im Besitz von Adolf Saxer, später von seiner Tochter Lis Saxer – wurde 1906 vom Schweizerischen Gemeinnützigen Frauenverein erworben und beherbergte die erste Gartenbauschule für Frauen; diese bestand bis 2016. von Hr. Saxer’s, vor dem KränzchenDem Kränzchen gehörten Blanche Zweifel, Lis Saxer, Bethi Hünerwadel und Minna von Greyerz an [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 2.-5.6.1884].. Dieselbe aber
auseinanderzusetzen wäre mehr als Klatsch, nein weniger, nichts weniger als
mehr oder weniger eine frivole Zers/z/ausung
einer reinen Blüthe. Glaube an deren Schönheit u Duft u sei zufrieden; denn die
Poesie braucht keine Analyse: Die Abschrift des GedichtchensDie Abschrift von Blanche Zweifels Gedicht („Mir war so weh den ganzen Tag“) befindet sich am Ende des Briefs.
werde ich besorgen, vielleicht frage ich sie heut extra in der SingstundeMittwochs probte der Chor des Lenzburger Cäcilienvereins, dem neben Minna von Greyerz unter anderem auch Blanche Zweifel und Frank Wedekinds Mutter Emilie Wedekind angehörten. darum, das kann
ihr ja nur schmeicheln. Das Resultat werde ich Dir zum Spaß dann | mittheilen.
– Donnerstagden 3.7.1884.. Daß Dir
meine Betrachtung über die verschiedenen AlterstufenSchreibversehen, statt: Altersstufen. – Möglicherweise bezieht Minna von Greyerz sich auf die pädagogische (und im 3. Band feministische) Abhandlung „Die Erziehung des Menschen auf seinen verschiedenen Altersstufen“ der Schweizer Pädagogin Albertine Necker de Saussure (3 Bände. Friedrich Perthes, 1836, Hamburg, 1839). „ein fruchtbares Thema für eine längere, sehr
interessante Abhandlung“ scheint, welche „eine herrliche Skizze abgeben“ würde,
freut mich sehr u möchte ich Dich daher aufmuntern Dich näher darüber
auszulassen. Mir fällt vorderhand
nichts weiter ein, höchstens daß ich mich in die verschiedenen Empfindungen od. auch Auffassungen der
verschiedenen Altersclassen vertiefen könnte; daher bin ich um so begieriger
was es denn Dir für Gedanken weckte. Deine Vergleichung in Bezug auf das Herz
als kl. Staat ist
gar nicht übel, sie kommt mir sogar vollständig richtig vor. Bei mir hatte die
genannte Revolution in so fern g/G/utes zu Folge, als ich jetzt wieder
normal bin. Um das Kind mit Namen zu nennen, glaube ich es am besten „EntrüstungspessimismusVerschiedene Ausformungen des Pessimismus diskutiert Olga Plümacher in ihrem Buch „Der Pessimismus in Vergangenheit und Gegenwart“ (Heidelberg 1884). Über den „Entrüstungspessimismus schreibt sie: „Wie der Weltschmerz so ist natürlich auch der Entrüstungspessimismus überwunden; denn alle Uebel und Uebelstände sind nur die variablen Formen der mit der Realität und Individualität selbst gesetzten Verhältnisse der Collision. Die Entrüstung findet daher nur den unsittlichen Verhältnissen gegenüber ihr practisches Gebiet, hat aber in der Philosophie keinen Raum.“ [Ebd., S. 160]“ zu taufen, welcher mir
jedenfalls als der unvortheilhafteste Pessimismus erscheint zum Weiterleben.
Was im Grund genommen der phil. echte Pess. bezweckt ist mir nicht klar, daher ich dem opt. oder Pseudo-Pessimismus huldige, welche
Auseinandersetzung ich kürzlich Frau Plümacher machte. Du
mußt nämlich wissen, daß ich am Samstagden 28.6.1884. – Die Korrespondenz zwischen Minna von Greyerz und Olga Plümacher ist nicht überliefert. von ihr einen längern, eingehenden, lieben, interessanten für
mich sehr werthvollen |
2.)
