Schloß
Lenzburg, VIII.1881.
Mein lieber Adolph!
Mit Schrecken bemerke ich soeben, daß mein Vorrat an Briefpapier
vertilgt ist, und Du mußt daher entschuldigen, wenn ich im Vertrauen auf den
felsenfesten Satz „Der Zweck
heiligt das MittelRedewendung.“ mich mit diesem ungehobelten Format begnüge. Nimm
nun meinen besten Dank für Deinen
l. Briefvgl. Adolf Vögtlin an Wedekind, 30.7.1881. hin, und da ich Deine Gründe vollkommen
begriffen, so entbinde ich Dich also, zwar nicht ohne Schmerzen, aber eben
deswegen mit desto größerem Stolz für die nächsten 6 WochenAdolf Vögtlin besuchte die Rekrutenschule der Infanteriedevision in der Kaserne in Genf, die vom 4.8.-15.9.1881 dauerte [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 61, Nr. 15, 16.1.1881, Beilage, S. (5)]. der Verpflichtung,
auf diesen Brief und etwa noch folgende, zu antworten. Mit großem Interesse las
ich die Beschreibung der Naturwunder, denen Du auf Deiner Reise begegnet. Bei
der Vergleichung zwischen einem natürlichen und einem künstlichen Tunnel und
ihrer schnelleren und langsameren Bereitung ist mir aber doch auch die
Vergleichung ihres Nutzens eingefallen, und wenn Du die hinfällige
Menschennatur der Unzerstörbarkeit des Wassers gegenüberstellst, so wirst Du
gewiß nicht mehr das Wunderbare eines Gotthard-TunnelsAm 29.2.1880 war nach 7 Jahren 5 Monaten Bauzeit der Durchstich für den 15 Kilometer langen Eisenbahntunnel, den damals längsten Tunnel der Welt, gelungen. Anfang 1882 sollte der provisorische Betrieb der Strecke beginnen, am 22.5.1882 fand die Eröffnungsfeier der Gotthardbahn statt. Europaweit berichtete die Presse über die Ereignisse. unterschätzen, besonders, da das Wasser doch wohl
nur da durch die Erde dringt, wo schon eine Oeffnung bestand. |
Die Beschreibung des Erdbebensdas Erdbeben vom 21./22.7.1881, dass sich „Donnerstags Abends 7 Uhr“ mit einem Erdstoß in Genf ankündigte, dem „zwei weitere Stöße [...] um Mitternacht und noch drei, und zwar ziemlich starke, um 2 Uhr 40 früh“ gefolgt waren [St. Galler-Zeitung, Jg. (51), Nr. 171, 25.7.1881, S. 688f.]., welches Du erlebt hast, hat mich aufs
tiefste erschüttert. Ich bin aber gewiß, daß mich seine Folgen, Deine Erdbeben-Poesien, wenn Du
erlaubst, noch mehr erschüttern würden. Ich will nicht unbescheiden sein. –
Aber offen gestanden, ich liebe die brausende, zügellose Leidenschaft, die
Tumulte des Herzens, über alles, vielleicht gerade darum, weil sie mir am
meisten abgehen.
Gegen Deinen süßen Trost in Bezug auf Deine Sicherheit: „Unkraut verdirbt nichtRedewendung.“
möchte ich aber dann doch in allem Ernste protestieren. Diesmal stehe ich als
warnender Geist vor Deiner trüben Seele und möchte Dich bewahren vor der
schrecklichen Selbstverachtung, denn ihre Folgen sind furchtbar und
unabwendbar. Selbstmord folgt auf Selbstverachtung so gewiß, wie Schmerz auf
Freude, wie Regen auf Sonnenschein.
Was nun unsere Diskussion über die Liebevgl. dazu auch Wedekind an Adolf Vögtlin, 10.7.1881. anbelangt, so muß
ich endlich nach heldenmüthiger Vertheidigung meiner Meinung kapitulieren. Ich
thue es mit Freude, da Du mir in diesen Anschauungen doch näher bist, als ich
vermuthete. – Oder muß ich etwa für wahr halten, daß Du PessimistAnhänger des Pessimismus, einer der überzeugt ist, dass unsere Welt die schlechteste aller möglichen Welten sei. Der Pessimismus ist ein auf Arthur Schopenhauers Werk „Die Welt als Wille und Vorstellung (1819)“ zurückgehender philosophischer Begriff, der in Eduard Hartmann „Die Philosophie des Unbewußten“ (1869) aufgegriffen sich in den 1880er Jahren zur Modephilosophie entwickelte. Wedekinds Auseinandersetzung mit dem Pessimismus geht, vermittelt durch die Hartmann-Schülerin Olga Plümacher (Wedekinds philosophische ‚Tante‘) und vermutlich den Hartmann-Schüler Karl Goswin Uphues (Wedekinds Deutschlehrer in der Kantonsschule Aarau von 4/1879 bis 12/1881), auf die Zeit zwischen Winter 1880/81 und Winter 1882/83 zurück, in der er zahlreiche weltschmerzlich und pessimistisch inspirierte Gedichte verfasste. Ironisch gebrochen erscheint die Thematik in Fridolin Wald, der Hauptfigur im Drama „Der Schnellmaler“ (1889) und der Figur des „Moritz“ in „Frühlings Erwachen“ (1891/1906) [vgl. KSA 1/I, S. 929-931 und KSA 5, S. 592f. und 836-838]. geworden bist?
