Lieber Freund,
gestern erhielt ich einen
Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Georg Stollberg an Wedekind, 18.11.1898. worin Stollberg in den unfläthigsten Ausdrücken über meinen
Bruder Donald herfällt. Ich glaube, daß mir die SituationDonald Wedekind hat sich Georg Stollbergs Gattin Grete Stollberg gegenüber ungebührlich betragen (vermutlich ein verbaler oder tätlicher sexueller Übergriff) [vgl. Wedekind an Georg Stollberg, 21.11.1898], sie möglicherweise „sexuell belästigt“ [Buchmayr 2011, S. 202], ein Vorfall jedenfalls, der Georg Stollberg äußerst erzürnt und dazu veranlasst hat, die nach Frank Wedekinds Flucht nach Zürich frei gewordene Stelle als Theatersekretär am Münchner Schauspielhaus (Direktion: Georg Stollberg) nicht mit dem Bruder Donald Wedekind als Nachfolger zu besetzen [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 14.11.1898]. vollkommen klar ist,
und es kann mir natürlich nicht einfallen, meinen Bruder in Schutz zu nehmen.
Ich habe Stollberg sofort einen deh-Schreibversehen, statt: de- (verkürzt für: demütigen; in Verbindung mit dem nachfolgenden: wehmütigen). und wehmütigen Entschuldigungsbriefvgl. Wedekind an Georg Stollberg, 21.11.1898.
geschrieben. Nun wende ich mich aber an Dich, lieber Freund, mit der offenen
Bitte, meinen Bruder, trotz des | Vorgefallenen, gesellschaftlich
nicht fallen zu lassen. Wenn Du glaubst daß Dir das nicht
möglich wäre, dann theile es mir bitte durch wenige Worte mit, damit ich ihn
eventuell hierhernach Zürich, wohin Wedekind, um der drohenden Verhaftung wegen Majestätsbeleidigung in der „Simplicissimus“-Affäre zu entgehen, am 30.10.1898 aus München geflohen war [vgl. Wedekind an Beate Heine, 12.11.1898]. kommen lasse.
Sehr Unrecht thut Stollberg,
wenn er mir und vielleicht auch Anderen des langen und breiten herzählt, was er
alles für Donald gethan habe. Thatsächlich, das sehe ich aus seinen eigenen
Worten, hat er nichts für ihn gethan sondern er und nichts thun wollen.
Er hat ihm in einem unglücklichen Augenblick 20 Mark aufgedrängt Das
war aber auch alles.
Beiläufig kann ich Dir die Versicherung
geben, daß Donald | durch ÜbersetzungenDer Münchner Verleger Albert Langen, der wie sein Autor Frank Wedekind im Zuge der „Simplicissimus“-Affäre ebenfalls nach Zürich geflohen war, hatte vor, Donald Wedekind als Übersetzer zu beschäftigen [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 29.11.1898] und dieses Vorhaben realisiert. Donald Wedekind, der auch Erzählungen im „Simplicissimus“ veröffentlichte, hat die Skizzen „Flirt“ von Marcel Prévost übersetzt [vgl. Marcel Prévost: Flirt. Einzig autorisierte Übersetzung aus dem Französischen von Donald Wedekind. München 1900], die im Albert Langen Verlag erschienen [vgl. Abret/Keel 1989, S. 200], wobei Korfiz Holm am 27.11.1900 gegenüber dem Verleger bemerkte, er mache in „seinen Übersetzungen [...] oft sehr grobe Böcke.“ [Abret/Keel 1989, S. 223] e. ct. pekuniär
vollkommen geborgen ist. TrotdemSchreibversehen, statt: Trotzdem. würde ich ihn, wenn es wirklich der
Fall ist, wie mir Stollberg schreibt, daß er sich in München absolut unmöglich
gemacht habe, hierher kommen lassen.
Ich bitte Dich sehr, lieber
Freund, zu entschuldigen daß ich Dich mit einer so unerquicklichen
Angelegenheit behellige. Viel lieber wäre es mir, mich in München Deiner
Gesellschaft und des Augenblickes, der uns zusammenführt freuen zu
können.
Mit der Bitte, mich Deiner
Frau Gemahlin empfehlen zu wollen, bin ich Dein alter
Frank
Wedekind.
Zürich, Leonhardstraße 12 II.
20.11.98.