Brief von ihr hatte. Meine Freude kannst Du Dir denken, ich war
nichts weniger als philosophisch beim Empfang desselben, sondern tollte u
jubelte noch ein Weilchen damit in meinem Zimmer umher. Ich kenne zwar noch ein
andrer großer Kindskopf in ähnlichen (d.h. bei freudigen Anlässen)
Angelegenheiten, außer mir, nichtwahr? Am Sonntagden 29.6.1884. beantwortete ich ihn gleich u habe nun heute
vor Tisch bereits eine Karte
von ihr Es dürfte sich um eine Karte handeln, die Olga Plümacher am Dienstag, den 1.7.1884 an Minna von Greyerz schreiben wollte, wie sie an Wedekind schrieb [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 30.6.1884] und die – einen Tag für den Postweg von Stein am Rhein nach Lenzburg gerechnet – am Mittwoch, den 2.7.1884 Minna von Greyerz vorgelegen haben dürfte.bekommen, die mich ganz erglühen macht. Sie wird mir nächstens meinen
Brief ausführlich beantworten u will
mir ein Buch von KörberSchreibversehen, statt: Buch von Koeber. Gemeint ist Raphael von Koebers Abhandlung: „Das philosophische System Eduard von Hartmann's“ (Breslau 1884).:
Hart’s. sämmtliche Werke im Auszug für
einige Zeit schicken. Wie mich ihr Interesse für mich freut kannst Du Dir
denken; es ist mir dies so neu, so ungewohnt von Jemandem der (für mich) so unerreichbar hoch
über mir steht, daß ich’s kaum recht fassen kann u beinah fürchte/en/
möchte, sie, könnte sich bei genauer
Untersuchung enttäuscht fühlen; nun das wäre ihre Sache, mir würde es zwar auch
leid thun; allein ich werde mich geben wie ich bin; nichts studiren u künsteln
um zu gefallen, das geht ja wider alle Natur. Zur Besserung trägt eine solche
Bekanntschaft d.h. Theilnahme immer bei, wenn man in sich ein Streben nach
Höherm kennt, daher wird jedenfalls diese Annäherung ihre guten Folgen ausüben;
denn man geht selten aus den Beziehungen eines Menschen, den wir achten | u
lieben müssen, hervor, ohne seinen Einfluß zu spüren. Daß Du regen Antheil
genommen, an dem Verhältniß zwischen mir u O. Plümacher
u mir, freute mich sehr, obwohl Du meintest ich seiMinna von Greyerz bezieht sich auf Interpretationen Wedekinds in seinen vorangegangenen Brief Wedekinds [vgl. Wedekind an Minna von Greyerz, 29.6.1884]. verletzt gewesen. Ich muß mich in dieser Hinsicht
wahrscheinlich falsch ausgedrückt haben, denn wie könnte ich einer solchen Frau gleich was
übel nehmen! Das wäre zum Midesten Mindesten
sehr dumm „von mich“Die konnotierte dialektale Formulierung zitiert Minna von Greyerz auch in ihrem Geburtstagsgedicht für Wedekind (von „mich“) [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 23.7.1884]..
Ich habe Dich aber ganz gut verstanden u danke ich Dir herzlich für Dein
freundliches Bestreben Frieden unter Deinen Leuten zu haben; ich bin sicherlich
die Letzte die ein solches Bemühen falsch beurtheilen wird. Hier habe ich ja den Deinen
eignen
Beweis: in dieser scheinbaren Kleinigkeit
zeigt sich mir gerade die Feinheit Deines Denkens Gemüthes. –
Warum Du mir noch
immer nichts in mein
Album fabrizirt hast kann ich mir denken: Freund BabyKosename Wedekinds innerhalb der Familie. war zu – bequem. Ich bitte Dich, mache doch
ganz nach Belieben was, gerade in ein derartiges Allerleialbum, darf
Verschiedenes kommen u weil Du doch zuweilen einem farbenwechselndem CamelionSchreibversehen, statt: farbenwechselnden Chamäleon. gleichst mag dem
entsprechend auch Dein Einfall sein. Vorderhand amüsirte mich Deine Geschichte
von der Prügel-Rosentour früh | Morgend/s/ um 3 ¼ Uhr ungemein u lachten
wir gehörig zusammen TanteFrank Wedekinds Mutter Emilie Wedekind.