– Das würde mich allerdings am allermeisten freuen, denn meines Erachtens kann
nur ein Pessimist wahrhaft glücklich sein, da er doch alle Hoffnung und alles
ängstliche „Langen und Bangen“ verlernt hat. – Da ich nunmehr in unserem
Liebesstreit kapituliert habe, so will ich Dir noch eine Hinterthür zeigen,
durch welche ich mich hätte retirierenflüchten. können. Da du aber darauf nicht gefaßt warst
und ich im Beginn des Kampfes selber nicht daran dachte, so habe ich keinen
Gebrauch davon gemacht. – Nun höre aber, auf welche Weise ich aus | einem
Christen ein ungläubiger Skeptiker wurde. Es sind nun bald zehn JahreAls Achtjähriger hatte Frank Wedekind seine Geburtsstadt Hannover verlassen und war mit seiner Familie in die Schweiz emigriert, wo er am 15.9.1872 ankam. her, als ich in Hannover einst auf der
Straße einen Mann sah, der im Vorübergehen 1 Fr. in einen am
Hause stehenden Opferstock warf, währenddem neben mir jemand zu seinem
Begleiter sagte, indem er auf den braven Geber zeigte: „Der will auch ein
Geschäft mit unserem Herrgott machen.“ Diese Worte habe ich nie vergessen und
sie führten mich später im Verein mit vielen anderen Motiven auf die
Ueberzeugung, daß der Mensch nichts thue ohne angemessene Belohnung, daß er keine andere Liebe kennt, als EgoismusDer für Wedekind signifikante Egoismus-Diskurs [vgl. KSA 2, S. 820, 839f.] durchzieht die gesamte Korrespondenz mit Adolf Vögtlin..
Denn abgesehen von aller Vergeltung hier oder im Jenseits, ist uns doch das
Bewußtsein einer nützlichen Handlung, das Gewissen, eine sonst unerschwingliche
Belohnung, die wir wohl zu berechnen und zu schätzen wissen. Wem aber das
Gewissen nicht solche Belohnung gewähren kann, wer nicht den inneren Genuß von
seinen Wohlthaten hat, der verübt auch keine. Wir sagen, er sein ein geiziger,
gefühlloser Mensch. Was kann er dafür? – Ich brauche Dir wohl nicht zu
erklären, da Geschlechts- und Freundesliebe von vornherein schon nur dem
Egoismus entspringen, daß wir nur solchen Menschen, die uns nichts angehen,
uneigennützig wohlthätig sein könnten, wäre nicht das Gewissen. – Ich weiß zwar
sehr wohl, daß diese Anschauung schon im Alterthum aufgetaucht ist, ich bin aber
trotzdem nicht imstande, mich von ihr zu trennen, wie auch noch niemand
imstande war, sie mir zu widerlegen. Vom letzten Sonntagden 7.8.1881. bis heute, Mittwochden 10.8.1881.,
war Naturforschergesellschaft
in Aaraudie Jahresversammlung der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft, die 1881 unter der Leitung des Geologen und Gymnasialprofessors Friedrich Mühlberg in Aarau stattfand. Mit nur 130 Mitgliedern (statt der erwarteten 200 bis 250) war die Tagung relativ schwach besucht.. Mein Papa war alle 4 TageAm Sonntag, den 7.8.1881, wurden „der Empfang der Gäste und die Sitzung der vorberathenden Kommission“ ausgerichtet sowie ein Kneipabend auf dem Aarauer Festplatz „Schanzmätteli“. Am zweiten Tag trugen anerkannte Wissenschaftler über Themen „verschiedenen Inhalts, aber von allgemeinem Interesse“ vor. Nachmittags gab es „einen Ausflug ins Bad Schinznach und auf die Habsburg“ und abends wiederum eine Zusammenkunft auf dem Schanzmätteli. Nach den Fachdiskussionen der Spezialisten, die am dritten Tag in Sektionen stattfanden, gab der Aarauer Cäcilienverein ein Konzert. Am letzten Tag der Jahresversammlung wurden Vereinsgeschäfte erledigt und noch einmal Vorträge für die interessierte Öffentlichkeit gehalten [vgl. Aargauische Nachrichten, Jg. 27, Nr. 162, 12.7.1881 (Programm) sowie die täglichen Berichte ebd., Nr. 185, 8.8.1881, Nr. 186, 9.8.1881 und Nr. 187, 10.8.1881]. dort, während Armin und ich nur ein KonzertDer Cäcilien-Verein Aarau (Männerchor, gemischer Chor und Orchester) veranstaltete das Konzert anläßlich „der Jahresversammlung der schweiz. naturforschenden Gesellschaft“ am Dienstag, 9.8.1881, um 17 Uhr „unter Mitwirkung des Stadtorchesters von Bern“. Gespielt wurde