27. August. 1885.
Mein lieber lieber Bebi!
Wie geht es Dir denn u was treibst Du in deiner
KrankenzeitWedekind hatte sich am 3.8.1885 beim Baden eine Rotlauf-Infektion am Bein mit Fieber zugezogen, so dass er seit dem 4.8.1885 im Spital behandelt wurde [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 12.8.1885].. Es hat Mamma u. uns allen recht Angst um dich gemacht u es ist uns
nicht wohl bis Du zu Hause bei uns biss/t/ u. wir Dich wieder recht
gesund pflegen können. Ich hoffe auch daß es nicht mehr so lange anstehen wirst
bis du die heimatliche Schwelle wieder überschreitest, bis Du dich wieder in Deiner
gemüthlichen Bude eingenistet hast, u bis das alte gute Clavier unter deiner „Alten
Tante“Zitat aus Moritz Peuschels Lied „Die alte Tante“ (op. 37; Leipzig 1878), „einem populären Polkamarsch [...], der [...] in Tanzlokalen gesungen wurde“ – dessen erste Strophe beginnt: „Ich hatt’ ’ne alte Tante, gar eine böse Frau“ [KSA 1/II, S. 1286]. Das Motiv dieser ‚alten Tante‘ könnte Wedekind zu seinem späteren Lied „Der Tantenmörder“ (1897) angeregt haben. Ob mit dem Zitat bereits auf „Der Tantenmörder“ angespielt war, „läßt sich nicht mehr nachweisen“, ist aber „nicht auszuschließen.“ [KSA 1/III, S. 658f.] Es ist aber nicht wahrscheinlich. Den Polkamarsch jedenfalls kannte Wedekind, wie eine Bemerkung Bertha Jahns an ihn vom Sommer 1887 belegt [vgl. KSA 1/II, S. 1286; KSA 1/III, S. 659]; ihn dürfte er am Klavier gespielt haben. ächzt. Ich kann Dir wirklich nicht sagen wie ich mich auf deine Heimkehr
freue. Heute erhielt Papa deinen l. Briefvgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 26.8.1885., ich habe ihn nicht gelesen, nur mit Schrecken gehört, daß Du
noch im Spital seist während wir dich von Tag zu Tag u v. Stunde zu Stunde
erwarteten. Hammi wird morgen nach Spitz verreisen u den ältern MüzenbergArmin Wedekind vertrat seinen früheren Studienfreund Ernst Mützenberg, ältester Sohn eines Gerichtspräsidenten, der seinen Militärdienst ableisten musste und seit Frühjahr 1885 im Kanton Bern als Arzt zugelassen war: „Herr Dr. Ernst Mützenberg von und zu Spiez erhält auf den Vorweis eines eidgenössischen Diploms die Bewilligung zur Ausübung des ärztlichen Berufs.“ [Der Bund, Jg. 36, Nr. 105, 17.4.1885, S. (5)] Er war auf Nervenkrankheiten spezialisiert in Spiez tätig und betrieb eine Nervenheilanstalt, wie einer Annonce zu entnehmen ist: „Villa Marienberg in Spiez am Thunersee. Nervöse und gemüthskranke Damen finden in reizendster Gegend des Berner Oberlandes ein freundliches Familienheim bei Dr. med. Ernst Mützenberg-Escher, gew. Assistenzarzt in den Heilanstalten von Waldau und Préfargier.“ [Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte, Jg. 15, Nr. 21, 1.11.1885, Beilage, S. 162]
während dessen Dienstzeit als Arzt vertreten. Gestern ist Frau FleckVerwandte oder Bekannte der Mutter aus New York, bei der mindestens bis 1889 Tilly Kammerer offenbar wohnte [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 138f.]. mit TillieDie Cousine Tilly Kammerer aus New York, eine Tochter von Emilie Wedekinds Bruder Libertus Kammerer [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 80], hat der ältere Bruder ausführlich beschrieben [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 17.8.1885].
abgereist u Mamma u Doda begleiteten sie bis nach Basel. Am Abend kam Doda u
Mamma wieder nach Hause u letztere zwar mit einem schauerlichen Kopfweh, welches dann aber
Gottlob nach einer guten | Tasse Thee im Bett wieder vergieng. Wir hofften
immer Du werdest Tillie auch noch sehen, sie ist ein reizendes Mädel u hat
auch Papa sehr gut gefallen. Wir haben in nächster Zeit im Sinn mit der Schule
einen Ausflug auf den Gotthard„Von den beiden Ausflügen der Schule hatte [...] als Ziel [...] der zweite, am 3. und 4. September unternommene, das obere Reußthal und den St. Gotthard“ [vgl. Dreizehnter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. Schuljahr 1885/86, S. 13]. zu machen woran der RektorJakob Keller war von 1876 bis 1886 Rektor des Töchterinstituts und Lehrerinnenseminars in Aarau, zugleich dort Lehrer für Deutsch, Pädagogik und Religion [vgl. Adreß-Buch der Stadt Aarau 1884, S. 78]. Gott sei Dank wegen
wichtigen Schulbesuchen nicht Theil nehmen wird. Wir warten nur das schöne
Wetter ab was aber leider nie so recht erscheinen will. Diese Woche war Frau
Pfarrer FischerLina Fischer (zuvor: Brunner-Keller) war seit 1882 mit Xaver Fischer (auch: Fischer-Keller) verheiratet, seit 1877 erster christkatholischer Pfarrer in Aarau, wo das Ehepaar wohnte (Adelbändli 175) [vgl. Adreß-Buch der Stadt Aarau 1884, S. 20]. mit Gemahl von Aarau hier u dankte Mamma im Namen ihres Gemahl’s
für ihren Kampf mit dem Rektornicht ermittelt.. Mamma freute sich natürlich sehr darüber. Heute
hatte Hammi Besuch von Willi Fröhlich u noch einem den ich nicht kannte. Lisa
Jahn u Fanny Oschwald sind schon am 15. nach Hause gekommen ich sehe sie aber
leider nicht viel. Wir haben jetzt auch in Sophie Marti eine neue fahrende
SchülerinSophie Marti pendelte wie Erika Wedekind mit dem Zug zwischen Lenzburg und Aarau, um dort das Lehrerinnenseminar zu besuchen. Über diese Art von Schulweg heißt es (bei 48 Schülerinnen insgesamt): „4 benutzen die Eisenbahn, um von Haus aus Tag für Tag in den Unterricht zu kommen“ [Zwölfter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. Schuljahr 1884/85, S. 5], im Jahr darauf (bei 38 Schülerinnen insgesamt): „5 benutzen von Haus aus den Unterricht vermittelst der Eisenbahn.“ [Dreizehnter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. Schuljahr 1885/86, S. 6]. Sie ist wieder ganz gesund, u wieder in’s Institut u zwar in meine
KlasseSophie Marti war zunächst in der II. Klasse und Erika Wedekind in der I. Klasse, trat aber im II. Quartal 1884 aus [vgl. Zwölfter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. Schuljahr 1884/85, S. 4f.] und ist dann im Jahr darauf wie Erika Wedekind nochmals in der II. Klasse verzeichnet [vgl. Dreizehnter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. Schuljahr 1885/86, S. 5]. eingetreten. Nun aber leb wohl mein lieber Bebi herzliche Grüße von
Papa, Mamma, Hammi u den Kleinen. Möge es Dir bald wieder recht gut gehen, daß Du uns nicht all zu lange mit deiner
sehr ersehnten Heimkehr warten lassen mußt. Nun sei noch tausendmal gegrüßt u geküßt
v. deiner dich liebenden Mieze.