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Lenzburg 23 Juli 1886.
Innigstgeliebter Bruder!
Eigentlich wollte ich Dir nicht schreiben aber
ich denke wenn alle schreiben so kann ich allein es doch nicht gut versäumen.
Also viel Glück zu deinem GeburtstagFrank Wedekind feierte am 24.7.1886 seinen 22. Geburtstag., u gute Beendigung deines Werkes! Ich
hoffe es werde ganz München in Erstaunen setzen, u
mit Jubel aufgenommen werden. Daß
es schief gegen könnte ist ja wohl nicht vorauszusetzen, denn dazu bist du doch
schon viel zu hoch gestiegen auf Deiner Glücksleiter. Ich hoffe du mögest recht
bald aus deiner Musengesellschaft zurückkehren in unser
stilles Heim, denn wir haben dich sehr nöthig um uns alle ein wenig
aufzufrischen. Dann würdest Du dich vielleicht auch herab|lassen uns deine jüngsten WerkeGemeint ist der „Prolog zum Winkelriedcommers in München 3. Juli 1886“ [KSA 1/I, S. 238-242], ein zum 500jährigen Jubiläum der Schlacht bei Sempach geschriebenes Gedicht, das Wedekind am 3.7.1886 auf einer Festveranstaltung von Schweizern in München vorgetragen hat [vgl. KSA 1/II, S. 1977f.]. zu zeigen, von denen wir allerdings schon in einigen
ZeitungenIn München wurde über Wedekinds Vortrag im Rahmen der Festveranstaltung am 3.7.1886 berichtet: „Die hier wohnenden Schweizer feierten am 3. Juli den 500 jährigen Gedenktag der Schlacht bei Sempach im Saale des Cafe Viktoria, der zu dem Zwecke mit den entsprechenden Emblemen, Fahnen und Wappen geziert worden. Herr cand. jur. F. Wedekind sprach einen von patriotischer Begeisterung durchglühten Prolog, dem die Nationalhymne sich anschloß. [...] Bis zum Morgengrauen blieben die Festgenossen, nachdem der Ernst einer heitern Fröhlichkeit Platz gemacht.“ [Sempachfeier der Schweizer in München. In: Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger, Jg. 38, Nr. 190, 19.7.1886, S. 3] Die „Neue Zürcher Zeitung“ brachte am 8.7.1886 einen Bericht über die Veranstaltung, in dem es heißt: „Cand. jur. Wedekind erntete mit seinem in feurigem Vortrag gesprochenen selbstgedichteten Prolog einen rauschenden Beifall und damit die verdiente Anerkennung seines eminenten dichterischen Talentes.“ [KSA 1/II, S. 1982] gelesen haben, die uns aber jedenfalls noch köstlicher erscheinen
würden, könnten wir sie mit eigenen Augen u Ohren genießen. An ihrer
Vollkommenheit habe ich nie gezweifelt, die ist ja in besagten Zeitungen
vollständig festgestellt.
Nun aber muß ich Dich noch auf ein’s aufmerksam
machen. Du stehst im Begriff als junger Poet von Gottesgnaden in die Öffentlichkeit zu treten, Du beginnst mit einem
LustspielWedekind hat die erste Fassung seines Lustspiels „Der Schnellmaler oder Kunst und Mammon. Große tragikomische Originalcharakterposse in drei Aufzügen“ (1889) am 23.4.1886 abgeschlossen und eine Aufführung in München angestrebt [vgl. KSA 2, S. 545]., was ja sehr klug gehandelt ist. Dieses Verfahren erinnert mich
einigermaßen an das Vorgehen des jungen LessingGotthold Ephraim Lessing – der im 18. Jahrhundert bahnbrechende Dramatiker ist hier als historische Parallele zu Wedekind entworfen – begann seine schriftstellerische Laufbahn während seines Studiums in Leipzig mit Komödien, mit seinen Lustspielen „Damon, oder die wahre Freundschaft“ und „Der junge Gelehrte“ (beide 1747 geschrieben)., | nur mit dem Unterschied, daß
sich bei jenem, aus seiner Studentenzeit reizende Briefe an seine SchwesterGotthold Ephraim Lessings Briefe an seine um zwei Jahre ältere Schwester Dorothea Salome Lessing; der erste erhaltene Brief an sie datiert vom 30.12.1743 (der Briefschreiber war da noch keine 16 Jahre alt). Erika Wedekind denkt an die während Lessings Studienzeit von ihm geschriebenen Briefe, die im späten 19. Jahrhundert in Werkausgaben gedruckt vorlagen. vord
vorfinden die mit ihrer liebevollen Zartheit, u ihrer brüderlichen Herablassung
uns sehr für den jungen Menschen einnehmen. Es würde sich nun gewiß, wenn
später einmal deine Werke herausgegeben werden, gar nicht schlecht ausnehmen,
wenn man darin auch einige Briefe an Deine Schwester entdecken könnte. Es ist
dies nur eine gutgemeinte Bemerkung von mir, wenn Du glaubst sie sei unnöthig, Du
werdest auch ohne Dies als glänzender Musensohn dastehen so wird mich dies natürenlich um so mehr freuen. ‒
Wir haben jetzt Ferien in denen es eigentlich
entsetzlich langweilig ist, indessen hoffe ich mit Sehn|sucht auf Deine baldige
Heimkehr,.
Nun lebenwohl lieber Baby
sei tausendmal gegrüßt
von Deiner Schwester
Mieze.
Ich schicke Dir hier noch mein BildDem Brief liegt die Fotografie nicht mehr bei. u hoffe, daß
es dir einige Freude bereitet. Es ist zwar ziemlich geschmeichelt, zu dunkel
gehalten.