II. lichen Lebens.
Es wäre das ein fruchtbares Thema zu einer längeren sehr
interessanten Abhandlung und würde eine herrliche Skizze abgeben. Die
Revolution, von der du mir schreibstvgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 2.-5.6.1884.
sie sei in deinem Inneren vorgegangen, glaube ich aus dem MottoMinna von Greyerz hatte ein vierzeiliges Gedicht zum Thema Pessimismus auf die Rückseite des Kuverts ihres Briefs geschrieben [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 2.-5.6.1884]. das du aufs Couvert
geschrieben erraten zu können. Immerhin würd es mich freuen darüber etwas
Näheres zu vernehmen. Ist doch jedes Herz eine kleine Welt, ein kleiner Staat,
wo eine Regierungsform die andere ablöst und es oft recht stürmisch dabei
hergeht. Das gestrenge Ministerium (ich meine den nüchternen Verstand) hat
gewöhnlich nicht viel dazu zu sagen und wird durch das begeisterte Geschrei der
tobenden Massen mundtot gemacht oder gar auf hoher GilliotineSchreibversehen, statt: Guillotine. Fallbeil zur Vollstreckung der Todesstrafe. zu Tode geköpft So gehts hierhin und
dorthin, auf und ab, und alles jauchzt Freiheit„Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ ist eine der berühmten Devisen der Französischen Revolution., Gleichheit und Brüderlichkeit, bis da plötzlich von
ungefähr ein welteroberndes GenieNapoleon Bonaparte, der sich 1804 zum Kaiser der Franzosen krönte und zeitweise über fast ganz Kontinentaleuropa herrschte.
des Weges kommt und mit gewaltiger Stimme Stille gebietet. Im Augenblick sind
die Massen durch die Macht seiner Rede gewonnen und was soeben noch die
Republik in alle Himmel erhoben, jubelt jetzt alles mit lauten Vivatrufen der
absolutesten Despotie entgegen. – So gehts in der großen Welt wie im kleinen
Menschenherzen und die PeisistratosTyrannen, nach Art des Peisistratos, dem Tyrannen von Athen, und (ab 546) Herrscher über Attika.,
die Julius Cäsar
und großen Napoleon werden ihr
schändliches Wesen treiben bis zum jüngsten Tageauch Tag der Offenbarung oder des Weltgerichts genannt; der Tag, an dem nach dem Glauben der christlichen Kirche Gott über die Menschheit richtet.. |
Unsere eifrige Kirchgängerei hat indessen seit dem herrlichen WetterDer Witterungsbericht der schweiz. meteorologischen Zentralanstalt meldete seit dem 25.6.1884 steigenden Luftdruck und damit einhergehend nach langer naßkalter Wetterperiode Wetterbesserungen. Am 26.6.1884 konnte erstmals von herrlichem Wetter gesprochen werden: „Donnerstag den 26. Juni 1884. Die Zunahme des Luftdruckes hat über West- und Zentraleuropa fortgedauert und sich auch auf den Norden ausgedehnt. Bei noch vorwiegend bewölktem Himmel herrscht heute allgemein trockenes, warmes Wetter; über unserm Lande hat sich jedoch der Himmel aufgeheitert. Stellenweise haben gestern Abend in der Zentral- und Ostschweiz Gewitterregen stattgefunden.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 64, Nr. 178, 26.6.1884, 2. Blatt, S. (3)] einigermaßen nachgelassen
Daß wir aber trotzdem auch die englische Kirche schon besuchten kannst du dir
leicht denken. Es geht dort sehr fromm her und man muß viel stehen und noch
mehr knieen. Aber wenn ich auch von der langen Predigt kein Wort verstand, so
ging es mir eben wie dem deutschen Handwerksburschen in Amsterdam beim Begräbnis des Herrn KannitverstanIn der Kalendergeschichte „Kannitverstan“ (Rheinischer Hausfreund, 1808) erzählt Johann Peter Hebel von einem Handwerksburschen aus Tuttlingen, der bei seinem ersten Besuch in Amsterdam auf seine Fragen nach dem Besitzer eines prächtigen Gebäudes und eines Schiffs als Antwort „Kannitverstan“ erhält, was er fälschlich als Namen interpretiert. Sich mit dem unbekannten Herrn vergleichend und über sein mangelndes Glück hadernd, sieht er einen Leichenzug und fragt nach dem Toten. Die wieder gleiche Antwort versöhnt ihn nach wenig Nachdenken mit seinem eigenen Schicksal., ich war doch recht
aufmerksam und verließ mit großer Befriedigung den Tempel. ––– Ich komme nun
noch auf einen Punkt deines Briefes zu sprechen, auf den ich lieber nicht zu
sprechen käme, den ich aber doch nicht unbesprochen übergehen kann. Ich meine
deine Erörterung über Frau Plümacher.
