Lenzburg
30. Juli 1905
Mein lieber Frank
vor 8 TagenFrank Wedekind hielt am 21.7.1905 in Berlin im Tagebuch fest: „Abschied von Donald [...]. Donald reist in die Schweiz.“ Ein bis zwei Tage darauf dürfte Donald Wedekind in Lenzburg eingetroffen sein, wo er seine Mutter und seine Schwester Mati besuchte [vgl. Donald Wedekind, Emilie Wedekind, Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 24.7.1905], um von dort aus zunächst nach Franzensbad zu reisen [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 227]. war Doda hier und erfreute uns durch sein
verhältnismäßig gutes Aussehn und frisches Wesen. Er erzählte mir manches von
München, so auch, daß von Dir Gedichte erschienenWedekind hat am 22.4.1905 mit Albert Langen einen Verlagsvertrag für eine Neuauflage seiner Gedichte „Die Jahreszeiten“ (1897 im Sammelband „Die Fürstin Russalka“) geschlossen, die als selbständiger Sammelband unter dem neuen Titel „Die vier Jahreszeiten“ (1905) erschienen sind [vgl. KSA 1/I, S. 810-815]. sind und das ist es | auch,
weshalb ich Dir heute schreibe. Du weißt, daß ich mich auch richtig für Deine
Sachen interessiere, wenn es dir auch oft nicht so scheinen mochte.
Es fällt mir eben immer schwer ein gewisses ängstliches
Gefühl im Verkehr mit Dir zu überwinden. Nun aber möchte ich dich herzlich bitten, ob du mir deine Gedichte zuschicken würdest und zwar
| da hinauf ins FreiamtRegion im Kanton Aargau, Schweiz. nach BesenbürenEmilie (Mati) Wedekind vertrat im Sommer 1905 „vorübergehend eine vakante Lehrerstelle im 20 km von Lenzburg entfernten Dorf Besenbüren.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 220]., wo ich sie angesichts der
herrlichsten Natur genießen werde.
Bis nächsten Montag sind noch Ernteferien dann bleibe ich
noch 6 Wochen da oben als intellektuelle Alleinherrscherin über 42 Kinder in 8
Klassen aus denen man Regierungsräte
macht. |
Die Mutter Deines einstigen Schulkameraden ist eine interessante FrauEmilie (Mati) Wedekind wohnte in Besenbüren bei Maria Katharina Sophie Huber (geb. Pfenninger), die Mutter des aus Besenbüren stammenden Hermann Huber, der, inzwischen seit Jahren als freisinniger Politiker im Freiamt tätig, wie Wedekind das Gymnasium in Aarau besucht hat., mit der ich alles reden kann. Mit ihr leben ihre
Schwiegertochter und deren drei reizende Kinder, ein
Junge von 18 und zwei Töchter von 16 und 15 Jahren unter denen sich das Gespräch
meist um das Kilten„schweiz. der nächtliche besuch des burschen bei seinem mädchen“ [DWB 5 (11), Sp. 704]; nächtliche Stelldichein. dreht. Briefe werden
von der eifersüchtigen Mutter unter den | Matrazen gefunden und in endlosen
Auseinandersetzungen erörtert, bis dann die Großmutter mit einem einzigen ruhigen
Machtwort alles wieder ins Geleise bringt. Sie läßt im Kleinen alles gewähren und
hat im großen in aller Stille doch alle Fäden in der Hand.
Mich selbst wollte das Leben auch wieder | beim Wickel
nehmen und mit in diese krause Unbefangenheit aus Natürlichkeit hineinziehn, aber die Ernteferien sollen nicht umsonst gewesen sein und
mein Weg am Samstag da hinauf wird der reinste Weg zur Hölle werden. Ich werde
wieder mal das Vergnügen haben zu verzichten, aber es ist immerhin ein | angenehmes
Gefühl, daß man Weib sein könnte, wenn man die Courage dazu hätte. Ich sehe mit Entsetzen daß ich Dir, wie einem guten
Freunde schreibe, und nicht bedenke, daß Du in Deinem nächsten Brief an Mama
wieder Dinge schreiben kannst die für das nächste halbe Jahr mir das Leben an ihrer Seite, wo
| ich mir nun mal den Platz
angewiesen habe, zur Hölle machen. Nun geh es wie es wolle es ist mir
ganz gleich. Nur schick mir Deine Gedichte nach Besenbüren, das wird mich
freuen. Heute bekam ich auch Deine Karte mit Holl daraufnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind, Fritz Holl, Josef Kainz an Emilie (Mati) Wedekind, 28.7.1905. ‒ Fritz Holl, Schauspieler am Stadt- und Casinotheater Baden (Direktion: Heinrich Hagin) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1905, S. 266], war 1904 mit Emilie (Mati) Wedekind am Sommertheater in Baden engagiert gewesen. Vermutlich handelte es sich um eine Künstlerpostkarte mit einem Foto von Fritz Holl.. Er ist mir als ein
äußerst liebenswürdiger junger Mann in g/b/ester
Erinnerung u
ich lasse ihn grüßen. Mit herzlichsten Grüßen an alle, die mich noch nicht | vergessenab hier Fortsetzung des Textes („vergessen haben und dich selbst“) auf Seite 1 (um 90 Grad nach links gedreht) geschrieben. haben und dich selbst
Deinab hier Fortsetzung des Textes („Dein altes Mati.“) auf Seite 2 (um 90 Grad nach rechts gedreht) geschrieben. altes
Mati.
[Seite 1 um 90 Grad
nach rechts gedreht:]
Dann möchte ich auch gern das Bild von Dir mit Lullu (Eysoldt) im Prolog zum Erdgeist. Ich sah
es im UniversumDas Foto von Wedekind als Tierbändiger und Gertrud Eysoldt als Lulu (im Pierrotkostüm) im Prolog zum „Erdgeist“ (1902) ist wohl in der illustrierten Wochenschrift „Reclams Universum“ (Leipzig) abgebildet (Heft noch nicht identifiziert), die auf Vermittlung deutscher Kultur im Ausland spezialisiert war. und finde es vorzüglich.