München, 25.VI.1904.
An Gertrud EysoldtGertrud Eysoldt, die Wedekind mit ihrer Darstellung der Lulu in der „Erdgeist“-Inszenierung des Kleinen Theaters in Berlin (Premiere: 17.12.1902) zu seinem ersten größeren Theatererfolg verholfen hat [vgl. KSA 3/II, S. 1203], hielt sich als Ensemble-Mitglied des Berliner Kleinen Theaters mit seinem Gastspiel am Münchner Volkstheater bis zum 3.7.1904 [vgl. Allgemeine Zeitung, Jg. 107, Nr. 290, 30.6.1904, S. 10] noch in der Stadt auf..
Ich glaube eine Große Seele entdeckt zu haben, vor der ich
anbetend auf den Knien liege. Die Größe Ihres künstlerischen Genies wird mir
nur dadurch erklärlich, daß Sie als Menschenkind noch höher stehen denn als Künstlerin.
Verzeihen Sie die Plumpheit der Worte. Ich weiß, daß Sie selber an ihre
Echtheit glauben. | GesternWedekind notierte am 24.6.1904: „Abends Erdgeist.“ [Tb] Er besuchte die im Rahmen des Berliner Gastspiels (siehe oben) gegebene „Erdgeist“-Vorstellung (Beginn: 20 Uhr, Ende gegen 23 Uhr) [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 290, 24.6.1904, Vorabendblatt, S. 6] mit Gertrud Eysoldt in der Rolle der Lulu im Münchner Volkstheater, die vom Münchner Publikum und von der Kritik mit Beifall aufgenommen wurde [vgl. KSA 3/II, S. 1227]. Hanns von Gumppenberg schrieb: „Im Volkstheater brachte gestern das Ensemble des Kleinen und Neuen Theaters Wedekinds Tragödie ‚Erdgeist‘ zu Ehren. [...] Frau Eysoldts Verkörperung der Lulu ist entschieden das schauspielerisch Beste, Interessanteste und Ueberzeugendste, das ich bisher von ihr zu sehen bekam [...]. Der Applaus des trotz Feiertags und schönen Wetters leidlich gefüllten Hauses war von Anbeginn sehr lebhaft; vom zweiten Aktschlusse ab wurde auch Wedekind mit und nach den Hauptdarstellern oftmals gerufen: zuletzt nahm der Beifall wieder die stürmischeren Formen einer begeisterten Huldigung an.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 294, 26.6.1904, S. 3] ging mir plötzlich das Verständnis für den Ausspruch
auf: Fordere viel, das rät mein Stolz!Zitat aus dem Gedicht „Wer wärmt mich, wer liebt mich noch?“ (später: „Klage der Ariadne“) im letzten Teil von Friedrich Nietzsches „Zarathustra“ (Kapitel „Der Zauberer“): „Verlange Viel – das räth mein Stolz!“ [Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Vierter und letzter Theil. Leipzig 1891, S. 29] Das Zitat ist spezifisch an die Briefempfängerin adressiert, denn Gertrud Eysoldt versiegelte ihre Korrespondenz auf dem Kuvert durch Siegelmasse mit dem Aufdruck „Verlange Viel das rät mein Stolz“ [vgl. Gertrud Eysoldt an Wedekind, 7.10.1904]. Das Siegel bemerkte am 1.8.1903 auch Hermann Bahr: „Brief der Eysoldt. Ihr graues Siegel hat die Inschrift: Verlange viel, das ist mein Stolz!“ [Tb Bahr, Bd. 3, S. 360]
Frank Wedekind