Es scheint dich verletzt zu haben, daß sie sich an dem Tone deines Briefes
gestossen hat, und darin (mein Interesse bei beiden Teilen muß meine Offenheit
entschuldigen) darin bist du im Unrecht. Wenn du mich in deinem lieben Briefe
mit Heine, Mozart und Goethe vergleichst, so mag das noch
hingehen, denn erstens | nehm ich das Leben einstweilen noch nicht so ernst,
und zweitens ist ein solch unabsehbarer Abstand zwischen mir und diesen
Männern, daß man eben den Scherz nur als Scherz verstehen kann. Wenn du aber
Frau Plümacher, die gerne groß und berühmt
sein möchte und auch alle Anlagen dazu hat es dereinst sein zu können, es
einstweilen aber noch nicht ist, groß nennst, so kommt das dem wirklichen
Tatbestand zunahe um Scherz sein zu können und liegt ihm zu ferne um als wahrhaftiger
Ernst gefasst zu werden. Es hält so gerade die richtige Mitte und Distanz, um
unter andern Umständen für beissende Ironie gehalten zu werden, wovon hier
natürlich nicht die Rede sein konnte. Und jetzt noch einmal verzeih mir meine
Offenherzigkeit. Ich glaubte nur in deinem Interesse zu handeln, wenn ich unter
vier Augen dir hirSchreibversehen, statt: hier. die Lage der Dinge mathematisch scharf auseinanderlegte.
Hege ich doch die feste Ueberzeugung, daß du dich mit Frau Plümacher nun desto
eher wieder aufs Beste versöhnen und verständigen wirst. Ist sie doch wahrhaftig nicht so heikel im Umgang,
wie es andere | Philosophen zu sein pflegen, und hat doch gerade sie vor vielen
andern Menschen sich das kindlich-naive Temperament zu bewahren gewußt und
trotz allem Pessimismus noch genügende Freude an den Annehmlichkeiten des
Lebens, um sich ein indirektes Compliment gerne gefallen zu laßen und ihre
aufrichtige Freude an schönen Worten zu empfinden. – Also bitte, nichts für
ungut! Ich schreibe dir das alles, weil es durchaus nicht nach meinem Geschmak
ist, daß unter Leuten die ich lieben und schätzen muß, im Stillen solch’
unerquickliche Stimmungen herrschen. Es wäre zwar nicht das erste Mal, daß mir
dies Bestreben, Frieden zu stiften, zu meinem eigenen Nachteil gedeutet würde;
aber von dir, liebe Minna,
hoff’ ich trotz alledem nicht mißverstanden zu werden. –––––
Ich hätte dir schon lange gern etwas in dein Allerlei-Album
geliefert und war auch schon einmal ganz nahe daran es zu tun; aber es hat mich
wieder gereut. So höre denn die interessante Geschichte: – Eines Morgens hört’
ich die Hähne krähn und dachte, jetzt sei es eben an der Zeit, um einen
frischen Morgenspaziergang zu machen. | Als ich aber aufgestanden war und nach
der Uhr sah, war es eben drei Uhr vorüber, und ich hätte mich fast wieder ins
Bett retirirt. Da fiel mir ein, daß etwa um diese Zeit die Sonne aufgehn müße
Ich zündete mir demnach eine Pfeife an und marschirtevermutlich am 19.5.1884; es war der erste schöne Tag nach einer langen nasskalten Wetterperiode [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 64, Nr. 171, 19.6.1884, 2. Blatt, S. (3)]; dieses Datum hat Wedekind auch auf sein Gedicht „Auf dem Signal“ notiert [vgl. KSA 1/I, S. 177; Kommentar KSA 1/II, S. 1029ff.]. zum Signal hinauf. Das Signaldas Signal de Sauvabelin (648 m), keine 2 Kilometer nördlich vom Stadtzentrum Lausanne (489 m) entfernt, eine Aussichtsplattform mit Blick auf Lausanne und den Genfer See, ehemals ein Wachtposten (frz. Signaler) am Rand des Eichen- u. Buchenwalds Sauvabelin: „Berühmte Aussicht vom *Signal (648m), ½ St.[unde] oberhalb der Stadt [...]. Die Aussicht umfaßt einen großen Theil des Sees, die Diablerets, den Gr.[oßen] Muveran etc.“ [vgl. Baedeker 1893, S. 219]. liegt im Rücken von Lausanne auf hohem Berge, gerade am Eingang jenes herrlichen
Buchenwaldes, von dem ich dir schon erzählte, und die Aussicht von dort hinab
auf den weiten Seeden Genfer See.,
hinüber auf die blauen Savoyer Berge und auf das reizende Gestade zur Rechten
und Linken spottet jeder Beschreibung. Dort oben saß ich auf einsamer Bank,
vertieft in die vielen tausend Reize vor meinen Blicken und harrte etwa eine
Stunde lang, bis es auch der Frau Sonne beliebte, sich aus Morpheusin der griechischen Mythologie der Gott der Träume. Armen loszureissen.
