Sehr geehrter Herr Bjoernson,
wollen Sie mir erlauben, Sie in einer Lage, aus der ich
keinen Ausweg finde, um Ihren Rat zu bitten. Ich nehme den Mut zu diesem
Schritt aus der Tatsache, dass Sie mir in Zeiten, in denen ich mich durchaus
auf mich selbst verlassen konnte, Ihren RatVgl. den Brief Wedekinds an Beate Heine vom 27.7.1898. und Ihre Ermunterung, ohne dass ich
Sie darum zu ersuchen brauchte, in freundlichster Weise zuteil werden liessen.
Nach drei und ein halbmonatlicher Gefängnishaft erhielt ich am nämlichen Tage,
mit der Nachricht meiner Begnadigung zu FestungAuf Anordnung des Leipziger Landgerichts vom 24.10.1898 wurde die Ausgabe des „Simplicissimus“ für den 25.10.1898 noch am selben Tag am Druckort in Leipzig beschlagnahmt. Gegen Albert Langen, Thomas Theodor Heine und „Hieronymos“ alias Wedekind ergingen Haftbefehle wegen Majestätsbeleidigung. Wedekind floh am 30.10.1898 aus München nach Zürich, am 22.12.1898 weiter nach Paris. Am 3.6.1899 stellte er sich der Polizei in Leipzig. Am 3.8.1899 wurde er zu 7 Monaten Gefängnis verurteilt; die Strafe wurde Anfang September in Festungshaft umgewandelt, Wedekind trat sie am 21.9.1899 an., von Albert Langen die
Mitteilungnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Holm an Wedekind, 14.9.1899. Die Nachricht war nicht von dem im Pariser Exil weilenden Albert Langen, sondern von dessen Münchner Verlagsmitarbeiter Korfiz Holm verfasst worden., dass er auf jede weitere Verbindung mit mir verzichte. Als Grund
dafür führte er mein „ganzes Benehmen“ und den „Ton
meines letzten Briefesnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Albert Langen Verlag, 1.9.1899.“ an. Infolge dessen wurde ich ohne Geld hier
eingeliefert. Die Folgen der | langen Gefängnishaft und die hier herrschende
Kälte machen mir nun leider augenblicklich jede productive Arbeit unmöglich.
Wenn sich Albert Langen am Ton meines Briefes stösst, so
kann ich darauf nur entgegnen, dass derselbe durch die darin besprochenen für
mich sehr unheilvollen Tatsachen bedingt war, und ferner dass Kritisiren
leichter ist als b/B/essermachen. Obwohl ihm die Gelegenheit dazu geboten war, hat
er nicht versucht, nach drei Monaten Gefängnis, verbunden mit häufigem
Unwohlsein, einen Brief zu schreiben, dessen Ton nichts zu wünschen übrig lässt.
Vielleicht haben Sie, Herr Bjoernson, für Briefe die aus dem Gefängnis
geschrieben werden, ein weniger strenges Urteil als Ihr SchwiegersohnAlbert Langen war seit 1896 mit Dagny Bjørnson, der Tochter Bjørnstjerne Bjørnsons, verheiratet..
Was mein „ganzes Benehmen“ betrifft, so hat mir
Albert Langen vor Ausbruch des Processes bei jeder Gelegenheit unvermittelt und
unaufgefordert versichert, er werde Alles auf sich nehmen, mein Name könne gar
nicht zur Erwähnung kommen e. ct. e. ct. Nicht dass ich dem
irgendwelchen Weg/r/t beigelegt hätte, sondern nur zur Illustration der Tatsache,
dass er dann sofort das Weite suchteAlbert Langen floh noch vor Wedekind, unverzüglich nach der Beschlagnahmung des „Simplicissimus“, über Zürich und Rom nach Paris. Im April 1903 kehrte er nach Deutschland zurück. Kurz zuvor war er, gegen Zahlung eines Bezeigungsgeldes in Höhe von 20.000 Mark, begnadigt worden [vgl. Abret/Keel 1895, S. 33-38]., | nachdem mein Manuscript des incriminirten
Gedichtes„Im heiligen Land“ parodierte die Orientreise Wilhelms II., die dieser am 12.10.1898 angetreten hatte [vgl. KSA 1/I, S. 499-501; KSA 1/II, S. 1704-1717]. dem ersten Beamten, der auf der Redaction erschien, in einer Zeitung
verborgen, vorgelegt worden war und dadurch dem Gericht in die Hände fiel. Die
letzte Tatsache entspringt natürlich einem unglücklichen Zufall, der immerhin
seinesgleichen in der Geschichte des Journalismus sucht, zumal man seit
