Wien 20/X 90
Lieber Herr Wedekind!
Nehmen Sie es mir nicht übel, daß ich, nachdem
ich schon mit raschem Entschluß, ohne Ihnen ein Abschiedswort sagen zu können,
abgefahren bin, nicht einmal von hier aus gleich das Versäumnis nachgeholt
habe. Es würde wol jedem Andern gegenüber leicht als Geringschätzung ausgelegt
werden können, Sie, lieber Herr Wedekind, habe ich
ja aber so oft meiner wahren Hochachtung u. freundschaftlichen Dankbarkeit, für
die | viele Anregung, die ich Ihnen schulde, versichert, daß ich ein solches
Mißverstehen nicht zu befürchten habe. Sie können sich wol denken in
welches unglaubliche Wirrsal ich mich hier hereingesetzt habe u. wie ich von
meinen Umzugsgeschichten, meinen Besuchen, die nötig sind, um mich hier wieder
einzuführen, von meinen Arbeitsrückständen, (von der Münchener Bummelzeit her)
in Anspruch genommen wurde; rechnen Sie dann noch eine Portion Schreibfaulheit u.
hinzu u. bedenken Sie die vielen geschäftlichen Briefe mit Anzeige der Wohnungsveränderung,
so werden Sie mir wol gnädigst
verzeihen. | Nun bin ich endlich so ziemlich in Ordnung, aber beileibe nicht
heimisch. Dazu feltSchreibversehen, statt: fehlt. mir vor allem eine
anregende Gesellschaft. Zudem sagt mir das anspruchsvolle, so arg auf die
Betonung der Außenseite gewendete Wiener Leben noch gar wenig zu. Ich lebe
infolge dessen recht ruhig u. „solid“. Das ist aber auch ganz gesund ‒ zum Mindesten für den Geldbeutel. Eine ganz
närrische Sehnsucht packt mich aber zuweilen schon nach einem soliden Münchener
„Sumpf“ u. einem gemütlichen Tratsch u. Disput u.
ich kann Sie versichern daß kaum ein Abend vergeht, an dem ich nicht | an Sie
denke.
Ja selbst unsere gute alte MühlbergerWedekinds Zimmerwirtin, die Kleidermacherin Anna Mühlberger [vgl. Anna Mühlberger an Wedekind, 14.8.1891], wohnte in der Akademiestraße 21 (Parterre links) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1891, Teil II, S. 13]. Wedekind wohnte dem Meldebogen zufolge ab dem 20.7.1889 im 3. Stock der Akademiestraße 21, ab dem 19.5.1890 dort dann im Parterre zur Untermiete bei „Mühlberger“ [EWK/PMB Wedekind] (hat also anscheinend zwischen diesen Etagen gewechselt). Der in München studierende Maler Heinrich Lefler wohnte „in der gleichen Etage“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 143] wie Wedekind. u. die
Höllenwirtschaft von Nummer 21das Leben im Haus Akademiestraße 21 [vgl. Anna Mühlberger an Wedekind, 14.8.1891]. geht mir recht ab. ‒ „Jessas, Jessas so solid!“ ‒ Das wird auf die Dauer schon ganz schrecklich!
Nun plag’ ich Sie aber nicht länger. Wenn Sie
einmal recht Langeweile haben, so erfreuen Sie mich durch einige Zeilen u.
vergessen Sie dann auch nicht ein Wort zu erwähnen über Ihre künstlerische
Tätigkeit u. über die Schicksale Ihrer „Kinder u Narren“Wedekind hatte sein Lustspiel „Kinder und Narren“ im Sommer 1890 zwei Berliner Bühnenvertrieben geschickt, die es aber beide abgelehnt hatten, „woraufhin Wedekind nun selbst versuchte, das Stück an einem Theater zu plazieren, indem er die retournierten Skripte etwa an das Münchner Hoftheater sandte“ [KSA 2, S. 630]..
Ich grüße Sie herzlichst. Vergessen Sie mich
nichtWedekind hat auf der undatieren Namensliste auf der letzten Seite seines frühen Münchner Tagebuchs an erster Stelle „Heinrich Lefler, Maler Akademiestr. 21. III“ notiert (der Bekannte wohnte also im 3. Stock). ganz u. verfügen Sie jederzeit vollständig über mich u. meine
Dienste.
Ihr
Heinrich Lefler
Wien. IV. Alleegasse 66Die Alleegasse 66 im Wiener Bezirk IV war die Adresse des Malers Franz Lefler [vgl. Lehmann’s Allgemeiner Wohnungsanzeiger für Wien 1890, Teil III, S. 706], Heinrich Leflers Vater..
Grüßen Sie, bitte, Frau Mühlberger aufs Beste!