Damals dacht ich viel an Lenzburg und dachte auch an dich und
dein Allerlei-Album und beschloß, dir eine Rose dafür zu machen. Nach
Sonnenaufgang streift ich noch einige Stunden durch Wald, Feld und Wiesen und
gelangte an einen großen Bauernhof der, wie der Geburtstagskuchen vom Kranze
von einer dichten, herrlich blühenden | Rosenhecke rings umgeben war. Ich ging
gerade darauf zu und wollte mich eben bedienen, da kam ein Mann mit schwerem
Knüttel aus der Hausthür auf mich losgestürzt. Wir bekamen natürlich sofort
Streit, aber ich ließ nicht nach und rettete mich endlich auch glücklich mit
meiner Beute über den Straßengraben ins nächste Gebüsch und von dort weiter im
Morgensonnenschein durch Feld und Wiesen, selig in dem Bewußtsein, eine
Rose entführt zu haben Hier sieh das Lied, das ich dabei vor
mich hintrillerte, das ich aber später für viel zu unmoralisch erkannte, als
daß es würdig wäre, in deinem Allerlei-Album unter ernster Lebensweisheit und
sinnigen Sprüchen einen Platz einzunehmen. Es lautet aber: |
Ich sag es unverhohlenUnter dem Titel „Das gestohlene Röslein“ nahm Wedekind das Gedicht vermutlich im Oktober 1884 in seine Gedichtsammlung „Lebensfreuden“ auf [vgl. KSA 1/I, S. 173f.; Kommentar KSA 1/II, S. 1140ff.].
Du Röslein weiß und rot,
Ich habe dich gestohlen
Trotz Wächter und Verbot.
Du bist mir desto lieber
Ich hab’ dich abgemalt,
Und längst vergaß ich drüber
Wie schwer ich dich bezahlt.
Stockprügel wohl und Hiebe
Sie haben nur versüßt
Die wonnigliche Liebe
Mit der ich dich geküßt
Aus deinem Angesichte
So rosenrot und schön
Ist manch verliebt’ Gedichte
Manch Verslein zu erspähn.
Viel wüßt ich zu erzählen
Von deinem spitzen Dorn,
Wie seine Stiche quälen
Wie doch so hold dein Zorn
Aus deinem Angesichte.