zunächst die Sinfonie Nr. 6 F-Dur op. 68 (Pastorale) von Ludwig van Beethoven. Im II. Teil sangen Josef Burgmeier Händels „Arie für Bass aus Judas Maccabäus“, der Männerchor Eduard Köllners „Ave Maria“ (Opus 46), die Sopranistin Olga Schmuziger die Lieder „Ich hab’ im Traum geweinet“ (Text: Heinrich Heine), vertont vom Direktor des Cäcilienvereins Eusebius Käslin, sowie Theodor Kirchners Komposition „Was gibt doch der Sonne den herrlichsten Glanz“ (Text: Friedrich August Leo). Abschließend sang der Chor „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes“ aus Haydns „Schöpfung“ [vgl. Aargauer Nachrichten, Jg. 27, Nr. 184, 6.8.1881, S. (3)]. und einen KneipabendÜber den Kneipabend am 7.8.1881 berichtete die Presse: Die im Laufe des Sonntags eingetroffenen Mitglieder der Schweiz. Naturforschenden Gesellschaft „haben sich Abends auf dem heimeligen Schanzmätteli bei den Klängen der hiesigen Stadtmusik und bei einem guten Tropfen, der, wie wir vermuthen, eine chemische Analyse der Herren Naturforscher auch nicht zu fürchten hatte, zu einer geselligen Vereinigung, die schließlich zu einer gemüthlichen sich gestaltete, zusammengefunden“ [Aargauer Nachrichten, Jg. 27, Nr. 185, 8.8.1881, S. (2)]. mitmachten.
Am 4. Tage brachte Papa | dann einen alten StudienfreundKarl Vogt, der mit Georg Büchner in den 1830er Jahren in Gießen Medizin und Chemie studierte, lernte den ein Jahr älteren Friedrich Wilhelm Wedekind womöglich erst 1846/47, lange nach der Studienzeit, während des gemeinsamen Aufenthalts in Paris kennen. 1848/49 begegneten sich die beiden Anhänger der Revolution erneut in Frankfurt, Friedrich Wilhelm Wedekind als politischer Beobachter und Korrespondent für die Deutsche Reichs-Zeitung Karl Vogt als Abgeordneter in der Deutschen Nationalversammlung. Karl Vogt floh im Mai 1849 in die Schweiz, der Freund war am 12.3.1849 in die USA emigriert [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 261f. und Günther Klaus Judel: Der Liebigschüler Carl Vogt als Wissenschaftler, Philosoph und Politiker. In: Giessener Universitätsblätter 37 (2004), S. 50-56]. mit zu uns aufs Schloß, Professor C. Vogt von Genf, den Du sicher auch
kennstKarl Vogt lehrte als Professor für Paläontologie, Zoologie und vergleichende Anatomie an der Universität Genf, hatte dem Schweizer Nationalrat angehört und war Präsident des Genfer National-Instituts für Wissenschaft und Kunst., und der uns alle mit seinen urgelungenen Unterhaltungen aufs beste
amüsierte. Gegenwärtig sind in Solothurn FerienDie vierwöchigen Sommerferien an der Kantonsschule Solothurn hatten Anfang August 1881 begonnen: „Das Schuljahr [...] der Kantonsschule geht dem Ende entgegen.“ [Der Bund, Jg. 32, Nr. 211, 2.8.1881, S. (3f.)]. Sie dürften bis etwa 30.8.1881 angedauert haben.;
wenn diese vorüber sind, werde ich mich dorthin begeben, um endlich das
Gymnasium zu überwinden, nachdem ich nun ein Viertel JahrNachdem Frank Wedekind im April 1881 nicht in die III. Klasse des Gymnasiums der Kantonsschule Aarau versetzt worden war, hatte er das I. Quartal des Schuljahres 1881/82 auf Schloss Lenzburg Privatunterricht erhalten. lang neue Lebenskraft geschöpft
habe. Mein Frater(lat.) Bruder, gemeint war Armin Wedekind, der ehemalige Mitschüler Adolf Vögtlins, der an der Universität (ETH) in Zürich studierte und bis zum 20.9.1881 Semesterferien hatte. hat
nun auch Ferien und
läßt Dich herzlich grüßen. Nun ist mein Brief zu Ende. Ich frankiere ihn nicht,
werde aber mich bestreben, in 14 Tagen einen zweiten nachzuschicken, wenn Du es
erlaubst. Lebe jetzt recht wohl und streng Dich nicht zu sehr an in Deinem
schwierigen Dienst, grüße mir Pöldi und SchiblerLeopold Frölich und Wilhelm Schibler, die beiden ehemaligen Mitschüler Adolf Vögtlins an der Kantonsschule Aarau und jetzigen Kommilitonen an der Universität Genf.
aufs Beste, vor allem aber Dich selbst von Deinem treuen Freunde
Franklin Wedekind.