u ich. O Du! Deine poetischen
ErgüsseBeide Gedichte („Das gestohlene Röslein“ und „In Pully“) hatte Wedekind in seinen letzten Brief an Minna von Greyerz eingefügt. gefallen mir, besonders das zweite „Der Heimwehkranke“ zum andern kann ich nur sagen, wegen den verbotnen
Früchten: „wohl bekomm’s!“ Aber manches schmeckt süß und hinterläßt darnachSchreibversehen, statt: danach. doch einen widrigen
Geschmack oder nimmt einem gar den goût(frz.) Geschmack. an einfacher, gesunder Kost.
Mein Vergleichvgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 2.6. bis 5.6.1884. zwischen Dir, Heine Göthe u Mozart war allerdings ein Scherz, aber
doch immerhin ein Scherz der auf was hinzielte, oder wolltest Du absichtlich
jene Stelle nicht verstehen nicht
verstehen? Der Vergleich fand ja nur wegen der allgemeinen, wechselnden Vorliebe für das sog. schöne Geschlecht, statt.
Und nun zum Schluße noch Blanches GedichtenSchreibversehen, statt: Gedichtchen.,
die Erlaubniß habe ich zwar nicht eingeholt, es gehört ja eigentlich mir u Deine Mama meinte, ich könne
Dir’s schon schreiben.
Mir war so weh den ganzen Tag,
So weh um’s Herz und trübe
Ich sehnte nach dem Frieden mich
Sehnt mich nach alter Liebe.
Des Menschen Thun,
so liebeleer, |
Ich konnt’ es nicht verstehen
Des Menschen Wort, so ohne Treu
Sah’ ich im Wind verwehen.
Und was mir heilig
war u groß
Mein Dichten u mein Sehnen
Sie griffen’s an mit herber Hand
Es lächelnd zu verhönen.
Ob golden auch die
Sonne lacht
Ob auch die Vöglein sangen
Es hielt mein Herz mit Zaubermacht
Ein böser Traum umfangen.
Da brachtest Du die Blumen mir,
Noch frisch im Maienthaue
Die Blumen, die der Frühling bringt
In Feld u Wald u Aue.
Wie bin den lieben
Blumen ich
Von Herzen so gewogen,
Durch meine Sinne ist es mir
Wie Frühlingshauch gezogen.
Es schwand der
Traum, es wich der Bann,
Ze Der Zauber ist
gebrochen,
Und das Erlösungswort hat mir
Die Freundschaft hold gesprochen.“
––––– |
3.)
Noch etwas: Komme
doch mit Willy im August in die Ferien; Hamy kommt dann
auch, vielleicht sogar Otto v. Greyerz, u ich denke es sollte
dann so hübsch sein wenn wir Alle miteinander noch einige vergnügte Tage
zusammen verleben könnten deren Erinnerung uns für die kommende Schaffenszeit
erfrischen u erfreuen würde. Anfangs der letzten Woche August werde ich
voraussichtlich mit den Störchen weiterziehenMinna von Greyerz wollte in Dresden am ‚Königlichen Conservatorium für Musik‘ Klavier und Gesang (für künftige Lehrerinnen) studieren. wenn auch nicht d
nach dem | Süden. Was machen denn Deine Malstudien, ich bin Dir sehr dankbar,
wenn Du mir einmal irgend ein solches Muster zuschicken willst; auch Poesien
neuern u ältern Datums sind hochwillkommen. In lieblicher Freundschaft grüßt
Dich Deine braune Cousine Minna
–––––