München 5/6/ November 1914
Lieber hochverehrter Herr Bahr!
Gestern AbendFrank Wedekind sah Hermann Bahrs Komödie „Der Querulant“ (1914), die am 16.10.1914 im Münchner Schauspielhaus unter der Regie von Georg Stollberg uraufgeführt worden war, am 5.11.1914 um 19.30 Uhr [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 67, Nr. 567, 5.11.1914, Vorabendblatt, S. 5] gemeinsam mit Tilly Wedekind und ging nach der Vorstellung in den Ratskeller, wo er mit Kurt Martens, Wilhelm Schmidtbonn und Joachim Friedenthal zusammensaß: „Mit Tilly in Querulant von Bahr. Nachher RK mit Martens Schmidt-Bonn und Friedenthal“ [Tb]. sah ich den ,,Querulanten“ und hatte eine der
größten Theaterfreuden, die mir seit vielen Jahren zu theil wurden. Die feine
Technik des prachtvollen Lustspieles ist mir nicht geläufig genug, als daß ich
sie bei der LektüreWann Wedekind die ihm gewidmete Komödie gelesen hat, ist unklar. Die Buchausgabe ist erst zur Uraufführung und zu den diversen Premieren erschienen, was durch die Presse erst einige Tage später publik gemacht wurde: „Die neue Komödie von Hermann Bahr ‚Der Querulant‘ ist soeben bei S. Fischer, Verlag, Berlin, in Buchform erschienen.“ [Neue Freie Presse, Nr. 18023, 27.10.1914, Morgenblatt, S. 13] Das Buchhandelsblatt hat das Buch noch später als erschienen angezeigt [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 81, Nr. 277, 30.11.1914, S. 8965]. hätte ganz durchschauen können. Aber auch den großen
seelischen Reichtum des Dramas habe ich gestern vollkommen genossen. | Sie
haben das Lustspiel sowohl wie das Volksstück auf eine höhere, unserer Zeit
würdige Stufe gehoben. Nachher war ich mit Schmidtbonn, Dr. Martens und Dr. Friedenthal im Ratskeller
zusammen, Sie hätten an unserer Diskussion Ihre helle Freude gehabt. Allgemein
war die Ansicht, daß die Kritik, auch die Dr.
FriedenthalsIn der Kritik Joachim Friedenthals, Münchner Korrespondent des „Berliner Tageblatt“, heißt es: „Welch ein schöner erster Akt, sagte ich mir bei der Uraufführung des neuen Bahr im Schauspielhaus, welch eine hübsche Begebenheit, was für eine glänzende Exposition einer richtigen Charakterkomödie. Und auch noch der zweite hielt sich auf ähnlichem Niveau. [...] Dann aber kam die Enttäuschung. Die beiden letzten Akte schwangen jäh nach der anderen Seite um. Aus der fein angelegten Charakterkomödie entwickelte sich eine nur im Dialog und in der menschlichen Gesinnung feine Tendenzkomödie gegen die Rechtsprechung. Aus der sinnlich-dichterischen Gestaltung eines hartnäckigen Menschen ging es ins abstrakte Reden um menschliche Gerechtigkeit und wahres Rechtsempfinden über.“ Gleichwohl: „Die Aufführung unter Stollbergs Regie hatte ein sehr anständiges Niveau.“ [J.F.: „Der Querulant“. Hermann Bahrs neue Komödie. In: Berliner Tageblatt, Jg. 43, Nr. 533, 20.10.1914, Morgen-Ausgabe, S. (2-3)] Ihrem Kunstwerk bei weitem nicht gerecht geworden ist, meiner
Ansicht nach, weil sie immer noch von den | Gesichtspunkten unseres armseligen
NaturalismusAusdruck von Wedekinds grundsätzlicher Ablehnung des Naturalismus und Anspielung auf Hermann Bahrs berühmte frühe Schrift „Die Überwindung des Naturalismus“ (1891). aus urteilt. Jedenfalls fanden wir unter den lebenden Dichtern
keinen außer Ihnen, der auf der Bühne so hohe Gesichtspunkte verteidigen und
uns dabei so viele Freude bereiten kann.
Ich bin sehr stolz darauf, daß dieses herrliche Werk mir
gewidmetDie gerade im S. Fischer Verlag erschienene Komödie enthält die gedruckte Widmung: „Meinem lieben Frank Wedekind in herzlicher Freundschaft zum fünfzigsten Geburtstag“, datiert „Salzburg Pfingsten 1914“ [Hermann Bahr: Der Querulant. Komödie in vier Akten. Berlin 1914, S. (7)]. ist, und danke Ihnen noch einmal von ganzem Herzen dafür.
Meine Frau, die mit mir im | Theater war, hatte die gleiche
Freude an Ihrem Werke wie ich.
Mit der Bitte, Ihrer verehrten Frau Gemahlin unsere besten
Empfehlungen aussprechen zu wollen
und schönsten Grüßen
Ihr ergebener
Frank Wedekind.