München, 6.XI.1916.
Sehr verehrter Herr Doctor GoldsteinDr. phil. Ludwig Goldstein, „Chefredakteur der Königsberger Hartungschen Zeitung.“ [GB 2, S. 373] In der Zeitung ausgewiesen als Leiter der Feuilletonredaktion „Kunst und Wissenschaft: Dr. Ludwig Goldstein“ [Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 483, 14.10.1916, Morgenausgabe, 2. Blatt, S. 178].!
Aufrichtigen herzlichen Dank für die große Freude, die Sie
mir durch Ihre liebenswürdigen Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Ludwig Goldstein an Wedekind, 4.11.1916. gemacht haben. Daß Sie mich aber im Sommer
nichts von Ihrem Aufenthalt in Münchennicht ermittelt. wissen ließen, das bedaure ich
außerordentlich. Glauben Sie bitte, daß meine Frau und ich uns sehr gefreut
hätten, Sie bei uns zu sehen und Ihre Gesellschaft zu genießen. Es werden ja
auch sicherlich wichtigere und amüsantere Dinge gewesen sein, die Sie in
München beschäftigten. Sollte Sie aber ihrrecte (Schreibversehen oder Überlieferungsfehler): Ihr. Weg wieder nach München führen, dann
bitte ich Sie herzlich, mich nicht wieder zu übergehen, sowie ich das auch in
KönigsbergWedekind ist Ludwig Goldstein dem Tagebuch zufolge sechs Jahre zuvor bei einem Gastspielaufenthalt in Königsberg begegnet – am 1.11.1911 („Redaktion der Hartungschen Dr. Goldstein“) und 5.11.1911 („mit Goldstein Geißel und Frau im Deutschen Haus und Kaiser Friedrich Café“) – und hat ihn bei seinem nächsten Gastspielaufenthalt dort am 3.3.1914 besucht („Besuch bei Dr. Ludwig Goldstein“). mir nicht nehmen ließe, mich bei Ihnen zu melden, um Ihnen für die
vielfache künstlerische FörderungLudwig Goldstein hatte nach dem Verbot von „Frühlings Erwachen“ nach der Premiere am 19.11.1910 am Stadttheater in Königsberg durch den Königsberger Polizeipräsidenten [vgl. KSA 2, S. 922, 982f.] „als Leiter des Goethebundes in Königsberg schwere Kämpfe um ‚Frühlings Erwachen‘ mit der Zensur geführt, wofür ihm Wedekind dankbar war.“ [GB 2, S. 373f.] Das Verbot wurde am 29.2.1912 aufgehoben, die Kindertragödie am Königsberger Stadttheater am 27.3.1912 neu inszeniert [vgl. KSA 2, S. 984-986]. Ludwig Goldstein hatte sich außerdem für ein „Franziska“-Gastspiel Wedekinds in Königsberg eingesetzt [vgl. Wedekind an Emil Gutmann, 18.4.1912]. zu danken, die Sie, verehrter Herr Doctor,
mir zutheil werden ließen. Die ausführliche BesprechungLudwig Goldstein hat „Hidalla“ („Karl Hetmann, der Zwergriese“) zunächst am 12.10.1916 in einem Aufsatz als Stück ausführlich besprochen (siehe unten) – anlässlich der anstehenden Premiere am 14.10.1916 am Neuen Schauspielhaus in Königsberg, die Leopold Jessner inszenierte; er besprach dann ebenfalls ausführlich diese Inszenierung [vgl. Ludwig Goldstein: Neues Schauspielhaus. Wie Jeßner Wedekind inszeniert. In: Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 486, 16.10.1916, Abendausgabe, 2. Blatt, S. 209-210; vgl. KSA 6, S. 605-608]; unklar ist, welche der beiden Besprechungen gemeint war (oder ob Wedekind beide zugleich im Blick hatte)., die Sie über Hidalla
zu schreiben die Güte hatten, bewahre ich mir als eines der schönsten Zeugnisse,
die mir das Stück seit seinem Bestehen eingetragen. Hätte das Stück nur eine
annähernd ähnliche künstlerische Würdigung bei seinem RegisseurLeopold Jessner in Königsberg (Burgkirchenplatz 2), Direktor und Oberspielleiter (Oberregisseur) am Neuen Schauspielhaus in Königsberg [vgl. Deutsches Bühnen-Jahrbuch 1917, S. 465], so auch schon im Vorjahr [vgl. Deutsches Bühnen-Jahrbuch 1916, S. 469], zuvor Oberspielleiter am Hamburger Thalia-Theater [vgl. Deutsches Bühnen-Jahrbuch 1915, S. 442]. Die aktuelle Königsberger Premiere von Wedekinds Stück unter dem Titel „Karl Hetmann“ am 14.10.1916 um 20 Uhr war angekündigt: „Neues Schauspielhaus Direktion: Leopold Jessner. Sonnabend, 8 Uhr: Zum 1. Male: ‚Karl Hetmann.‘ Schauspiel in 3 Alten von Frank Wedekind.“ [Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 483, 14.10.1916, Morgenausgabe, 2. Blatt, S. 178] gefunden. Es
