Lausanne 26. Juni 1887.
Mein lieber Bebi!
Ich denke Du wirst es mir nicht übel nehmen wenn
ich dir auch einmal schreibe, ich hätte es schon lange gethan aber da ich bis
jetzt noch niemals eine Antwort auf irgend einen meiner Briefe von Dir erhielt
wollte ich mich erst noch ein wenig besinnen. Im übrigen wirst du auch von
Mamma etwa gehört haben wie es mir gehtErika Wedekind war nach ihrem bestandenen Lehrerinnenexamen in Aarau seit Frühjahr 1887 in dem von Louise Duplan (geb. Gaudard) nach dem Tod ihres Mannes (einem Pfarrer) 1870 gegründeten und seitdem von ihr geleiteten Mädchenpensionat in der Villa „Le Verger“ in Lausanne [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 30]. und was wir treiben. Wir haben auch
bisweilen, ein recht interessantes Leben. So bekam ich letzthin die/en/
liebenswürdigen BesuchWedekind kannte Emile Daniel Gros, der 1884 während seiner Zeit in Lausanne sein Vermieter war. von monsieur Groß. Er kam grade vor
dem Nachtessen an u erweckte natürlich die Neugierder der ganzen
Pension. Hanny u Fanny HünerwadelUnternehmerfamilie aus Lenzburg. promenirten vor den Salonfenstern u mademoiselle gukte zum Schlüßelloch herein. Madame | hätte auch gern was gehört u ärgerte sich über
unsere leise Unterhaltung obschon sie gewöhnlich sagt man könne sich es
vor Lärm nicht aushalten in einem Zimmer, wo zwei oder drei Deutsche
beieinander seien Wir, natürlich amüsirten uns sehr dabei u ich lud H. G. ein doch etwa Sonntags Nachmittag herzukommen,
was er mir denn auch mit dem größten Vergnügen versprach. Am Sonntag bekam ich
dann eine reizende Bonbonière(frz.), auch: Bonbonniere; ansprechend aufgemachte Schachtel mit Süßigkeiten. von ihm als
Entschädigung für das kalte Nachtessen. Wir v/f/iell/e/n
natürlich aller darüber her und unsere StetinerinSchreibversehen, statt: Stettinerin; vermutlich die Pensionsschülerin Josephine Brunnckow, die Erika Wedekind im Herbst und Winter 1888/89 in Stettin (Grabowerstraße 34, 2. Stock) besuchte [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 139; 319]. predendirteSchreibversehen, statt: prätendierte (prätendieren = einen Anspruch erheben). immer sich
mit einem „Frachtwagen“ein mit Gütern beladener Wagen; hier vermutlich verballhornend zitiert. Gesagt wurde von der jungen Frau aus Stettin möglicherweise mit dialektalem Anklang etwas anderes, etwa: Fruchtwagen = „ein mit frucht beladener wagen“ [DWB, Bd. 4, Sp. 280] im Sinne von: Behälter mit süßen Früchten. bedienen zu wollen. Auch Madame geruhte sich zu servieren u ein reizendes
Erdbeerbonbon machte ihre Stimmung gegen Herrn Groß ganz süß u wohlwollend.
Diese Woche hatten wir das Vergnügen eines Abend einer MethodistensitzungIn Lausanne war 1840 die erste methodistische Gemeinde der Schweiz gegründet worden, jene vom Missionsgedanken geprägte evangelische Freikirche der Methodisten. beizuwohnen in welcher über die „Mission“! gepredigt wurde. Besonders gut gefiel mir | ein
Pastor den man nur so hätte nehmen können u in den Tempel zu Jerusalem als Pharisäereigentlich eine Gruppe des Judentums in der Antike; im christlichen Neuen Testament Synonym für Heuchler. stellen, er hätte sich brillant ausgenommen. Im übrigen wä/a/r dar/s/
Ganze eine große Bettelei u das schönste von allem das Schlußgebet in welches
alle 10 oder 12 Missionäre u Pfarrherrn
hineinschwatzten mit einer weinerlichen Stimme zum Davonlaufen.
Soeben haben wir mein Photographiealbum
betrachtet. Ihr erregt wirklich großes Aufsehen u uns mademoiselle Groß unsere mehr oder weniger überschnappte Gouvernante weiß noch nicht recht ob sie dich oder Hammi vorziehen soll.
In vierzehn Tagen zieht Hanny Jahn nach Hause u ich möchte am liebsten mitreisen
Ich denke ihr werdet dann auch auf das Jugendfest nach Hause kommen u euch
recht fidel machen. Dann lernst auch Fräulein Gugel kennen lernen die ein ganz drolliges Geschöpf sein soll, vielleicht
nicht deine Passion weil du | eher die ein wenig raffinirten jungen Damen
vorziehst u das soll sie durchaus nicht sein. Und nun noch eines wie geht es Hammi in seinem Examen, ich hoffe er hat diesmal ein wenig mehr Glück als das letzte u bin sehr
gespannt wie es steht! Und nun lebwohl mein lieber Bebi, wenn du mich v d.h.
etwa Moneten(umgangssprachlich) Geld. oder sowas nöthig hast
so kannst du mir nur schreiben ich werde Dir gleich schicken im übrigen finde
ich trägs/t/ eine sogenannte „Pechperiode“Wedekind hat sich in seinem letzten Brief an die Mutter als „Pechvogel“ [Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 10.6.1887] bezeichnet. im Leben eines Schriftsteller
nur zu dessen Ruhm bei u macht denselben ganz besonders bei den Damen beliebt u
sympathisch! Das kann ich dir auf Erfahrung sagen u nun nun nimm noch
einen herzlichen Gruß u Kuß von deiner
dich liebenden Schwester
Frieda
Viele herzliche Grüße an den lieben Hammi.