Julius Maggi & Co.
Kemptthal, Schweiz.
Telephon.
Telegramm-Adresse:
Maggi, Kempthal.
den 9. December 1886.
Liebe Schwester,
Es thut mir herzlich Leid, daß ich dich gesternErika Wedekind dürfte ihren Bruder am 8.12.1886 angerufen haben, um ihn telefonisch zu fragen, ob er noch an diesem Tag vor 20 Uhr nach Zürich kommen könne. so
angeschnauzt habe aber Herr M war im ContoirSchreibversehen, statt: Comptoir (frz.) = Handelsniederlassung. Wedekind ‒ nach dem heftigen Streit mit dem Vater ohne finanzielle Unterstützung von ihm – hat gleich nach dem telegrafischen Bescheid Julius Maggis vom 16.11.1886 eine Stelle als Vorsteher des Reklame- und Pressebüros der Firma Maggi & Co. in Kemptthal bei Zürich angetreten. gerade mit einem
wichtigen Problem beschäftigt und es mir demnach nicht gut möglich, ein
längeres vertrautes Gespräch zu führen. Ich hätte dich gerne gesehen, aber es
war mir nicht möglich vor Abends 8 Uhr nach Zürich zu kommen. Meine herzlichen
Grüße an Mama. Ich hätte schon lange geschrieben aber ich habe sehr viel zu
thun. Ich lasse Mama danken für die verschiedenen Sendungen an Wäsche und
Lebensmitteln; mein erstes Salair hab ich bereits bezogen und fühle mich
demnach fürs erste geborgen. Ob ich um Weihnachten nach Hause komme weiß ich
nicht. Im JanuarWedekind reiste im Auftrag von Julius Maggi am 26.1.1887 von Zürich ab nach Leipzig zur I. Internationalen Ausstellung für Kochkunst und Volksernährung. reis ich vielleicht für wenige Tage nach Leipzig, doch ist
noch nichts bestimmt. Ob Ich kann dir nicht viel erzählen denn das Leben
zwischen Zürich und Kemptthal ist ziemlich einförmig. Daß ich recht angenehm
wohne mußt du ja gesehen haben. Denn die Lisettevermutlich Wedekinds Zimmermädchen in Zürich. sagte mir du seist dagewesen
und lassest mich grüßen. Ich danke dir. | Ich habe mir vor einigen Tagen meinen
Bart abnehmen lassen. Du würdest staunen, wenn ich jetzt vor dir erschiene,
schön wie ApolloApollo, Sohn des Zeus, in der antiken Mythologie Gott der Künste und Wissenschaften, gilt in der Kulturgeschichte als schön. und zart und jugendlich wie GanymedGanymed, der von Zeus begehrte Sohn eines trojanischen Königs, gilt in der Kulturgeschichte als „von besonderer Schönheit“ [KSA 1/II, S. 1623]. Wedekind hat ein Gedicht „Ganymed“ [KSA 1/I, S. 178f.] geschrieben.. Außer Hammi seinen
Bekannten hab ich noch viele Leute in Zürich gesehen, die früher mit mir auf
der Schule waren. Aber die wenigsten erkennen mich wieder. Ich muß mich in
München sehr verändert haben. Du wirst nun wohl unmäßig aufs ExamenErika Wedekind besuchte inzwischen die letzte Klasse im Aarauer Lehrerinnenseminar und im Frühjahr 1887 standen die Examensprüfungen an. zu büffeln,
das wächst jetzt an und wächst bis im Frühling und wenn dann auf einmal alles
vorüber ist wirst du dich sehr erleichtert fühlen. Ich lasse Mama auch für
ihren lieben Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 22.11.1886. und die Büchse voll Kaffee herzlich danken. Ich habe mich
wieder eingerichtet wie in München indem ich auf meiner Bude zu Nacht speise
und dann in vorgerückterer Stunde noch ein bescheidenes Glas Bier trinke. Mama
ist gewiß böse auf mich daß ich ihr so lange nicht geschrieben, aber ich habe
noch niemandem geschrieben, auch Welti noch nicht. Wenn Du Frau Oschwald siehst
so melde ihr meine ergebensten Grüße und es habe mir recht leid gethan nicht
mehr Abschied von ihr haben nehmen zu können auch Frl Fannla laß’ ich mich
empfehlen. An Tante Jahn meine besten Grüße. Sie wird nun auch wol dahinter | gekommen
sein, was ich für ein Mitarbeiter bin. Lisa soll ja die Königin am CäcilienfesteDas diesjährige Cäcilienfest in Lenzburg dürfte am 21.11.1886 stattgefunden haben [vgl. Austermühl 1989, S. 413].
gewesen sein. Ich hätte sie gerne gesehen in der vollen Entfaltung ihrer
bezaubernden Herrlichkeit. Wie geht es übrigens der Sophie Marti, der
idealistischen Optimistin? Raucht sie noch immer so kümmeltürkisch? Und du
selbst? Du tappst im Dunkeln umher und machst pessimistische Verse. Aber die
Poesie des Pessimismus ist die Lebensfreude, die lauterste ungetrübteste Lebensfreude. Wer den Tag über am Karren
zieht, der geht des Abends in die Komödie, nicht ins Trauerspiel.
Jetzt will ich schließen. Also grüße Alle zusammen recht
herzlich von mir, vor allem Mama und sei selber gegrüßt und geküßt von deinem
treuen Bruder Franklin