vierzehn Tagen durch Justizrat RosenthalDie Aussagen über Rosenthals Einschätzung des Gedichts variieren stark [vgl. KSA 1/II, S. 1704f.]. wusste, dass das betreffende Gedicht
voraussichtlich zu einer Confiscation führen würde. In Zürich empfing michWedekind traf Langen zwei Tage nach seinem Eintreffen in Zürich [vgl. seinen Brief an Beate Heine vom 12.11.1898]. dann
Albert Langen, noch ehe ich den Mund aufgethan hatte, mit den Worten: „Sie
mussten doch selber wissen, was Sie taten!“
Von Paris ausAm 22.12.1898 reiste Wedekind von Zürich nach Paris, wo er bis Ende Mai 1899 blieb. Er traf dort des Öfteren mit Langen zusammen, der ebenfalls dorthin weitergereist war [vgl. die Briefe an Richard Weinhöppel vom 24.2.1899 und an Beate Heine vom 12.3.1899]. bot ich noch einmal alles auf, um den Verkehr
zwischen Albert Langen und mir erträglich zu gestalten, bis mir Albert Langen
zumutete, ich möchte die Stellung meiner SchwesterErika Wedekind war von 1894 bis 1909 an der Königlichen Hofoper Dresden als Königliche Kammer- und Hofopernsängerin tätig. Mitte Februar 1899 schrieb Langen an Dagny Bjørnson: „Wedekind könnte z.B. durch seine Schwester, die der Liebling des Dresdner Hofes ist, eine Begnadigung erlangen.“ [Abret/Keel 1987, S. 206] Ab 1902 betrieb der Präsident der II. Kammer der Sächsischen Ständeversammlung, der Wirkliche Geheime Rat Paul Mehnert, Langens Begnadigung. Erica, Hofopernsängerin
in Dresden dazu benützen, um für ihn und mich leichtere Bedingungen zu einer
Rückkehr nach Deutschland zu erwirken. Er ermächtigte mich, dem Manne meiner
Schwester dafür eine gewisse Summe Geldesnicht überliefert. anzubieten. Was nun meine Schwester
betrifft, so hatte sie mich im Jahr 97, während ich die |
Hieronymus-Jobs-GedichteIn 14 seiner „Simplicissimus“-Gedichte bediente sich Wedekind zwischen Juli 1897 und Februar 1902 des Pseudonyms „Hieronymus“ bzw. „Hieronymus Jobs(ius)“ [vgl. KSA 1/II, S. 1435]. für den Simplicissimus schrieb und zwar zu Honoraren,
die mir bei der angestrengtesten Arbeit nie auch nur die Summe von 200 Mk im
Monat einbrachten, auf das freigebigste unterstützt. Der Ausbruch des
Simplicissimus-Processes trug ihr dann die peinlichsten Unannehmlichkeitennicht ermittelt. ein
und hat ihr auch pecuniär in bedeutender Weise geschadet. Ich hielt es daher
für tacts/v/oll und correct meine Beziehungen zu meiner SchwesterZwischen 5.1.1898 und 25.8.1900 sind keine Briefe von Frank Wedekind an seine Schwester überliefert, Briefe von ihr an ihn fehlen für den Zeitraum 12.12.1890 bis 30.3.1904. Mit seinem Schwager Walter Oschwald führte Wedekind von Oktober 1899 bis September 1900 jedoch eine rege Korrespondenz. abzubrechen, um
sie nicht eventuell noch mehr zu compromittiren und habe in der Tat bis heute
nicht ein Wort und eine Zeile mehr mit ihr gewechselt. Anders empfand Albert
Langen; seine Zumutung empörte mich derart dass ich nach Leipzig reiste und
mich einsperren liess.
Sie werden mir nun das eine zugestehen, geehrter Herr
Bjoernson, dass es nach solchen Erfahrungen auch für einen gerissenen Menschen
nicht leicht ist sein „ganzes Benehmen“ richtig abzumessen. Da Sie
mich aber in meinen Beziehungen zu Albert Langen so häufig ermuntert haben, so
ersuche ich Sie mir als Psychologe rathen zu wollen, wie man sich in solcher
Lage zu benehmen hat und, da Sie Albert Langen besser kennen müssen als ich,
mir zu rathen, wie man sich benehmen muss, um Albert Langens moralische
Anerkennung zu erndten. |
Ich wiederhole, dass ich den Mut zu dieser Frage in der intensiven
Theilnahme finde, die Sie bei jeder Gelegenheit für die Arbeiten, die ich für Ihren Schwiegersohn machte, an
den Tag legten. Ich besitze ausserdem mehrere Briefenicht überliefert. in denen mir Albert
Langen, ja sogar die jetzige Redaction des Simplc. in München mittheilt, einen
wie hohen künstlerischen und literarischen Wert Sie meinen für den Simplc.
