München 6 X 99Der 6.10.1899 war ein Freitag.
Lieber Herr Wedekind /
Haben Sie meinen AbzugThomas Theodor Heines Entlassung aus der Festungshaft am 29.9.1899, seine im vorliegenden Brief geschilderte Abreise von der hoch gelegenen Festung Königstein, deren Topografie er betont. Er war wie Wedekind wegen Majestätsbeleidigung inhaftiert ‒ in derselben Sache (von ihm stammt die mit Wedekinds Gedicht „Im heiligen Land“ korrespondierende Zeichnung auf dem Titelblatt der am 25.10.1898 wegen Majestätsbeleidigung beschlagnahmten Palästina-Nummer des „Simplicissimus“). Nachdem er sich am 2.11.1898 den sächsischen Behörden gestellt hatte, wurde er am 19.12.1898 in Leipzig zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt, was in Festungshaft umgewandelt wurde, die er am 29.3.1899 auf der Festung Königstein angetreten hat und die nun abgesessen war [vgl. KSA 1/II, S. 1710], während das bei Wedekind noch nicht der Fall war. von oben beobachtet? Es
muss sehr schön ausgesehen haben, wie drer Soldat meinen Koffer immer
vom Wagen fallen liess und wir ihn dann zusammen
wieder hinaufheben mussten. Infolgedessen bekam auch das Schloss einen Knacks
so dass mein Koffer ganz offen hier in München ankam, glücklicherweise fiel es
den Bahnbeamten nicht ein etwas herauszunehmen oder gar hineinzulegen. Durch
diese Schwierigkeiten war viel Zeit verloren gegangen, ich konnte mich nicht
damit aufhalten die Tabaksorten zu prüfen sondern musste verschiedene nehmen in
der Hoffnung dass wenigstens eine rauchbare darunter ist. In Königstein
sah ich einen Anschlag des „Stadttheaters zu Königstein“ man gab Fuhrmann
HenschelDas im Gasthaus Deutsches Haus untergebrachte Stadttheater in Königstein (Direktion: Wilhelm Julius Zahl) hatte unter den Neuheiten der Saison in der Tat Gerhart Hauptmanns Stück „Fuhrmann Henschel“ [vgl. Neuer Theater-Almanach 1900, S. 413].. Vielleicht lässt man sie doch einmal hingehen wenn Sie brav sind da
Sie ja dieses Stück noch nicht kennen. A/I/m Zug unterhielt ich | mich
mit einem Feldwebel. Da erfuhr ich dass wirklich auf der Festung eine alte Chroniknicht eindeutig ermittelt.
existiert in der die ‚Thaten‘ August des StarkenEine ‚Tat‘ des Friedrich August I. von Sachsen, die im Zusammenhang mit der Festung Königstein Aufsehen erregt hat, war die von ihm befohlene Anfertigung eines überdimensionalen Weinfasses durch den kurfürstlichen Hof-Böttger Carl Traugott Wolf [vgl. Carl Traugott Wolf: Als Ihro Königl. Majestät in Pohlen und Churfürstl. Durchl. zu Sachsen, Fridericus Augustus, ein neues großes Faß auf der Festung Königstein zu erbauen anbefohlen [...] so ist solcher Faßbau Anno 1722 angefangen, und Anno 1725 vollführet worden [...]. Königstein 1799 (https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/urn/urn:nbn:de:hebis:30:2-42929)]. Im Reiseführer erwähnt sind die „Königsteiner ‚Riesenfässer‘. Das dritte derselben, [...] welches unter August dem Starken hergestellt wurde (1722‒1725), hielt 3601 Eimer (= 2428 hl)“ [Theodor Schäfer: Touristenführer durch die Sächsische Schweiz und die angrenzenden Gebiete. Erster Teil. 6. Aufl. Dresden 1899, S. 98]. verzeichnet sind. Leider
erfuhr ich es erst als es zu spät war. Aber Sie können noch davon profitieren. Sie ist zwar geheim aber vielleicht können
Sie sie durch den Feldwebel Krokernicht identifiziert. doch zu lesen bekommen. Sie sollten es
versuchen. Ich blieb einen Tag in Dresden einen Tag in Leipzig und 1½ Tag in
Nürnberg. Von dort habe ich Ihnen die Bücher von Tolstoi geschicktHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zur Buchsendung; erschlossenes Korrespondenzstück: Thomas Theodor Heine an Wedekind, 3.10.1899. Um welche Bücher des russischen Schriftstellers Lew Tolstoi es sich handelte, ist nicht ermittelt.. Hoffentlich
hat man sie richtig abgeschickt. In Nürnberg erlebte ich eine sehr drollige
Geschichte aber es würde zu weit führen sie hier zu schreiben. Ich wollte Ihnen
ja blos | mittheilen, dass Holm Ihnen heute oder morgen 200 Mk. schickt. Über
das FernereZahlungen des Albert Langen Verlags an seinen inhaftierten „Simplicissimus“-Autor Frank Wedekind (siehe unten). will er erst mit Langen Rücksprache nehmen, doch halte ich es für
zweifellos dass man Sie während Ihrer Haft nicht im Stiche lässt. ‒ Mir kommt es vor als ob der ganze Königstein nur ein Traum gewesen wäre. Meine Rückkehr
wurde natürlich in der American Bar gefeiert, infolgedessen habe ich einen
starken Kater und bin nicht aufgelegt viel zu schreiben.
Wenn Sie irgend etwas besorgt haben wollen
schreiben Sie es mir bitte.
Seien Sie herzlichst gegrüsst!
immer Ihr
Th Th Heine
9 X 99Der 9.10.1899 war ein Montag.
Im Drang der Ereignisse vergass ich den Brief zur
Post zu geben. Inzwischen werden Sie wohl bereits das Geld von HolmKorfiz Holm, Mitarbeiter und Prokurist des Albert Langen Verlags, der die Verlagsgeschäfte für den infolge der „Simplicissimus“-Affäre im Exil lebenden Verleger Albert Langen führte [vgl. Abret/Keel 1989, S. 12], hatte Wedekind schon früher, schon während der Gefängnishaft in Leipzig, Geld geschickt [vgl. Korfiz Holm, Albert Langen Verlag an Wedekind, 23.7.1899], die nun erfolgte Zahlung war zunächst aber verweigert worden [vgl. Korfiz Holm, Albert Langen Verlag an Wedekind, 14.9.1899]. bekommen
haben. Die Bemerkungnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Korfiz Holm, Albert Langen Verlag an Wedekind, 7.10.1899. die er dazu geschrieben hat bitte ich Sie, nicht so
aufzufassen | als ob ich ihm verschwiegen hätte dass Sie unter allen Umständen
dem Simpl. fern zu bleiben wünschen.