ohne seine dazu gehörigen DekorationenLudwig Goldstein schrieb, Leopold Jessner habe „auf jede umständliche Ausstattung verzichtet [...]. Kaum eine Spur unseres modernen Theaters mit seinen plastischen Dekorationen!“ [Ludwig Goldstein: Neues Schauspielhaus. Wie Jeßner Wedekind inszeniert. In: Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 486, 16.10.1916, Abendausgabe, 2. Blatt, S. 209; vgl. KSA 6, S. 605] Der Journalist dürfte dem Regisseur Wedekinds Kritik mitgeteilt haben, der darüber mit dem Autor korrespondierte [vgl. Leopold Jessner an Wedekind, 16.11.1916; Wedekind an Leopold Jessner, 17.11.1916]. aufzuführen, erscheint mir genau so, wie
wenn man einem ruhig dasitzenden Menschen den Stuhl unter dem Leib wegzieht und
ihn dadurch dem Spott des Zuschauers preisgiebt. Was soll ich erst dazu sagen,
daß die Rolle des Hetmanndie Titelrolle in der Königsberger Inszenierung „Karl Hetmann“ (siehe oben), gespielt von Dr. Fritz Jessner, Schauspieler am Neuen Schauspielhaus in Königsberg [vgl. Deutsches Bühnen-Jahrbuch 1917, S. 466], wie Ludwig Goldstein bemerkte: „Darsteller des Karl Hetmann“ war „Herr Fritz Jeßner“, wobei er „das Vulkanisch-Stoßende in Jeßners Sprechart“ [Ludwig Goldstein: Neues Schauspielhaus. Wie Jeßner Wedekind inszeniert. In: Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 486, 16.10.1916, Abendausgabe, 2. Blatt, S. 209] hervorhob. in rasendem TempoLudwig Goldstein schrieb von „reißender Geschwindigkeit“, nannte „das wahnsinnige Tempo“ sowie „das Hetztempo der Rede“ [Ludwig Goldstein: Neues Schauspielhaus. Wie Jeßner Wedekind inszeniert. In: Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 486, 16.10.1916, Abendausgabe, 2. Blatt, S. 209; vgl. KSA 6, S. 605] Der Regisseur hat darüber mit dem Autor korrespondiert [vgl. Leopold Jessner an Wedekind, 16.11.1916; Wedekind an Leopold Jessner, 17.11.1916]. heruntergeschnattert wurde. Dazu
gehört sicher mehr Unverfrorenheit als Können. Aber aus der ethischen und
ästhetischen Anerkennung, mit der Sie in Ihrem schönen AufsatzLudwig Goldstein hat „Hidalla“ („Karl Hetmann, der Zwergriese“) als Stück ausführlich besprochen und meinte abschließend: „Was Wedekind gegeben hat oder jedenfalls hat geben wollen ist die Tragödie des Idealisten [...]. ‚Karl Hetmann, der Zwergriese‘ (ehedem ‚Hidalla‘) ist eines der besten Stücke Wedekinds, reich an Einfällen, geschlossen im Aufbau und verhältnismäßig stark in der Charakterisierung. Es ist so gut gelungen, weil es im Grunde nur eine Beichte und Selbstbespiegelung ist. Hetmann hat die todernsten Augen seines Dichters, der selbst für einen Clown gehalten wurde, während er den Propheten in sich fühlte. Und darum hat der Schauspieler Wedekind mit dieser Rolle auch seine größten Erfolge erzielt: an 150 mal hat er sie gespielt und jeden ergriffen und gerührt, der hinter einer Maske den Menschen fühlen kann.“ [Ludwig Goldstein: Wedekinds „Karl Hetmann“. Zur Aufführung im Neuen Schauspielhaus. In: Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 480, 12.10.1916, Abendausgabe, 2. Blatt, S. 153-154, hier S. 154]. das Stück als
dasjenige gelten lassen, was es sein will oder sein möchte, ersehe ich, daß ich
Ihnen zu allerletzt mit solchen Beschwerden kommen dürfte. Seien Sie also noch
einmal herzlichst bedankt.
Mit dem Ausdruck ausgezeichneter Hochschätzung und
ergebensten Grüßen Ihr
Frank Wedekind.