geschriebenen „Gedichten“ beilegen. Als ich Ihnen dagegen im Sommer
1896 mein „Frühlings Erwachen“Vgl. den Brief an Bjørnstjerne Bjørnson vom Sommer 1896. zuschickte, hörte ich nicht eine
Sylbe darüber und wusste nicht, dass Sie das Buch überhaupt erhalten hatten, bis
mir zwei Jahre später in Zürich, nachdem ich meine StellungIm August 1898 war Wedekind von Georg J. Stollberg als Dramaturg und Schauspieler für das Münchner Schauspielhaus engagiert worden. am Münchner Schauspielhaus durch den Simplicissimus-Process verloren hatte, Albert Langen
und seine Frau unaufgefordert und gänzlich unvermittelt mittheilten, das Buch
habe Ihnen sehr gefallen. In Betreff meiner Thätigkeit am Münchner
Schauspielhause erinnere ich mich auch noch Ihrer Wortenicht wörtlich überliefert; vgl. hierzu Wedekinds Brief an Beate Heine vom 27.7.1898. : „Sie passen
nicht für die Bühne, Sie müssen „dichten“!“ und möchte Sie jetzt
höflichst | ob ersuchen, mir mitzutheilen, ob Sie mich überhaupt jemals auf der
Bühne gesehen haben oder aus welch anderen Gründen Sie zu dieser Überzeugung
gelangt waren.
Ich verliess MünchenVon Herbst 1896 bis September 1897 hielt sich Wedekind in Berlin auf. im Herbst 1896 da mir die
ununterbrochenen Streitigkeiten mit Albert Langen ein weiteres Arbeiten für
sein Blatt damals unmöglich machten. Die Novellen, die ich für ihn geschrieben,
„Rabbi Esra“ e. ct., liess Langen ungedruckt auf seiner Redaction„Rabbi Esra“ entstand wahrscheinlich 1896. Die Erzählung erschien zunächst im „Simplicissimus“ Nr. 4 vom 24.4.1897 sowie noch im selben Jahr im Sammelband „Die Fürstin Russalka“ bei Albert Langen [vgl. KSA 5/I, S. 756f.].
liegen und verlangte dafür Arbeiten allerniedrigsten Werthes von mir, deren ich
mich noch heute schäme, mit der Begründungnicht überliefert.: „Ihre Novellen mögen ja
künstlerischer sein als diese Ite/n/terviews, das gebe ich Ihnen gerne zu aber
darauf pfeif ich doch!“ Das war wenige Wochen nachdem ich Ihnen mein „Frühlings Erwachen“ zugeschickt hatte. Ich ging nach Berlin und nach langer,
niederdrückender Misère, nach vieler Arbeit und hartenSchreibversehen, statt: hartem. Kampf gelang es mir,
eine gut honorirte StellungVon Januar bis Juni 1898 war Wedekind als Sekretär, Schauspieler und Regisseur am von Carl Heine geleiteten Ibsen-Theater in Leipzig angestellt. am Ibsen-Theater in Leipzig zu finden, mit dem ich
eine Tournée durch Deutschland | machte. Nachdem sich das Theater aufgelöst
hatte ging ich im Sommer 98 wieder nach München und wurde am dortigen
Schauspielhaus mit offenen Armen empfangen und sofort engagiert, so dass ich
heute ohne mein „Dichten“ für Ihren Schwiegersohn in wohlsituirter
Lebensstellung wäre. Um jene Zeit bat mich Albert LangenVgl. den Brief Wedekinds an Beate Heine vom 27.7.1898. auf das dringendste
wieder für ihn zu arbeiten und zwar unter der falschen Vorspiegelung, dass sich
sein Blatt vorzüglich rentire und auf die unter der Versicherung hin, die er mir bei jeder Gelegenheit
wiederholte, dass keine Zeile von mir gedruckt werde, die Justizrat Rosenthal
nicht für unangreifbar erkläre. Das Gedicht, das den Process herbeiführte
schrieb ich vierzehn Tage vor der Première meines „Erdgeist“„Erdgeist“ feierte am 29.10.1898 Premiere am Münchner Schauspielhaus. in der
Aufregung in der man sich in solcher Zeit befindet. Justizrat Rosenthal
erklärte das Gedicht für unmöglich, es wurde gedruckt, confiscirt und die
Auflage des BlattesDie Auflage des „Simplicissimus“ stieg von 26.000 (April 1898) zunächst auf 67.000 (fünf Wochen nach der Konfiszierung). Im April 1899 betrug die Auflage 55.000, hatte sich also mehr als verdoppelt [vgl. Abret/Keel 1985, S. 28]. Wedekind behauptete wiederholt, Langen habe die Konfiszierung aus diesem Grund willentlich herbeigeführt [vgl. Abret 2005, S. 26f.]. stieg um 20,000 Exemplare. Um den Ertrag zweijähriger