Liest Franklin
Wedekind
Daß die verbotnen Früchte
Die allerbesten sind. ––––– |
Die Wahrheit zu gestehen, ich hab es nicht abgemalt, das Röslein,
sondern es ist verwelkt auf meinem Schreibtisch, bis die LouiseStubenmädchen oder Familienangehörige des Tierarztes Emile Gros in Lausanne, in dessen Haus die Brüder Frank und William Wedekind im Sommer 1884 zur Pension wohnten. kam und es zum
Fenster hinausgeworfen hat. So muß ich denn auf etwas anderes denken, was dich
erfreuen könnte. – Das Buch
von Tante Plümacher
hab ich nun richtig erhaltenOlga Plümacher schickte ihre Publikation „Der Pessimismus in Vergangenheit und Gegenwart“ (Heidelberg 1884) mit einem Begleitbrief an den jungen Freund [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 23.6.1884]. und ihr auch sofort ein Dankesschreibennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Olga Plümacher, 24.6.1884. dafür aufgesetzt. Es ist ein
herrliches Werk und ich habs auch schon zur Hälfte durchgelesen. Der zweite
Teil ist natürlich bedeutend schwieriger als der ersteDer erste Teil umfasst 5 Kapitel auf 178 Seiten und thematisiert den Pessimismus in seiner geschichtlichen Entwicklung vom Altertum bis zur philosophischen Betrachtung Schopenhauers, Hartmanns und Bahnsens. Der zweite Teil thematisiert die Bekämpfung des Pessimismus von verschiedenen Standpunkten (dem naturalistischen, ethischen, religiösen und panlogistischen Optimismus), umfasst 4 Kapitel und circa 170 Seiten., aber auch nicht von dem Interesse. Der
erste Teil, die wenigen specielle philosophischen Termini techniciFachausdrücke. daraus fortgedacht, hätte viel
Anlage, populär zu werden, womit sicher dem Pessimismus viel geholfen würde,
der Welt als solcher aber nur sehr wenig, denn wenn Frau Plümacher auch logisch
genau nachweist, daß aller Fortschritt auf Pessimismus beruht, so ist das doch
noch lange nicht der ächte Pessimismus, der diese guten Folgen hat, sondern im
Gegenteil | der optimistische Pessimismus, eben der, den sie in ihrem Buche
bekämpft, um auf seinen Trümmern Schoppenhauer und HartmannSchoppenhauer: Schreibversehen, statt: Schopenhauer; Arthur Schopenhauer und Eduard von Hartmann waren neben Olga Plümacher die Hauptvertreter des philosophischen Pessimismus im 19. Jahrhundert. zu feiern. – Auch für dich wird die Lectüre jedenfalls
von nicht geringem Interesse sein: nur möcht’ ich dich bitten, über keinen
Satz, über kein Wort hinwegzugehen, eh’ es vollständig verstanden und klar
begriffen ist. Dann wird es dir nützen, das Buch, und dir über manche Frage
Aufklärung verschaffen. – Und zum Schluße nun noch einige Zeilen, die mir
soeben einfallen:
Über bemoosteUnter dem Titel „In Pully“ (Ort am Genfer See) nahm Wedekind das Gedicht in seine Gedichtsammlung „Lebensfreuden“ auf [vgl. KSA 1/I, S. 186f.; Kommentar KSA 1/II, S. 1655ff.]. Steine
Fällt ein rieselnder Quell,
Glizert im Mondenscheine
Funkelt so silberhell.
Sinnend saß ich daneben
Sah wie die Welle schäumt
Hab vom vergangenen Leben
Hab von der Heimat geträumt.
In der Tiefe der Wogen
Sah ich gar mancherlei:
Viele Gestalten zogen
freundlich an mir vorbei. |
Waren die lieben Seelen
die mich dereinst erfreut,
die meinem Herzen fehlen
hier in der Einsamkeit. –
Tausendmal laß dir danken
Lieblicher Silberbach,
Daß du den Heimwehkranken
tröstest im Ungemach
Daß du aus alten Tagen
Freundliches mir erzählt,
Daß ich dir durfte klagen
Was meinem Herzen fehlt. –
Jetzt leb wohl liebe Minna, und antworte mir recht bald. Grüße
alle die Deinen von mir
und mach Dir nicht zu viel Sorgen über den Pessimismus. Für den Unglücklichen
mag er von großem Nutzen sein. Aber wenn ihn auch der Glückliche in der Theorie
anerkennen muß, so fühlt er sich doch gewiß im Optimismus wohler. Denk an Wieland!
Ein Wahn der dich
beglückt(„Ein Wahn der dich beglückt. Ist eine Wahrheit wert, die uns zu Boden drückt.“) leicht abgewandelter Vers aus Christoph Martin Wielands Gedicht „Idris. Ein Heroisch-comisches Gedicht. Fünf Gesänge“ (1768). Das Original „Ein Wahn, der mich beglückt, / ist eine Wahrheit werth, die mich zu Boden drückt.“ (Dritter Gesang, 10. Strophe) ist zum geflügelten Wort geworden.. Ist eine Wahrheit wert,
die uns zu Boden drückt.
Und vergiß nicht deinen treuen Vetter
Franklin.