angestrengter | Arbeit betrogen ta/r/af ich Langen in Zürich triumphirend über
den wohlgelungenen Streich. Ich war nun vollkommen in seinen HändenWedekinds Briefe an Richard Weinhöppel vom 29.11.1898 sowie an Beate Heine vom 15.12.1898 und vom 7.1.1899 widersprechen dieser Darstellung. und er
nützte die Gelegenheit nach Kräften aus mich zu neuen Angriffen auf die
bestehende Ordnung zu hetzen, völlig unbekümmert oder vielmehr beleidigt durch
meine Einwendungen, dass ich mir meine Rückkehr von Fall zu Fall erschwerte. Er
ging bewusst und systematisch darauf aus, das Geld für sein luxuriöses Leben
dadurch zu gewinnen, dass er mein Glück, meine Freiheit und meine künstlerische
Zukunft ausmünzte. Als Sie, Herr Bjoernson, gerade in jener Zeit fortfuhren,
Ihrem Schwiegersohn Ihre moralische Unterstützung angedeihen zu lassen,
erkundigte ich mich auf das genaueste nach Ihren VermögensverhältnissenVgl. Wedekinds Brief an Bjørnstjerne Bjørnson vom 13.3.1900. und
erfuhr zu meiner grossen und aufrichtigen Freude, dass Sie in vollkommner
pecuniärer Unabhängigkeit leben.
Den Ausweg aus der Falle zu finden in die ich geraten
war, war für mich keine leichte Aufgabe, die mir indessen gelungen ist bis auf
die G | geringfügige Unannehmlichkeit, dass ich mich nach dreimonatlicher Gefängnis-Strafe
und in Folge der noch fortdauernden Festungshaft erwerbsunfähig fühle. Zum
Glück traf ich hier noch Th. Th. HeineThomas Theodor Heine wurde am 2.11.1898, ebenfalls wegen Majestätsbeleidigung, verhaftet und am 19.12.1898 zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Wie bei Wedekind wurde die Strafe in Festungshaft umgewandelt, die Heine vom 29.3. bis 29.9.1899 auf der Festung Königstein absaß. Er erhielt weiterhin sein Gehalt von monatlich 700 Mark von Langen., der die Verhältnisse auf der Redaction
des Simplicissimus, weil er ununterbrochen mit ihr in Beziehung gestanden
hatte genau genug kannte, um sich die Auszahlung seines monatlichen Gehaltes
von Mk. 700 kontractlich auch für den Fall zu sichern, dass er in’s
Gefängnis kommt und nicht arbeiten kann. Während er sich durch den Process
finanziell recreiren konnte, erwarten mich, wenn ich nach München zurückkehre
dort die Schulden, die ich auf meine Anstellung am Theater hin contrahiert
hatte.
Als ich Ihnen, geehrter Herr Bjoernson, in München
vorgestelltVgl. den Brief Wedekinds an Beate Heine vom 27.7.1898. wurde, brachte ich Ihnen eine fünfzehnjährige Verehrung und
Bewunderung entgegen. Ohne mich in meinem Verkehr mit Albert Langen auf den
schwächeren | hinausspielen zu wollen, kann ich doch zur Entschuldigung meiner
Niederlage mit gutem Gewissen geltend machen, dass mir kein Bjoernstjern
Bjoernson zur Seite stand, der meinem Gegner unbedingtes Vertrauen in meinen
geschäftlichen Betrieb eingeflösst, dessen Urtheilsäusserung immer so vorzüglich mit dem harmonirt hätte, dessen ich gerade zur Erreichung meiner Ziele
B bedurfte. Dass ich Sie in meiner heutigen Ratlosigkeit um Ihren Rat bitte muss
Ihnen beweisen, wie wenig ich mich in dem Vertrauen das ich Ihnen
entgegenbrachte habe beirren lassen. Wollen Sie mir noch einmal ein gütiger
Mentor sein, wie s/S/ie das so oft waren in Zeiten, wo ich Ihrer Ermunterung
weniger bedurfte.
Ich ersuche Sie, die Beweise meiner vorzüglichte/st/en
Hochschätzung entgegen nehmen zu wollen.
Frank Wedekind.
Festung Königstein in Sachsen,
28. September 1899
[Kuvert:]
Eingeschrieben.
Recommandé.
Herrn Bjoernstjern Bjoernson.
Aulnstat.
Norwegen. |
Exped: Frank Wedekind.
Festung Königstein, Sachsen.